Kathrin Brückmann

Halbe-Halbe, einmal und immer


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ausgestorben. Es war kein Mensch zu sehen, den sie fragen konnte, also musste sie an Türen klopfen oder klingeln. Irgendwo. Das erste Haus war so gut wie jedes andere.

      Ein älterer Mann öffnete auf ihr Klingeln.

      »Entschuldigen Sie, dass ich störe …«, begann Sophie, und dann fing im Haus ein kleiner Hund wie rasend an zu bellen.

      Der Mann wandte sich halb von Sophie ab und rief: »Hilde … Hilde! Bring doch mal den Hund zum Schweigen!«

      Das Hundegebell verstummte. Sophie sagte eilig, um der nächsten Störung zuvorzukommen: »Ich suche die Grobitzer Landstraße 210.«

      Ehe der Mann antworten konnte, rief eine Frauenstimme aus der Tiefe des Hauses: »Herrmann! Ist das die Post?«

      »Nein, das ist nicht die Post, hier ist eine junge Frau, die sucht …«

      »Die Grobitzer Landstraße 210«, sagte Sophie schnell.

      Hinter dem Mann erschien seine kleine, rundliche Frau in der Tür. Sie musterte Sophie neugierig.

      »Grobitzer Landstraße, da sind sie hier richtig«, sagte der Mann.

      »Wir sind 207«, sagte die Frau und zog ihre Strickjacke fröstelnd vor ihrem massigen Busen zusammen. »Da drüben das letzte Haus, das ist die 208.«

      »210 gibt’s hier nicht«, sagte der Mann.

      »Kommen Sie erst mal rein«, sagte die Frau zu Sophie. »Wir heizen ja sonst für die Straße.«

      »Bitte, ich muss weiter …«, sagte Sophie.

      »Nun kommen Sie schon. Wir können uns auch im Warmen unterhalten.«

      Sophie folgte dem Paar widerwillig durch einen kurzen, engen Korridor in ein winziges, mit schweren dunklen Möbeln zugestelltes Wohnzimmer. Es roch nach Hund.

      »Setzen Sie sich doch. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«

      »Nein, danke, ich will Ihnen keine … ich muss weiter«, sagte Sophie.

      »Wo soll das denn sein, 210?«, fragte der Mann.

      »Sie sucht vielleicht das Russenhaus«, sagte die Frau zu ihrem Mann.

      »Ach ja, das Russenhaus.«

      »Auf der anderen Straßenseite, wo die geraden Hausnummern sind«, sagte die Frau zu Sophie, »gibt es bis zum nächsten Ort nur noch ein Haus, ungefähr eineinhalb Kilometer von hier, abseits der Straße. Das könnte die 210 sein.«

      »Das sehe ich mir an«, sagte Sophie und bewegte sich vorsichtig rückwärts in Richtung des Ausgangs. »Sicher ist es das Haus, das ich suche …«

      »Was wollen Sie denn dort?« Die kleine rundliche Frau bebte vor Neugier. »Das Haus steht leer. Wollen Sie es kaufen?«

      »Es hat mal meiner Großtante gehört«, sagte Sophie.

      Das Paar sah sich an.

      »Die alte Frau Berkemann ist gestorben, nicht wahr?«

      »Im vergangenen Sommer, ja. Also, vielen Dank für …«

      »Wollen Sie wirklich keinen Kaffee?«

      »Nein, nein, ich muss jetzt los«, sagte Sophie fast flehend. »Ich habe heute noch viel vor. Vielen Dank für die Auskunft.«

      Sie ließen sie gehen. In der Tür des kleinen Hauses stehend sahen sie zu, wie sie den Wagen wendete und davonfuhr.

      Der Schneefall hatte zugenommen. Sophie fuhr langsam und über das Lenkrad gebeugt und suchte das Gelände rechts der Straße nach dem Haus Nummer 210 ab. Einem Lieferwagen, der sich hinter ihr näherte, signalisierte sie mit dem Blinker, zu überholen. Die Fahrt zog sich hin. Eineinhalb Kilometer, hatte die Frau gesagt. Abseits der Straße. Wie weit war sie schon gefahren? Wie weit weg war ›abseits‹? War sie schon an dem Haus vorbei? Hatte sie es wegen des Schneetreibens übersehen? Sophie begann schon nach einer Möglichkeit zum Wenden zu suchen, um die Strecke noch einmal abzufahren, da bemerkte sie, dass das Gelände neben der Straße nicht mehr eben war, sondern anstieg. Und auf einer Anhöhe, in etwa zweihundert Metern Entfernung stand ein Haus. Sophie stampfte auf die Bremse. Das Haus war wegen des Schnees und des trüben Winterlichts nicht genau zu erkennen, aber es kam ihr groß vor. Vielleicht täuschte sie sich ja auch, aber es war jedenfalls nicht so klein wie die in Grobitz.

      Ihr Herz schlug plötzlich fester. War es das, was sie suchte? Sie musste es sich aus der Nähe ansehen. Wie kam sie da hin?

      Sophie hielt, stieg aus und lief suchend an der Straße entlang, bis sie an eine Stelle kam, einen Übergang, wo der Straßengraben verrohrt war und man ihn mit einem Auto überqueren konnte. Dort begann ein Weg, eigentlich nur ein Pfad, kaum erkennbar unter der dünnen Schneedecke. Er führte durch eine kleine Senke neben der Fahrbahn und über eine struppige Wiese die Anhöhe hinauf in Richtung des schemenhaften Hauses und sah aus, als wäre er befahrbar.

      Okay, dann los. Sophie ließ noch einen Lastwagen vorbei, dann konnte sie einen weiten Bogen fahren, um den Übergang senkrecht zu treffen. Sie rollte vorsichtig, mit den Füßen auf Bremse und Kupplung, die kurze, abschüssige Strecke vom Asphalt in die flache Senke … alles gut. An der tiefsten Stelle angekommen, legte sie einen Gang ein, ließ die Kupplung kommen und gab Gas.

      Es krachte dumpf, und das Auto neigte sich plötzlich nach vorn. Sophie schrie auf und klammerte sich an das Lenkrad. Für einen Moment fürchtete sie, dass ihr Wagen (mit ihr drinnen festgeschnallt!) mit der Nase voraus im Erdboden versinken würde. Aber er war nur irgendwo eingebrochen und bewegte sich nicht weiter. Der Motor schwieg. Wasser gluckerte unter dem Wagenboden.

      Nach ein paar Sekunden hatte sich Sophie von ihrem Schrecken so weit erholt, dass sie den Versuch machte, den Wagen wieder zu starten. Sie drehte vorsichtig den Schlüssel, aber nichts geschah. Nicht einmal der Anlassermotor arbeitete. Mit einer Verrenkung und einem Spagat gelang es ihr, aus dem Auto zu steigen, ohne in schwarzes schlammiges Wasser treten zu müssen. Dann stand sie auf einer Eisfläche, die vom Schnee getarnt war.

      Was nun? Sophie war nicht im ADAC, aber das war nicht weiter schlimm. Sie würde einfach die 1-1-0 anrufen und sich von der Polizei die Nummer eines Abschleppdienstes geben lassen. Der wiederum würde eine Werkstatt kennen, die ihren Wagen wieder flott machte. So weit, so gut. Aber das würde kosten … Mein Gott, dachte sie, heute hat sich wirklich alles gegen meine mageren Ersparnisse verschworen. Womit habe ich das bloß verdient? In den vergangenen vier, fünf Stunden bin ich von der Arbeit suchenden Speditionskauffrau zum Sozialfall geworden: arbeitslos und Schulden und Auto im Eimer. Fünfhundert Kilometer weit weg von zu Hause. Mitten im Nirgendwo. Im Winter.

      Und das war noch nicht alles.

      Sophies Daumen schwebte über dem Display ihres Telefons. Der ihr eigene Widerwille gegen das Geldausgeben ließ sie zögern. Wenn ich jetzt telefoniere, dachte sie, dann handele ich mir Hunderte von Euro Kosten ein. Aber habe ich eine Wahl? Sie entsperrte die Tastatur ihres Handys, und dann erst fiel ihr auf, dass sie kein Netz hatte. Sie steckte nicht nur in einem Schlammloch, sondern auch in einem Funkloch.

      Sie würde die ein oder zwei Kilometer zurück nach Grobitz laufen müssen. Dort funktionierte entweder hoffentlich ihr Handy, oder sie würde wieder bei Herrmann und Hilde klingeln, um bei ihnen zu telefonieren …

      Was für ein Tag!

      Bevor sie sich auf den Weg machte, stieg Sophie noch einmal in ihren Wagen, um einen weiteren Startversuch zu unternehmen. Es konnte ja sein, dass … Aber der Golf hatte sich natürlich nicht von selbst erholt. Sie drehte ein paar Mal ergebnislos den Schlüssel, dann gab sie auf.

      Auf der Straße näherte sich ein Fahrzeug.

      Sophie achtete zunächst nicht auf das Geräusch, und als sie auf den Gedanken kam, dass da möglicherweise Hilfe an ihr vorüberfuhr, war es schon zu spät. Sie sprang aus ihrem Wagen, ohne auf das schlammige Wasser und ihre Schuhe zu achten, und stolperte zur Straße. Doch bis sie die Fahrbahn erreichte und die Arme in die Luft warf, war ein großer kantiger Geländewagen mit einem Anhänger schon an ihr vorbeigerumpelt