Olivia Monti

Sterbewohl


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weitermachen. Dann haben sie die gesamte Bevölkerung gegen sich. Und auch das Ausland wird reagieren.“

      Das war eine gute Idee. Ob Fred aber wirklich jemanden von der Presse kannte und diese Person dann auch noch überzeugen konnte, mit uns zu fahren? Da war ich nicht ganz sicher. Fred war ein netter Kerl, er hatte aber ein Geschäft nach dem anderen verdorben. Er hatte ständig neue Projekte begonnen, seinen Geschäftspartnern große Hoffnungen gemacht, doch wenn es an die Realisierung und die mühsame Kleinarbeit ging, hatte er versagt und jedes Projekt war am Ende gescheitert. Um es kurz zu fassen: Fred verkaufte liebenswürdig leere Hoffnungen.

      Kapitel 3

      Ich stand vor dem Wandkalender in meiner Wohnung und blickte auf die Tage, die im April noch blieben, bis sie uns abholten. Im Dritten Reich hatten sie einen abgeholt, wenn man Jude war. Jetzt holten sie dich ab, wenn du alt warst. Statt allerdings wie damals in schmutzigen Baracken zusammengepfercht auf den Tod zu warten, bekamst du in einem Luxushotel nach einem Fünf-Gang-Essen bei Kerzenlicht in einer Suite die Pille serviert, die dich aus dem Leben beförderte. Leise Musik berieselte dich, du durftest deine Lieblingsmusik wählen und Sterbewohl mit einem Glas Champagner schlucken.

      Im ersten Jahr wollten sie geistlichen Beistand zulassen. Die Kirche hatte sich aber geweigert, ebenso die anderen Glaubensgemeinschaften. Öffentliche Stellungnahmen gab es hierzu aber nicht. Solange sie vom Staat geduldet wurden, hielten sie den Mund.

      Ich ging langsam durch meine zwei Räume, Wohnzimmer und Schlafzimmer, musterte die Dinge, die ich noch aus meinem Elternhaus behalten hatte, Erinnerungsträger. Jede Vase, jedes Kristallglas hatte meine Familie erlebt, spiegelte meine Eltern wider. Ich war froh, dass sie schon über zehn Jahre tot waren und das hier nicht mehr miterleben mussten. Irgendwann würde alles auf dem Müll landen. Eines Tages verlor man alles. Aber jetzt schon? Jetzt war ich dazu noch nicht bereit.

      Ich hatte mit nichts abgeschlossen. Mir schien sogar, ich hätte noch gar nicht richtig gelebt. Nach dem Studium hatte ich sofort die Stelle als Grundschullehrerin angetreten. Seither war ich nicht mehr aus der Tretmühle herausgekommen. Ein Tag glich dem anderen. Morgens Unterricht, nachmittags Hefte korrigieren. Abends Elternsprechstunde. Weiterbildungen, Tagungen, selten Einladungen zu Kollegen. Die Zeit dazwischen brauchte ich, um meine Arbeitstüchtigkeit aufrechtzuerhalten und meinen Haushalt zu bewältigen. Die einzige Abwechslung boten die Ferien. Da war ich regelmäßig verreist und konnte Luft schöpfen in einer anderen Welt ohne Schulmief. Ja, es war noch nicht Zeit für mich. Eben erst hatte ich den Entschluss gefasst, endlich zu leben.

      Kapitel 4

      In der Nacht konnte ich natürlich nicht einschlafen. Wir waren in zwei Tagen bei Fred verabredet. Er wollte bis dahin eine Journalistin kontaktiert haben, die er von früher kannte. Woher sollte Fred eine Journalistin kennen, überlegte ich erneut. Und was für eine Journalistin? Vielleicht eine alte Freelancerin, deren Artikel niemand wollte? Fred war ein netter Kerl, und deshalb sagte niemand von uns, er sei ein Hochstapler. Aber das war er. Ich hatte wenig Hoffnung, dass Fred irgendetwas Positives für uns bewirken konnte. Und selbst war ich noch gar nicht in der Lage, mir Gedanken zu machen, ob es für uns einen Ausweg gab. Die Gefühle waren einfach noch zu frisch und zu stark. Sie verhinderten, dass ich klar denken konnte.

      Einstweilen zog mein Leben in Bildern an mir vorüber. Sie hatten allesamt etwas Wehmütiges. Ich sah Szenen aus meiner Kindheit vor mir, ging die Reisen durch, die meine Eltern mit mir gemacht hatten, die Weihnachtsfeste und Geburtstage, die wir gefeiert hatten, musste an meine erste Liebe im Gymnasium denken, einen Jungen, der leider nichts von mir wissen wollte, sah mein Kaninchen Tilda im Garten umherspringen, fühlte noch einmal, wie unbändig ich mich über Tilda gefreut hatte, dieses kuschlige, sanfte Wesen mit den roten Augen. Und selbst meine Zeit des Unterrichtens an der Augustus-Schule erschien mir jetzt nicht mehr so schlimm. In meinen Augen bissen Tränen, während ich im Geist durch die Granitflure wanderte, in mein Klassenzimmer, die Pulte mit den PCs vor mir sah, den Pausenhof. Selbst die Schüler konnte ich mir ohne negative Gefühle vorstellen, laut, lebhaft, mit Ausdrücken in allen Sprachen um sich werfend, sich im Pausenhof prügelnd. Sie waren auf einmal schön, denn sie waren lebendig. Sie waren am Leben und ich wäre es vielleicht bald nicht mehr.

      Draußen rollten dumpf Autos vorbei. Kalte Luft zog durch das aufgeklappte Fenster in mein Schlafzimmer. Mir wurde bewusst, dass ich selbst an der lärmigen, vierspurigen Straße hing, die viel zu nah vor dem Haus vorbeiführte, und an der Benzinluft. Ich verabschiedete mich in Gedanken von den Menschen, die mein Leben für einige Zeit geteilt hatten, von Nachbarn, Kollegen, Freunden, Verwandten, selbst von den Angestellten im Supermarkt nebenan, die ich jeden zweiten Tag beim Einkaufen sah. Ich verabschiedete mich von jedem Spazierweg, jedem Platz in der Innenstadt, jedem Blättchen und Grashalm im hinteren Garten. Sogar vom Treppenhaus und meiner Waschmaschine im Keller, bis mir endlich die Augen so wehtaten, dass ich noch einmal aufstehen musste, um Kamillen-Kompressen aufzulegen.

      Es war klar, ich musste möglichst schnell zum Hausarzt, um mir Schlaftabletten zu besorgen, vielleicht auch Beruhigungsmittel oder besser Tabletten, die die Stimmung hoben. Diese Mittel bekam man viel leichter als früher. Es hatte Vorteile für den Staat: Die Leute blieben bei Laune und funktionierten.

      Kapitel 5

      Um weiterhin zu funktionieren, oder besser gesagt, um nicht durchzudrehen, suchte ich am nächsten Tag meinen Hausarzt Dr. Doppel auf.

      Die Sprechstundenhilfe begrüßte mich freundlich mit meinem Namen.

      Im Wartezimmer entspannte ich mich; alles schien normal, so wie immer. Es saßen dort fünf Personen. Die Sprechstundenhilfe hatte mir gleich am Empfang angekündigt, dass es etwas länger dauerte.

      Dr. Doppel war immer hilfsbereit gewesen. Hatte ich wieder mal einen Erschöpfungszustand, gab er mir Beruhigungsdrops, und wenn die nicht mehr halfen, Antidepressiva. Im letzten Schuljahr war ich mühsam wieder von den Antidepressiva heruntergekommen. Über Monate hinweg verringerte ich die Dosis geringfügig, bis ich es schaffte, ohne die Tabletten auszukommen. Das Leben war ohne sie eindeutig schwieriger, aber ich fühlte mehr, ich konnte besser denken, ich war lebendiger. Mit den Tabletten litt ich zwar weniger, denn sie wirkten wie ein Filter; sie siebten das Besorgniserregende einfach aus, es berührte mich kaum mehr. Ich fühlte mich oft ohne Grund heiter. Aber gleichzeitig stumpfte ich immer mehr ab. Ich hatte die Tabletten gebraucht, während ich unterrichtete, ich hätte es sonst einfach nicht mehr ausgehalten. Mit den Tabletten funktionierte ich. Erst in meinem letzten Schuljahr hatte ich es mir leisten können, die Drogen zurückzufahren, mit der nahen Pensionierung vor Augen. Ich war bald so weit, dass ich nicht mehr wie ein Rädchen im Getriebe funktionieren musste, ich war endlich frei.

      Doppel hatte mir über die schwersten Zeiten hinweggeholfen. Dafür war ich ihm immer dankbar gewesen. Jetzt, da ich mein Leben sozusagen von hinten, vom Ende aus betrachtete, kamen mir jedoch Zweifel, ob sein großzügiges Verschreiben in Ordnung gewesen war. Eigentlich hatte er mir nicht nur alles verschrieben, was ich wollte, er war es gewesen, der mich auf all die Beruhigungsmittel und Antidepressiva erst aufmerksam gemacht hatte. Er hatte sie mir verkauft wie Süßigkeiten. Mich dazu verführt, mein Leben mit ihnen leicht und reibungslos zu gestalten. Ungeachtet irgendwelcher Nebenwirkungen. Vielleicht hatte Doppel Anweisungen vom Gesundheitsamt, möglichst viele der Tabletten an die Patienten zu bringen? Sie brachten den Vorteil, dass man in aller Ruhe seine Arbeit erledigte, dabei nicht unzufrieden war und gegen nichts rebellierte.

      Ich schrak hoch, als Doppel im Türrahmen erschien und mich in sein Behandlungszimmer bat.

      Doppel nahm ein Papier von seinem Schreibtisch, blickte kurz darauf und sagte dann ernst: „Aha, Sie fahren zum Sterbeseminar.“ Er pausierte einen Moment. „Nach Fehmarn.“

      Ich schluckte, konnte nichts erwidern.

      Doppels Miene hellte sich auf. Er grinste mich freundlich an; automatisch entspannte ich mich. „Da haben Sie das große Los gezogen. Schöne Insel. Sie brauchen keine Angst zu haben. Dort geht es ganz locker zu. Nur Wellness.