Kathrin Brückmann

Halbe-Halbe, einmal und immer


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      »Heiraten ist natürlich ein guter Grund dafür, nicht wegzuziehen«, sagte Werner. »Das verstehe ich.«

      »Jetzt hört doch mal auf«, sagte Sophie mit Nachdruck. »Ich heirate doch noch gar nicht!«

      »Nicht? Wann denn dann? Du solltest aber. Heirate, solange du noch jung bist.«

      »Neunzehn ist jung«, sagte Sophie. »Ich bin neunundzwanzig.«

      »Na, dann wird es doch höchste Zeit.«

      »Heirate doch selbst, wenn’s dir so wichtig ist.«

      »Ich bin für die Ehe nicht gemacht«, sagte Gabbi. »Bis später.«

      Sie waren vor der Abteilung angelangt, in der Sophie und Werner arbeiteten. Gabbi musste weiter. Sophies Arbeitsplatz befand sich in einem großen, fensterlosen Raum. In blassem Neonlicht saß ein Dutzend Männer und Frauen, jeweils getrennt durch Sichtblenden, an langen Tischen vor großen Monitoren. Die Hälfte von ihnen trug Headsets, und einige waren dabei, ein Telefongespräch zu führen. Gemeinsam erzeugten sie ein halblautes, einschläfernd gleichmäßiges Stimmengewirr, das zusammen mit dem Rauschen der Rechnerlüftungen und der Klimaanlage und dem Summen der Leuchtstoffröhren den Raum erfüllte. Sophie fuhr ihren Rechner nicht hoch, als sie an ihrem Platz angekommen war. Sie saß untätig da und beobachtete für eine Weile einen großen Bildschirm unter der niedrigen Decke. Der zeigte an, ob und wie viele Anrufer sich in der Warteschleife befanden (und sich dabei eine nervtötende elektronische Melodie in Endlosschleife anhören mussten). Niemand wartete, und es war Viertel nach drei. Sophie entschied, dass das Anrufvolumen an diesem Tag so gering bleiben und sie nicht mehr dringend gebraucht werden würde und beschloss, einen Teil ihres Zeitguthabens abzufeiern. Sie stand auf, raffte ihre Sachen zusammen und ging.

      Sophies Arbeitgeber war eine internationale Spedition. Um vom Verwaltungsgebäude der Firma zum Parkplatz der Angestellten und zu ihrem Wagen zu gelangen, musste sie sich im Halbdunkel des Dezembernachmittags einen Weg durch Schneematsch und zwischen schwarzen Pfützen vorbei an Reihen haushoher Sattelzüge und abgestellter Auflieger suchen. Ihr zwölf Jahre alter Golf startete nur widerwillig. Weil sein Innenraum erst nach längerer Fahrt zögernd und dann auch nur lauwarm wurde, behielt sie ihren Daunenmantel an. Hinter beschlagenen Fenstern schlängelte und drängelte sie sich eine Dreiviertelstunde lang durch den Nachmittagsverkehr. Es war fast Nacht, als sie auf der anderen Seite der Stadt, im Dortmunder Nordosten, zwischen anderen Wohnblöcken denjenigen erreichte, in dem sie sich im siebten Stock mit ihrem Partner eine kleine Wohnung teilte.

      An gewöhnlichen Tagen war Jens oft vor ihr zu Hause und hatte bereits den Briefkasten geleert, wenn Sophie eintraf. Dieses Mal nahm sie, was auf den ersten Blick aussah wie die übliche Sammlung von Ramschpost, mit nach oben, um sie in einer ruhigen Minute zu sortieren, bevor sie die Werbeschreiben entsorgte. Es konnte ja doch einmal etwas Wichtiges dabei sein, und die Flyer der Essensbringdienste hob sie gern eine Zeit lang auf, für alle Fälle und die Wochenenden. Sophie konnte nicht richtig kochen, Jens erst recht nicht

      In der kleinen Wohnung war es kalt und die Luft verbraucht. Sie behielt ihren Mantel an, während sie die Runde machte und lüftete. Drei, vier Minuten lang lauschte sie stehend und mit den Händen in den Manteltaschen dem entfernten, Rauschen des Verkehrs. Dann drehte sie die Heizkörper auf, schloss Balkontür und Fenster und legte ihren Mantel ab.

      Jens kam eine Stunde später. Sophie stand in der winzigen Küche und sagt ohne Gruß und Einleitung über die Schulter in Richtung der Diele, von wo sie Jens hörte, »Ich mache was zu essen. Hast du einen besonderen Wunsch?«

      »Ich esse jetzt nichts. Ich gehe noch mal ins Studio.«

      Sophie antwortete nicht.

      »Willst du nicht mitkommen?«

      Die Frage traf Sophie unvorbereitet. Sie wusste nicht sofort, was sie antworten sollte. Wenn sie mitkam, würde sie sich langweilen. Sie fand Fitnesstraining öde, und Menschen, die mit fast religiöser Ernsthaftigkeit, ächzend und schnaufend, unter größter Anstrengung schwere Lasten oder sich selbst auf der Stelle bewegten, insgeheim einfältig oder albern. Natürlich wurde man davon auf die Dauer stärker, bekam eine bessere Figur und angeblich war es auch gesund – aber langweilig. Und obendrein auch noch anstrengend. Trainierte sie nicht, entging sie zwar Anstrengung und Langeweile, bekam dafür aber ein schlechtes Gewissen. Denn auch wenn sie sich insgesamt in ihrer Haut wohlfühlte, glaubte Sophie doch, dass ihr Körper an einigen wichtigen Stellen (und besonders auf der Rückseite) schmaler, flacher oder straffer sein sollte und es an ihrer Bequemlichkeit lag, wenn er das nicht war.

      Jens’ sportlicher Eifer setzte sie zusätzlich unter Druck. Manchmal aber tat er ihr auch ein wenig leid. Seine in ihren Augen übertriebene Beschäftigung mit dem eigenen Äußeren, mit Äußerlichkeiten überhaupt, hielt sie für Mittel, mit denen er tatsächliche oder gefühlte persönliche Mängel auszugleichen suchte. Er trug tagsüber gewohnheitsmäßig Anzug und Krawatte, aber das musste wohl so sein, denn er arbeitete bei einer Bank. Er verbrachte viel Zeit im Fitnessstudio, verbrauchte Kosmetika in industriellen Mengen und fuhr ein auffälliges und gefährlich schnelles Auto. Entschädigte ihn das dafür, dass sein Haar immer dünner wurde und er nicht gerade hochgewachsen war? Er trug Schuhe, die ihn größer wirken ließen. Wenn sie ausgingen, verzichtete Sophie stillschweigend auf Absätze, mit denen sie ihn überragte. Ohne dass sie je darüber gesprochen hatten, wusste sie, dass ihm das unangenehm war.

      »Willst du nicht mitkommen?«

      Oops, da war sie wieder, die Frage. Wie fast immer entschied sie sich gegen die Langeweile und für ein schlechtes Gewissen. »Nein«, sagte sie. »Ein anderes Mal. Mir ist heute nicht nach Sport.«

      Jens antwortete nicht. Sie hörte, wie er die Türen des Dielenschranks öffnete und schloss und seine Sportsachen zusammenkramte. Dann sagte er: »Bis später!«, die Wohnungstür ging, und weg war er.

      Bis später, Jens«, sagte Sophie in die einsetzende Stille. »Viel Spaß mit deinen Gewichten. Könnten wir nicht, statt in ein Fitnessstudio, einfach mal tanzen gehen? So richtig, nicht zu dieser Maschinenmusik …« Ihr wurde bewusst, dass sie halblaut vor sich hinbrabbelte, und sie hielt erschrocken inne. Mein Gott, dachte sie, was ist los mit mir? Ich spreche mit mir selbst!

      Die Lasagne, die sie in die Mikrowelle hatte schieben wollen, stellte sie zurück in den Kühlschrank und machte sich ein Käsebrötchen. Das aß sie zusammen mit einem Apfel vor dem Fernseher stehend und während sie durch die Sender zappte. Das Vorabendprogramm bot nichts, was sich anzusehen lohnte, und weil sie nach einem Tag vor dem Bildschirm auch keine Lust mehr hatte, noch etwas zu lesen, beschloss sie, ein Bad zu nehmen.

      Das Badezimmer der kleinen Wohnung war winzig und die Wanne deshalb zu kurz, um sich darin auszustrecken, aber wenn man sie richtig voll und dann keine Wellen machte, dann war man auch mit angezogenen Knien noch komplett mit Wasser bedeckt. Sophie wusch zuerst ihr Haar, weil das ein größerer Akt war, denn sie hatte viel davon. Danach schüttete sie reichlich Badekristalle in die Wanne, füllte sie zur Hälfte, stieg hinein und ließ so viel heißes Wasser nachlaufen, dass die Temperatur fast unerträglich wurde. Sophie liebte heißes Wasser. Wenn die Buddhisten recht hatten und man wiedergeboren wurde, dann war sie in einem früheren Leben bestimmt ein rundlicher bunter Fisch in einer warmen tropischen Lagune gewesen. In ihrer Badewanne, bis zum Kinn versunken, umgeben von kleinen Gebirgen aus duftendem Schaum, ließ sie ihre Gedanken wandern, während der Rest der Welt weit weg war. Ihr fensterloser Arbeitsplatz im fahlen Neonlicht, der nasskalte Dezember, der Schneematsch und der nervtötende Verkehr, ihr Nachhauseweg durch das winterliche Zwielicht in ihrem kalten Auto – all das schien für eine behagliche halbe Stunde unwirklich wie eine ferne Erinnerung. Und tatsächlich, ging ihr auf, bald würde es ihren jetzigen Arbeitsplatz nur noch in ihrem Gedächtnis geben. In zwei Wochen war Weihnachten, an den Arbeitstagen danach bis Silvester würde sie den Rest ihres Jahresurlaubs abfeiern, und ab dem 1. Januar war sie arbeitslos. Abgesehen von der Suche nach einem neuen Job hatte sie frei. Sie konnte sich etwas vornehmen, Pläne machen. Das heiße Wasser, in dem sie bewegungslos lag, und die Erkenntnis, dass sie demnächst vorübergehend ohne berufliche Verpflichtung war, brachte sie auf die Idee zu verreisen. Natürlich mit Jens. Der konnte auch Urlaub brauchen, so angespannt,