Kathrin Brückmann

Halbe-Halbe, einmal und immer


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      »Das heißt, ich habe Schulden geerbt.«

      »Man erbt halt auch Schulden«, sagte die Frau. »Aber sie haben ja noch das Haus.«

      Die Überraschungen nahmen kein Ende. »Das Haus? Welches Haus? Meine Großtante hatte ein Haus?«

      »Wissen Sie das nicht?«

      »Ich kannte sie doch gar nicht. Zuletzt getroffen habe ich sie als Kind, vor zwanzig Jahren, und seitdem keinen Kontakt mehr mit ihr gehabt. Dann kam vor Weihnachten ein Schreiben des Nachlasspflegers, und plötzlich war ich ihre Erbin.«

      »Ich verstehe«, sagte die Frau. »Wissen Sie, das Ganze wäre für uns alle, für Sie und uns, heute einfacher, wenn Ihre Tante uns ihr Haus einfach überschrieben hätte. Aber sie hat sich geweigert und noch versucht, es zu verkaufen, aber daraus wurde nichts. Keine Ahnung, warum. Währenddessen wuchsen ihre, äh, Verbindlichkeiten immer weiter an. Bevor wir sie pfänden konnten, äh … verschied sie.«

      Pfänden … Sophie sagte: »Sie wollten meiner Großtante das Haus wegnehmen?«

      »Frau Schatz, wir sind ein Wirtschaftsunternehmen, kein Wohltätigkeitsverein. Wir müssen unsere Kosten gedeckt bekommen und auch noch einen Gewinn machen. Das ist nun mal so. Haben Sie zufällig kaufmännische Kenntnisse?«

      »Ja.«

      »Nun, dann sollten Sie ja wissen, wie das funktioniert.«

      Sophie stand auf. »Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«

      »Wir schicken Ihnen die Rechnung«, sagte die Frau.

      Sophie schlüpfte in ihren Mantel und stopfte den Plastikbeutel mit den Sachen ihrer Tante in ihre Schultertasche.

      »Hilft mir jemand tragen?«

      »Tut mir leid«, sagte die Frau. »Wir haben zu wenig Personal.«

      Sophie trug den Umzugskarton zuerst nach unten. Er war nicht schwer. Als sie zurückkam, um den Koffer zu holen, stand er schon im Korridor, und die Tür zum Büro war geschlossen.

      Sophie verließ das Gelände des Heims fast fluchtartig. Hätte ihr Wagen einen stärkeren Motor gehabt, wäre sie mit durchdrehenden Rädern angefahren. Sie durchquerte wieder die Ortschaft, an deren Rand das Heim lag, und fand am Ortseingang einen kleinen Parkplatz mit ein paar Hinweisschildern zu Rad- und Wanderwegen und einem Ortsplan. Dort hielt sie, um ihre Gedanken zu ordnen und zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Das Erste, das ihr einfiel, war, den Nachlasspfleger anzurufen. Als er sich meldete und sie erkannt hatte, hielt sich Sophie nicht mit langen Vorreden auf.

      »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass meine Großtante Schulden hatte?«

      »Sie haben nicht gefragt.«

      »Aber … was hätte es Sie denn gekostet …«

      »Frau Schatz«, unterbrach er sie, »es ist nicht meine Aufgabe, Sie in Erbangelegenheiten zu beraten, und schon gar nicht, Ihnen rechtswirksame Auskünfte zu geben. Das darf nur ein Anwalt. Sie hätten sich eben informieren sollen, bevor Sie den Erbschein beantragt haben. Dann hätten Sie das Erbe noch ausschlagen können.«

      Hätte, hätte … Nun ist es zu spät und sinnlos, weiter darüber zu reden, dachte Sophie. Sie atmete einmal tief durch, um ihre Frustration zurückzudrängen, und sagte dann: »Wo steht denn das Haus meiner Großtante?«

      »Grobitzer Landstraße 210«, antwortete der Nachlasspfleger, ohne zu zögern.

      »Wo ist das?«

      »In Grobitz, nehme ich an.«

      Sophie fragte nicht, was oder wo Grobitz war. Stattdessen sagte sie: »Wo ist meine Großtante eigentlich beerdigt?«

      »Das weiß ich nicht. Das muss das Pflegeheim wissen, das hat die Bestattung organisiert.«

      »Okay. Und bei welcher Bank hatte sie ihr Konto?«

      »Bei der Volksbank Küstrow. Ich weiß aber nicht, bei welcher Zweigstelle.«

      »Das finde ich selbst heraus«, sagte Sophie. »Ich melde mich wieder, wenn ich noch Fragen habe.« Sie unterbrach die Verbindung ohne ›Vielen Dank‹ und ›Auf Wiedersehen‹. Dann saß sie fest in ihren Mantel gewickelt in ihrem kalten Auto und blickte über die winterliche Landschaft, über verwaiste Viehweiden und leere Felder. Es hatte zu schneien begonnen, aber nur wenig, und der Schnee war fein wie Puderzucker. Er trieb waagerecht im Wind vor ihrer Windschutzscheibe vorbei und in Schlieren über den trockenen Asphalt der Straße.

      Nach einer Weile kramte Sophie den Plastikbeutel aus ihrer Tasche und leerte seinen Inhalt auf den Beifahrersitz neben sich. Dann untersuchte sie mit spitzen Fingern die kleine Sammlung. Die Geldbörse war bis auf das hinterste Fach leer. Dort fand Sophie zwei kleine, alte Fotos. Sie waren so abgegriffen, vergilbt und verblichen, dass sich auf ihnen kaum noch etwas erkennen ließ. Mit Mühe machte Sophie aus, dass sie einen Mann in Uniform zeigten. Sie hielt die Bilder nebeneinander und stellte fest, dass es sich um zwei verschiedene Männer handelte, oder jedenfalls zwei verschiedene Uniformen. Die Gesichter waren wegen des Zustands der Fotos und des schlechten Lichts im Inneren des Autos nicht zu unterscheiden. Auf den Rückseiten stand nichts. Sophie schob die Bilder vorsichtig in ihre Brieftasche und steckte die leere Geldbörse wieder in den Beutel.

      Die kleine alte Uhr lief nicht. Ihre Vergoldung war größtenteils abgenutzt, das Glas trüb und das Zifferblatt fleckig. Sophie erkannte den Markennamen nicht. Sie klopfte und schüttelte und lauschte an dem kleinen Gehäuse, bevor sie auf die Idee kam, die Uhr aufzuziehen. Und tatsächlich, nach ein paar vorsichtigen Umdrehungen der winzigen Krone nahm der Sekundenzeiger wieder seine Runden auf. Sophie hielt mit angehaltenem Atem die Uhr an ihr Ohr und hörte das Werk leise und fleißig arbeiten. Wie lange tat es das schon? Fünfzig, sechzig, siebzig Jahre?

      Zwei Eheringe im Nachlass bedeuteten wohl, dass die Großtante Witwe gewesen war. Die Ringe waren ungewöhnlich breit und dick und deshalb spürbar goldgewichtig, der kleinere der beiden fast zu klobig für eine Frauenhand. Sophie streifte ihn über ihren rechten Ringfinger, und er passte perfekt. Sie besaß nur wenig Schmuck, nichts davon wertvoll, und trug nur welchen zu festlichen Anlässen. Deshalb fühlte sich der Ring ungewohnt an, aber er gefiel ihr auch. Sie drehte die beringte Hand hin und her und mochte den Anblick. Steht mir gut, dachte sie. Als sie den Ring wieder vom Finger ziehen wollte, saß er fest. Nach ein paar vergeblichen Versuchen entschied sie, ihn anzubehalten. Schließlich gehörte er ihr ja; sie hatte ihn geerbt. Sie musste ihn nicht wieder abnehmen. Solange sie ihn am Finger hatte, ging er jedenfalls nicht verloren. Den zweiten Ring verstaute sie in ihrer Brieftasche.

      Und dann war da noch der Schlüsselbund: zwei Sicherheits- und zwei altertümliche Bartschlüssel, dann noch ein kleiner, der wohl zu einem Briefkasten gehörte, und ein Messingschlüssel, wie er für Möbel üblich ist. Nichts daran war ungewöhnlich – außer, dass es die Schlüssel für ihr Haus waren.

      Ein Blick auf Telefon und Karte zeigte Sophie, dass sie sich gerade näher an Grobitz als an Küstrow befand. Es war noch nicht Mittag, und sie hatte noch keinen Hunger. Deshalb entschied sie, sich das Haus ihrer Tante anzusehen, bevor sie zurück in die Stadt fuhr, um irgendwo etwas zu essen. Das Haus, das sie geerbt hatte. Sie warf den Plastikbeutel und die leere alte Geldbörse in einen Abfallkorb am Rande des Parkplatzes und machte sich auf den Weg.

      Die Fahrt dauerte nur zehn Minuten. Es schneite stärker, aber der Schnee war immer noch so fein und trocken, dass ihn der Fahrtwind von der Frontscheibe blies und Sophie keinen Scheibenwischer brauchte. Inzwischen durchquerte sie eine abwechslungsreichere Landschaft mit welligem Gelände. Die Felder waren weniger weitläufig und durchsetzt von flachen Anhöhen, auf denen Bäume oder Gebüsch wuchsen. Auch der Wald, der bisher immer nur eine schwarze Linie am Horizont gewesen war, rückte näher. Grobitz war kein Dorf, sondern bestand aus zwei kurzen Reihen kleiner, älterer, spitzgiebeliger Häuser auf beiden Seiten der Durchgangsstraße. Sophie suchte nach einem Schild mit einem Straßennamen und nach Hausnummern, fand aber nichts. Ehe sie anhalten konnte, war sie schon durch Grobitz hindurch und musste zweihundert Meter weiterfahren, bevor sie einen