Kathrin Brückmann

Halbe-Halbe, einmal und immer


Скачать книгу

kalte Füße bekam und die ganze Strecke über behielt. Ansonsten verlief ihre Reise nach Brandenburg problemlos. Die Straße war trocken, der Verkehr hielt sich in Grenzen, und der alte Golf schnurrte auf der rechten Fahrbahn brav vor sich hin. Um nicht auf das schlechte und teure Essen der Autobahnraststätten angewiesen zu sein, hatte Sophie ein Sandwich und eine kleine Thermosflasche Kaffee dabei. Weil sie aber gut und schneller vorankam als gedacht, hielt sie erst an, als sie den größeren Teil ihrer Reise schon hinter sich hatte. Auf einem kahlen, leeren Parkplatz an der A11 nördlich von Berlin machte sie Halt, stieg aus und lief auf und ab, um wärmere Füße zu bekommen. Sie aß im Gehen, während ihr Kaffeebecher dampfend auf dem Wagendach stand. Der Tag war trüb. Es blies ein scharfer Wind über das platte Land. Zu beiden Seiten der Autobahn erhoben sich in einiger Entfernung winterschwarze Wälder wie Mauern. Der Verkehr brauste anonym und gleichgültig vorbei. Die Düsternis, die Einsamkeit des Ortes und die Weite, die der niedrige Horizont schuf, hatten für Sophie etwas Großartiges, fast Dramatisches – und sie war mitten darin. Das gefiel ihr. Sie war Hunderte Kilometer von ihrem gewöhnlichen Leben entfernt und gespannt darauf, was ihr der kommende Tag bringen würde. Sie fühlte sich wie am Beginn eines Abenteuers. Sie fühlte sich gut.

      Das Gefühl begleitete sie wie der gerade noch spürbare Nachhall einer großen Glocke bis zum Ziel ihrer Reise. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit erreichte sie in einem Außenbezirk von Küstrow ein schlichtes Hotel, in dem sie übers Internet ein Zimmer reserviert hatte. Nach einem Abendessen in einem vietnamesischen Imbiss neben einer Tankstelle, ein paar Straßen von Hotel entfernt, und einer Stunde vor ihrem Notebook ging sie früh zu Bett. Als sie das Licht löschte, wurde ihr bewusst, dass sie zum ersten Mal seit Jahren allein schlafen und allein aufwachen würde. Allein. Wie war das? In den Minuten (oder waren es nur Sekunden?) zwischen Wachen und Traum erforschten ihre Sinne noch die für sie neue Situation. Das Hotelbett war nicht so bequem wie ihr eigenes (- das sind Hotelbetten wohl nie), aber es gehörte nur ihr. Die Bettdecke war nur für sie da. Es gab nur ihren eigenen Atem in der Stille. Niemand lag warm und schwer neben ihr oder drängte sich in der Dunkelheit mit erigiertem Penis an sie. Wenn sie sich streckte, wälzte oder rekelte, dann rempelte sie niemanden an, und niemand protestierte brummend. Sie musste keine Rücksicht nehmen. In dieser Nacht war sie für sich, hatte keine Verantwortung. Allein und verantwortungslos, auch das war Abenteuer. Sophie schlief ein.

      8 – Sophie hatte keinen Wecker

      mitgenommen, wachte später auf als geplant und begann den Tag in Eile. Daher verzichtete sie auf eine Dusche, wusch nur rasch ihr Gesicht und flocht sich eilig einen unordentlichen Zopf, den sie mit ein paar Haargummis zusammenhielt. Sie zog wieder die Kleidung vom Vortag an, Jeans und Rollkragenpullover, die noch nach dem vietnamesischen Imbiss rochen, und schlüpfte in Stiefeletten mit flachem Absatz. Ihr Frühstück beschränkte sie auf einen Kaffee und ein Croissant. Zuletzt putzte sie gründlich ihre Zähne – Sophie ließ schon mal eine Dusche aus, wenn sie annehmen konnte, dass das nicht auffiel, aber Zähne putzte sie immer und mit heiligem Ernst. Dann fühlte sie sich bereit für ihre Runde durch Küstrow und Umgebung, um ihr Erbe anzutreten – was immer das war.

      Um nicht allein auf ihr Smartphone angewiesen zu sein, sondern auch einen Überblick zu haben, kaufte sie an einer Tankstelle einen Stadtplan und eine Umgebungskarte und studierte sie eine Weile, um sich zu orientieren. Ihr erstes Ziel war das Heim, in dem ihre Großtante die letzten Monate ihres Lebens verbracht hatte. Es war nicht schwer zu finden. Eine halbe Stunde fuhr sie auf schmalen, buckeligen Straßen, vorbei an winterlich kahlen Feldern, die sich bis zum Horizont erstreckten. Je weiter sie hinaus aufs Land kam, umso geringer wurde der Verkehr. Wie die wenigen Autos, die ihr begegneten, fuhr Sophie mit Licht, denn der Tag wollte nicht richtig hell werden.

      An Rande eines Dorfes, eigentlich nur einer losen Gruppe von wenigen alten Häusern, fand Sophie etwas abseits das Pflegeheim. Es bestand aus einer Ansammlung von Bauten verschiedener Epochen in den Resten eines Parks. Das Hauptgebäude am Ende einer geraden Zufahrt und einer lückenhaften Allee war alt, vielleicht zweihundert Jahre, schätzte Sophie, drei Stockwerke hoch, breit, mit vielen Fenstern und einem spitzen roten Ziegeldach, ehemals wohl ein Gutshaus. Zwei andere lang gestreckte mehrgeschossige Häuser, kasernenartige Zweckbauten, stammten erkennbar aus der DDR-Zeit. Zwei weitere waren in jüngerer Zeit erbaut worden, von offenbar gleichgültigen Architekten ohne gestalterischen Ehrgeiz. Gebäude, Stellplätze und Zufahrten hatten den Park ausgehöhlt, nur kleine Rasenflächen und nur wenige alte Bäume übrig gelassen, die auch noch verstümmelt worden waren, um nirgendwo im Weg zu sein. Vielleicht war die Anlage im Sommer, wenn die Bäume Blätter hatten, noch irgendwie ansehnlich. Jetzt, im Februar, fand Sophie ihren Anblick deprimierend. Wer immer dieses Heim betrieb, gab sich keine Mühe, den Menschen, die er im letzten Abschnitt ihres Lebens aufbewahrte, noch ein wenig Schönheit zu bieten. In einem Laden wie diesem werde ich nicht enden, dachte Sophie trotzig, während sie die breite Treppe des Haupthauses ins Hochparterre emporstieg. Ich werde Kinder haben und gut zu ihnen sein. Dann werden sie mich nicht zum Ende meines Lebens an einen Ort wie diesen hier abschieben.

      So prächtig das alte Haus von außen noch wirkte, so schäbig war sein Inneres. Sophie lief auf stumpfen PVC-Böden von undefinierbarer Farbe durch schlecht beleuchtete Korridore mit fleckigen Wänden und öffnete Türen voller Narben, alle auf gleicher Höhe, wo Rollenbetten oder Bahren anstießen. Es war still und roch ungelüftet und nach billigem Essen. In der Verwaltung im ersten Stock wurde sie schon erwartet, und die Frau schien sich über ihr Kommen sogar zu freuen. Obwohl sie wusste, wen sie vor sich hatte, studierte sie Erbschein und Personalausweis eingehend und machte sich Fotokopien davon. Sophie sah ihr dabei zu. Die Frau wirkte wie Ende vierzig, war aber wohl jünger. Ihre Kleidung, Schuhe und Haarschnitt deuteten darauf hin, dass sie entweder nicht gut verdiente, einen schlechten Geschmack hatte oder ihr Geld nicht für sich selbst ausgab.

      Sie sagte: »Ich habe Ihnen die Sachen Ihrer Tante schon mal bereitgestellt.« Sie deutete auf einen alten Koffer und einen Umzugskarton in einer Ecke des Büroraums.

      »Das ist alles?« sagte Sophie. Das ist alles, was von achtzig Jahren Leben übrig bleibt?

      »Es gibt auch noch …«, sagte die Frau und zog aus einer Schreibtischschublade einen größeren Klarsichtbeutel mit Druckverschluss, »… einige persönliche Kleinigkeiten, die Ihre Tante immer bei sich trug.«

      Sie hielt den Beutel hoch. Sophie sah ein altes Portemonnaie, einen Schlüsselbund, eine kleine Damenuhr und zwei Eheringe. »Das ist alles?«, wiederholte sie.

      »Das ist alles. Die Menschen, die zu uns kommen, bringen nicht viel aus ihrem früheren Leben mit. Wir haben hier keinen Platz dafür. Aber die meisten bleiben ja auch nicht lange …«

      »Ich verstehe«, murmelte Sophie.

      »Mein herzliches Beileid«, sagte die Frau plötzlich.

      »Danke«, antwortete Sophie automatisch.

      »Als alleinige Erbin Ihrer Tante sind Sie ihre, äh, Rechtsnachfolgerin. Verstehen Sie, was das bedeutet?«

      »Ich weiß«, sagte Sophie. »Der Nachlasspfleger hat mir das auch schon erklärt.«

      Die Frau schien erleichtert. »Gut. Wir müssen nämlich noch ein paar geschäftliche Dinge klären.«

      In Sophies Kopf begann eine kleine Alarmglocke zu klingeln.

      »Die, äh … Kosten für den Aufenthalt Ihrer Tante hier bei uns«, fuhr die Frau fort, »waren durch ihre Rente und die Pflegeversicherung nicht vollständig gedeckt. Es gibt da ein Defizit, verstehen Sie, das wir, äh … ausgleichen müssen. Eine Forderung, die wir Ihnen in Rechnung stellen müssen.«

      Sophie dachte wieder: Oh mein Gott. Die wollen Geld von mir. Sie sagte: »Wie viel ist es denn?«

      Die Frau hob suchend einige Papiere auf ihrem Schreibtisch an, bevor sie antwortete: »21.406 Euro. Und 52 Cent.«

      Einundzwanzig … tausend … Sophie konnte nicht fassen, was sie hörte. Ihr Magen zog sich zusammen. Einen Moment lang ging in ihrem Kopf alles Drunter und Drüber. Dann war ihr erster klarer Gedanke: 21.000, das ist die Hälfte von allem, was ich besitze, die Abfindung für meinen Arbeitsplatz schon