Kathrin Brückmann

Halbe-Halbe, einmal und immer


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»Und was soll ich bis dahin tun?«

      Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas, rückte ein wenig näher an sie heran und schob seine Hand wieder unter ihren Bademantel. »Wir könnten doch schon mal einen kleinen … Kurzurlaub …«

      Seine Hand kroch über ihren Oberschenkel.

      »Nicht, Jens.«

      »Nicht? Ferien, jetzt, gleich hier, auf dem Sofa?«

      Sophie hatte gern Sex und reagierte auf erotische Reize rasch und manchmal auch intensiver, als ihr lieb war. Für einen Moment war sie geneigt, Jens’ Vorschlag anzunehmen, nicht, weil sie in Stimmung war, sondern einfach nur, weil sie sich gut fühlen wollte. Sie wollte Winterblues und Enttäuschung für eine Weile vergessen. Sex mit Jens sollte ihr dabei helfen. Aber Sophie spürte, dass sich gerade das Gefühl der Enttäuschung nicht vertreiben lassen würde. Es war zu stark und würde ihr den Spaß verderben. Sie packte Jens’ Hand durch den Stoff des Bademantels und sagte: »Nein. Hör auf!«

      Jens befreite seine Hand aus ihrem Griff, aber er gab noch nicht auf. »Komm schon, Sophie, entspann dich. Du bist doch sonst auch nicht so.«

      Sophie stand auf und raffte den Bademantel vor ihrem Körper zusammen. »Ich bin nicht so«, sagte sie. »Ich bin nur einfach nicht in Stimmung.«

      »Hey, lass dir doch einfach von mir was Gutes tun. Es wird dir gefallen, bestimmt. Es gefällt dir doch sonst auch.«

      »Heute nicht.«

      »Ich verstehe ja, dass du dir Sorgen machst, oder schlecht drauf bist, oder so … irgendwas. Aber das brauchst du doch nicht an mir auszulassen«.

      »Ich lasse nichts an dir aus«, sagte Sophie. »Ich gehe nur schlafen.«

      »Jetzt schon? Es ist erst kurz nach zehn.«

      »Na und? Ich muss morgen früh raus.« Sie wandte sich ab und hörte, wie Jens den Ton des Fernsehers wieder einschaltete.

      »Mach den Fernseher nicht zu laut«, sagte sie über die Schulter. »Und sei bitte leise, wenn du kommst.«

      Jens antwortete nicht.

      Die Luftfeuchtigkeit im Badezimmer war so weit abgesunken, dass die Spiegel nicht mehr beschlagen waren. Sophie konnte sich beim Zähneputzen zusehen. Wenn nur der Winter schon vorüber wäre, dachte sie, während sie methodisch ihre Zähne schrubbte. Oder wenigstens Weihnachten und Silvester. Seit sie erwachsen und deshalb berufstätig war, empfand sie die Wochen von Mitte Dezember bis Anfang Januar als anstrengendste Zeit des Jahres. Abgesehen davon, dass Arbeits- und Feiertage wild durcheinander lagen und man erhebliches Organisationstalent brauchte, um Wichtiges und Unwichtiges zu unterscheiden und zur rechten Zeit zu erledigen, waren die Stadt, die Kaufhäuser und die Läden überfüllt, die Parkplätze knapp, die Menschen leicht reizbar und das Wetter immer mies. Die Kunden, die Sophie für ihre Spedition am Telefon betreute, waren in der Vorweihnachtszeit noch anspruchsvoller und nörgeliger als im ganzen Rest des Jahres.

      Das alles ist jetzt erst mal vorbei, dachte Sophie. Eigentlich konnte sie es noch gar nicht richtig glauben. Es war ihr zur Selbstverständlichkeit geworden, jeden Morgen um Viertel vor sechs aufzustehen. Tag für Tag drängelte sie sich von Viertel vor sieben bis halb acht durch den Berufsverkehr, um dann acht Stunden oder mehr zusammen mit einem Dutzend Kollegen in einem fensterlosen Raum am Telefon und vor Bildschirmen zu verbringen. Um die Mittagszeit saß sie eine zusätzliche halbe Stunde des Tages in der Kantine ihrer Firma, die, so schien es ihr, nur zehn Gerichte kannte, von denen immer zwei an einem Tag serviert wurden, eines davon vegetarisch. Diese immer selben Menüs kamen jede Woche von Neuem auf den Tisch. In sieben Jahren, schätzte Sophie, musste sie an die dreihundertfünfzig Mal ›Putengeschnetzeltes mit buntem Reis und gemischtem Salat‹ gegessen haben, dazu Götterspeise als Dessert. Immerhin besaß die Kantine Fenster, und man hatte einen Ausblick, wenn auch nur auf die Parkplätze und Zweckbauten des umliegenden Gewerbegebiets.

      So dröge es auch war, das war ihr Leben. Man gewöhnt sich an alles, manchmal so sehr, dass man schließlich daran hängt. Würde sie es am Ende vielleicht sogar vermissen? Sophie lauschte in sich hinein. Sie fühlte weder Wehmut bei der Aussicht, Job, Kollegen und Freunde hinter sich zu lassen, noch war sie gespannt auf ihre Zukunft. War das gut oder schlecht? Wahrscheinlich war es noch zu früh, etwas zu fühlen. Und falls sie ihre Entscheidung doch irgendwann bedauerte, brauchte sie sich nur vor Augen zu halten, dass sie keine Wahl gehabt hatte. Ein Umzug, eine zweite Wohnung mit ihrem mageren Verdienst und eine Fernbeziehung über dreihundert Kilometer waren nun mal keine Option.

      Schluss mit der Grübelei. Sophie spülte ihren Mund aus und lächelte sich mechanisch im Spiegel an. Auf ihre Zähne war sie stolz. Sie fuhr sich mit einem groben Kamm ein paar Mal durch ihr dichtes, schweres Haar, raffte es für die Nacht zu einem Pferdeschwanz zusammen und drehte dabei den Kopf hin und her, um sich von beiden Seiten zu sehen. Ich sollte etwas von meiner Abfindung dafür ausgeben, dachte sie, mir das Ohr machen zu lassen. Das kann nicht so teuer sein. Sophies rechtes Ohr stand deutlich ab. Manchmal kam es ihr sogar vor, als wäre es auch noch größer als das andere. Sie erinnerte sich nicht, ob es schon immer abgestanden hatte oder ob es erst durch eine unausrottbare Angewohnheit von ihr so geworden war: Immer, wenn sie sich vorbeugte oder den Kopf neigte, hakte sie mit einer kleinen, unbewussten Handbewegung die Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht fielen, hinters Ohr. Es musste ordentlich Gewicht aushalten und hatte sich vielleicht deshalb nach und nach immer weiter abgewinkelt.

      Sophie beendete die Selbstbetrachtung mit einem Seufzer, einer kleinen Grimasse für ihr Spiegelbild und schlappte auf Socken ins Schlafzimmer. Dort legte sie nicht einfach den Bademantel ab und schlüpfte unter ihre Bettdecke, sondern suchte aus der Tiefe ihrer vollgestopften Schrankhälfte einen alten Flanellschlafanzug heraus und zog ihn an. Der würde Jens bremsen, falls er heute Abend noch einen Annäherungsversuch unternehmen wollte. Und er würde ihr Zeit verschaffen zu überlegen, statt sich seinen lüsternen Wünschen und ihren hitzigen Reflexen vorschnell zu ergeben.

      2 – Sophie entdeckte den Brief

      erst am Abend des folgenden Tages, kurz bevor sie ihn mit dem nutzlosen Rest des Briefkasteninhalts in den Papierkorb werfen wollte. Es war ein Standardkuvert aus Recyclingpapier, und eine Frankiermaschine hatte den Absender außen darauf gedruckt: Amtsgericht Küstrow. Im ersten Moment glaubte sie an einen Irrläufer, denn sie kannte keinen Ort namens Küstrow. Aber ihr Name und ihre Adresse waren korrekt im Fenster des Umschlags zu lesen. Sie riss den Brief auf und las

       Amtsgericht Küstrow,

       Nachlassgericht,

       Aktenzeichen …

       Sehr geehrte Frau Schatz,

       in der Nachlassangelegenheit

       Marie-Luise Berkemann, geborene Schatz,

       geboren am 25. 11. 1938 in Breslau (Wroclaw),

       verstorben am 10. 7. 2018 in Küstrow,

       mit letztem gewöhnlichem Aufenthalt in …

      Tante Marie-Luise, die Schwester der Mutter ihres Vaters, also ihre Großtante, war gestorben. Schon vor Monaten. Die Nachricht löste weder Betroffenheit noch Trauer bei Sophie aus, denn sie hatte die Verstorbene so gut wie nicht gekannt und war ihr nur einmal vor zwanzig Jahren bei ihrer Erstkommunion begegnet. Die Erinnerung daran war mehr als verschwommen und bestand hauptsächlich darin, dass die Tante eine ziemlich große Frau und irgendwie extravagant gewesen war – sie trug in der Kirche einen Hut, einen großen mit einer weichen breiten Krempe, eine Art Florentiner. Sophie las, neugierig geworden, weiter:

      … sind Sie von dem vom Gericht bestellten Nachlasspfleger als gesetzliche Erbin ermittelt worden. Eine Sterbeurkunde erhalten Sie vom zuständigen Standesamt. Bitte legen Sie zum Nachweis von Erbberechtigung und Verwandtschaftsverhältnis dem Nachlassgericht folgende Urkunden vor: Personalausweis, Geburtsurkunde, Geburtsurkunde des Vaters …

      Sophie