Olivia Monti

Sterbewohl


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einem Seminar teilnehmen. Im Seminar ging es darum, wie man der Gesellschaft einen unschätzbaren Dienst erweisen konnte, indem man Sterbewohl schluckte und so das Rentensystem entlastete. Natürlich wurde nicht nur an deinen Gemeinsinn appelliert. Sie machten dir auch Angst, wie schrecklich Hilflosigkeit und Dahinsiechen im Alter für dich sein würden, wenn du es zu lange hinausschobst.

      Fünfundsechzig … Ich fühlte mich noch nicht alt. Auch wenn ich dieses alte Gesicht an mir entdeckt hatte, das eigentlich nicht zu mir passte. Ich war zwar müde von den vielen Jahren Grundschulunterricht. Vielleicht war ich sogar zermürbt. Aber ich wusste ganz genau: Jetzt, wo ich pensioniert war, konnte ich den ganzen Frust hinter mir lassen und langsam, Schritt für Schritt, wieder zu einer besseren Form finden. Ich hatte schon ein Programm für mich aufgestellt, das aus sportlichen Betätigungen, gesundem Kochen, kulturellen Veranstaltungen, Reisen bestand … Ich hoffte, so körperlich und auch seelisch wieder hochzukommen. Mein Ziel war es, dieses natürliche Wohlbefinden zu erreichen, an das ich mich noch aus meiner Kindheit erinnern konnte, als ich mich noch ganz fühlte.

      Warum luden sie mich bloß jetzt schon zu dem Sterbeseminar ein? War es kein Versehen, dann war der Staat vielleicht in derartigen finanziellen Nöten, dass er meine Pension nicht mehr zahlen konnte. Er versuchte also, die Menschen loszuwerden, sobald er ihnen eine Pension zahlen musste. Ich hatte gerade mal meine erste Pensionszahlung erhalten … Die hatte der Staat nicht vermeiden können; es wäre unpassend gewesen, wenn sie einen schon angeschrieben hätten, solange man noch im Arbeitsprozess war …

      Vor fünf Jahren war ich aus meinem Elternhaus in ein Mietshaus umgezogen. Es gab im Haus vier Wohnungen. Hier lebten, mich eingeschlossen, vier ältere Personen. Wir hatten uns zusammengetan, um uns im Alter gegenseitig zu unterstützen. Es war eine Art Alters-WG. Wenn man keine Angehörigen hatte, die einen pflegten, und den Heimen nicht traute, kam so etwas durchaus infrage. Die Älteren starben weg, Jüngere kamen hinzu, und die Jüngeren halfen den Älteren.

      Es hatte über ein Jahr gedauert, bis wir vier uns zusammenfanden.

      Um zu sehen, ob es klappen würde, verabredete man sich mit unzähligen Leuten ähnlichen Alters, und dann stimmte dies nicht und das nicht und man sah sich die Nächsten an. Als ich schon ziemlich verzweifelt war und damit rechnete, ich müsse später doch noch in ein Heim, fand ich zuerst Anna. Wir waren Klassenkameradinnen gewesen, hatten uns aber nach dem Abitur aus den Augen verloren. Als ich sie zufällig nach Jahrzehnten im Konzert traf, erzählte ich ihr von meiner Suche nach Mitbewohnern für eine Alters-WG. In der Schule war sie mir nicht sonderlich sympathisch gewesen. Sie hatte sich ständig benachteiligt gefühlt, sich hier beschwert, dort beklagt. Sie bekam ihrer Meinung nach immer zu wenig, wurde schlechter behandelt als alle anderen. Die Jahre schienen sie aber verändert zu haben. Sie wirkte auf mich nun ruhig und ausgeglichen. Wie jemand, der etwas erreicht hat und es auch zu schätzen weiß. Zu ihrer Selbstsicherheit passte die stämmige Figur. Bis zu ihrem fünfundsechzigsten Lebensjahr hatte Anna in der Altenpflege gearbeitet. Auch das konnte von Vorteil sein, sagte ich mir insgeheim. Anna kannte einen gewissen Fred; Fred hatte ein kleines Vermögen, aber nie richtig gearbeitet. Fred wiederum hatte einen engen Freund, Max, den Sparkassenangestellten. Beide fand ich auf Anhieb sympathisch. Sie waren gebildet und nicht vorlaut. Der Einzige von uns, der verheiratet gewesen war, war Max. Seine Frau, Irmgard, war vor zehn Jahren an Leukämie gestorben. Ich glaube, er ist nie darüber hinweggekommen. Es haftet ihm eine Traurigkeit an, die sogar durchscheint, wenn er lächelt. Kinder schien niemand von uns zu haben. Ich hätte mir welche gewünscht, habe lange gehadert, dass ich keine hatte. Woran lag es? Ich habe einfach nicht den richtigen Partner gefunden. Ich kannte Männer, aber mit keinem wollte ich ein Kind haben. Ich habe immer auf den Mann gewartet, mit dem ich dann eines wollen würde. Der kam aber nie.

      Altersmäßig sind wir nur wenige Jahre auseinander. Wir gehören zur gleichen Generation. Das ist hilfreich. Man hat mehr oder weniger dieselbe Geschichte, äußerlich gesehen.

      Da lag also der Brief des Gesundheitsministeriums vor mir auf dem Küchentisch. Er hatte mir noch keinen tiefen Schrecken versetzt; wenn etwas Schlimmes passiert, sind meine Reaktionen manchmal verzögert. Ich merke das Schlimme erst viel später. Und so machte ich mir zunächst einmal eine Tasse Kaffee, um ihn nochmal in aller Ruhe durchzulesen. Ich musste ganz sichergehen, dass ich auch nichts missverstanden hatte.

      Einladung ins Hotel Paradies auf Fehmarn. Paradies ... Am 20. April ... Es wäre dann noch frisch, noch nicht warm genug für Fehmarn, überlegte ich unsinnigerweise, bis mir klar wurde, der 20. April war schon in zwei Wochen! In zwei Wochen wäre ich auf Fehmarn beim Sterbeseminar und, wie so mancher hinter vorgehaltener Hand flüsterte, kam man von dort nicht mehr nach Hause zurück.

      Im zweiten Absatz stand, man hatte in den nächsten Tagen für alle Fälle einen Sachwalter zu benennen und dem örtlichen Gesundheitsamt mitzuteilen. Der musste sich gegebenenfalls um die Auflösung des Haushalts kümmern. Es stand nicht im Brief, dass er eventuell auch die Beerdigung organisieren musste. Das verstand sich aber von selbst. Der Staat wollte den Leuten nicht zu viel Angst einjagen. Es sollte so aussehen, als wäre die Veranstaltung freiwillig, als könnte man sich im Hotel die Vorteile des freiwilligen Todes anhören, ohne ihn wählen zu müssen, als dürfte man jederzeit wieder nach Hause zurückkehren, wenn man das wollte. Aber ich hatte, wie so einige, den starken Verdacht, der Staat gaukelte den Bürgern bloß vor, sie hätten eine Wahl.

      Dass dies kein freies Land mehr war, wurde nur wenige Monate nach dem Wahlsieg der BP, die sich harmlos Bürgerpartei nannte, klar. Die BP hatte mit einer Zweidrittelmehrheit gewonnen, in wenigen Monaten Grundgesetz und Wahlrecht geändert und sich so ein Fortregieren ermöglicht in einer Demokratie, die nur noch eine Scheindemokratie war. Das war jetzt zehn Jahre her. Damals hatte es eine Weltwirtschaftskrise gegeben, ausgelöst durch die gigantischen privaten und staatlichen Schuldenberge. Der Euro war zerfallen, ein Brot hatte irgendwann eine Million Euro gekostet, und die BP tat damals so, als könne man mit einfachen Rezepten aus der Krise kommen. Unsere Nachbarländer hatten so viel mit sich selbst zu tun, dass sie kaum merkten, wie wir in einen Staat schlitterten, in dem der Bürger nur noch einen Dreck zählte. Es gab einen Währungsschnitt, die D-Mark wurde wieder eingeführt, der Staat brachte alle möglichen Konjunkturprogramme mit gedrucktem Geld auf den Weg. Es ging langsam besser, und so beklagte niemand den Verlust der Freiheit. Bald konnte man wieder alles kaufen, das Verhältnis zwischen Verdienst und den Preisen von Waren stimmte wieder, und nur darauf schien es anzukommen. Was vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch ein Problem war, und zwar Renten und Pensionen auszuzahlen, wurde allerdings auch im BP-Staat bald wieder zum Problem. In der klassischen Demokratie schien es dafür keine gute Lösung zu geben, die Renten- und Pensionskassen zahlten immer weniger und dann fast nichts mehr. In unserem neuen System gab es eine Lösung: Der Staat drängte einen, das Zeitliche zu segnen.

      Im Fernsehen betonten sie, wie schön es war, rechtzeitig Abschied zu nehmen, bevor Demenz und Inkontinenz einsetzten, bevor wir unsere Angehörigen nicht mehr erkannten und ihnen und der Gemeinschaft unsere Hilflosigkeit und unser langsames Dahinsiechen aufbürdeten. Es gab sogar Filme über die Sterbehotels, in denen man die schönsten, weil letzten Tage seines Lebens so intensiv verbrachte wie noch keinen anderen Tag im Leben und sich sogar noch verliebte, um dann gemeinsam in den Tod zu gehen. Und die Bürger wurden in Seminaren, Vorträgen und Coachingveranstaltungen darauf getrimmt, ab einem bestimmten Alter gemeinnützig in den Tod zu gehen.

      Solange das mit achtzig der Fall war, hatten nur wenige etwas dagegen. Insbesondere wenn man jung war, dachte man nicht so weit. Und da das frühzeitige Sterben angeblich freiwillig war, ließen sich tatsächlich viele davon überzeugen, dass es in der Tat angenehmer war, schnell zu gehen, solange man noch in Form war, statt jahrelang hilflos dahinzusiechen und selbst für die intimsten Verrichtungen Hilfe zu benötigen. Die Generation, die ihre Eltern jahrelang gepflegt hatte und nicht selbst so enden wollte, ließ sich am leichtesten gewinnen.

      Der Staat gab sich ungemein Mühe, es uns schmackhaft zu machen, es hundertfach zu erklären und zu verbrämen. Was dann tatsächlich dazu führte, dass das geregelte Sterben zunächst weithin akzeptiert wurde. Besonders perfide war, dass der Staat sich dabei strikt von den Euthanasieprogrammen des Dritten Reichs abgrenzte. Damals hatte man lebensunwertes Leben vernichten wollen. Man tötete beispielsweise alte Menschen, wenn sie