Olivia Monti

Sterbewohl


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war sofort auf der Hut. Unter normalen Umständen hätte ich Doppel gefragt, ob er das wirklich glaubte, unterließ meine Frage aber und versuchte, ihn möglichst ausdruckslos anzublicken.

      Er lachte künstlich auf. „Die meisten haben eine völlig unsinnige Angst davor. Dabei ist es überhaupt nicht schlimm, sondern schön.“ Das Wort schön sprach er mit einer seltsam tiefen, vibrierenden Stimme. Ich bekam spontan Gänsehaut. Dann wurde er geschäftsmäßig, vielleicht um mich zu beruhigen. „Viele sind ängstlich und nervös, wenn sie zum Sterbeseminar fahren.“ Er stand auf, griff in einen Glasschrank und holte ein Päckchen heraus. „Ich empfehle da Rilax. Ein ganz leichtes Beruhigungsmittel. Es beruhigt nicht nur, sondern muntert Sie auch gleichzeitig auf.“

      Ich blickte ihn nur an und versuchte ungezwungen zu lächeln.

      „Sie können die Packung mitnehmen.“

      Wollte er sie mir schenken? Ich war verblüfft. Ich streckte meine Hand aus, nahm sie und verstaute sie in meiner Handtasche. Dann krächzte ich: „Danke.“

      Ehe ich mich’s versah, war ich wieder draußen. Die Sprechstundenhilfe wünschte mir noch viel Spaß auf Fehmarn. Auch sie wusste also, dass ich eine Sterbekandidatin war. Ich lächelte sie verzerrt an und stolperte zur Tür hinaus.

      Kapitel 6

      Vor unserer Abfahrt nach Fehmarn musste jeder von uns noch diesen Sachwalter bestimmen, der die letzten Angelegenheiten regeln sollte. Ich fand es äußerst verdächtig, dass man das jetzt schon tun musste. Das machte nur Sinn, wenn man tatsächlich nicht mehr zurückkehrte. Entschloss man sich, nach dem Seminar weiterzuleben, dann hatte man den Verwalter der letzten Dinge doch umsonst engagiert.

      Fred ermahnte mich, nicht zu viel nachzudenken. Es würde mich nur schwächen. Wir müssten alle unsere Energie auf unser gemeinsames Projekt verwenden. Er hatte ja recht. Vielleicht fiel es ihm leichter, sich auf eine einzige Sache zu konzentrieren; er war eben ein Mann. Männer konnten besser eingleisig fahren.

      Mir gingen leider eine Menge beunruhigender Dinge durch den Kopf. Alle wiesen darauf hin, dass in den Sterbehotels für uns Endstation sein würde. Da waren zum Beispiel unsere Nachbarn, ein Haus weiter, die alten Lehmanns. Sie waren beide über 80 gewesen, aber noch unglaublich gut in Form. Der alte Herr Lehmann fuhr sogar noch Fahrrad. Und sie hatten Kinder und Enkel, die sie jeden Monat besuchten. Die Enkel spielten dann im Garten, wo Herr Lehmann für sie einen Spielplatz mit Rutsche, Kletterstange und Sandkasten eingerichtet hatte. Frau Lehmann organisierte regelmäßig die Enkelgeburtstage und verwöhnte die Kleinen mit selbst gebackenem Kuchen. Herr Lehmann briet für alle Würstchen auf dem Grill. Ab und zu übernachteten die Enkel auch bei ihnen. Und die Enkel genossen es. Das war ihnen anzusehen. Die Großeltern verwöhnen einen oft mehr als die Eltern, mit ihnen ist alles unkomplizierter. Letztes Jahr erzählte mir Frau Lehmann von der Einladung ins Sterbehotel. Wir hatten uns im Supermarkt getroffen. Ich weiß noch, wie wir vor dem Kühlregal standen und uns unterhielten. Frau Lehmann schien mir unnatürlich bleich. Ich dachte damals, es sei vielleicht die LED-Beleuchtung des Kühlregals, die ihre Gesichtshaut so fahl erscheinen ließ. Als wir mit unseren Einkaufstaschen rausgingen, war sie aber im hellen Tageslicht immer noch so blass. Und ihr kamen dann auch Tränen. Ich redete auf Frau Lehmann ein, sie dürfe die Einladung zu dem Sterbeseminar nicht so ernst nehmen. Sie könne ja jederzeit mit ihrem Mann wieder nach Hause zurück. Die würden sie nicht dortbehalten. Ganz wohl war mir dabei allerdings nicht, und ich klang auch sicher nicht sehr überzeugend. Frau Lehmann beruhigte sich dennoch und erzählte daraufhin freudig von ihren Enkeln. Der Große hatte den Fahrtenschwimmer gemacht und die Kleine übersprang vielleicht eine Klasse. Frau Lehmann wurde immer fröhlicher und bestimmter. Sie würde gebraucht. Es käme nie und nimmer infrage, dass sie ihre Kinder oder ihre Enkel im Stich ließe. Sie und ihr Mann wären immer für sie da, bis zum letzten Atemzug. Zumindest noch die nächsten zehn Jahre. Das konnte sie mit Gewissheit sagen, so gut wie sie sich noch fühlten.

      Die Lehmanns waren dann abgereist. Eine Zeit lang hatte ich nicht mehr an sie gedacht. Und dann kam ich an ihrem Haus vorbei und stellte fest, dass andere Leute dort wohnten. Leute, die ich noch nie gesehen hatte. Erst zwei Tage später war ich so mutig, dort zu klingeln. Auf dem Klingelschild stand jetzt Buttic. Ich fragte die Frau, die aufmachte, nach den Lehmanns. Hinter der Frau stapelten sich im Korridor Umzugskartons. Sie und ihr Mann hatten die Wohnung von den Kindern der Lehmanns gemietet; die Frau war freundlich und mitteilsam. Die Umstände seien sehr traurig gewesen und es hätte ihr leidgetan, unter solchen Bedingungen hier einzuziehen. Die alten Lehmanns hätten sich zum Sterben entschlossen. Die beiden Kinder mussten aus einem Abschiedsbrief erfahren, dass beide Eltern nicht mehr lange zu leben hatten; sie waren schwer erkrankt und wollten gehen, bevor sie zu schwach für so eine Entscheidung wären und nur noch Schmerzen hätten. Er hatte ein Bauchspeicheldrüsenkarzinom, sie eine aggressive Leukämie. Ich schluckte und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich glaube, ich habe noch gemurmelt, sie möge den Kindern der Lehmanns mein Beileid ausrichten. Dann bin ich auf die Straße gestolpert.

      Konnte das sein? Waren die Lehmanns wirklich so krank? Wer hatte das festgestellt? Wieso hatte Frau Lehmann noch vor wenigen Wochen so heiter und gesund gewirkt? Und auch ihn hatte ich als gut gelaunt und robust in Erinnerung. Und nun waren sie auf einmal Todeskandidaten? Und dann noch beide? Hatten es ihre Kinder geglaubt? Ich blieb damals sehr verunsichert zurück. Und Annas Erklärung, es sei möglich, dass etwas so Gravierendes wie bei den Lehmanns diagnostiziert werde, solange es einem noch tadellos gehe, beruhigte mich kein bisschen.

      Kapitel 7

      Bevor ich noch einen Sachwalter für meine Angelegenheiten benennen konnte, lud mich eine Beamtin des Gesundheitsamts telefonisch zu einem Informationsgespräch ins Rathaus ein. Eigentlich war ich gerade dabei, die Adresse einer Großkusine ausfindig zu machen. Meine Eltern hatten den Kontakt zu den Verwandten nicht gepflegt und so stand ich nach ihrem Tod so da, als hätte ich gar keine Verwandten. An die Großkusine erinnerte ich mich aus meiner Kindheit. Sie war damals ein harmloses junges Mädchen gewesen, das Pharmazie studierte. Sicher war sie inzwischen Apothekerin. Ihr könnte ich vertrauen. Und ich konnte mir auch vorstellen, sie als Erbin einzusetzen.

      Die Suche nach meiner Großkusine wurde durch das amtliche Telefonat unterbrochen. Die Frau am Telefon, die sich als Frau Winter vorstellte, lud mich auf den Nachmittag vor.

      Ich empfand es nicht nur als unangenehm, dass mich die Behörde direkt anrief, statt mir zu schreiben, auch die Stimme dieser Frau Winter war mir sofort unsympathisch; sie schien keinen Widerspruch zu dulden.

      Frau Winter hatte ein Vorzimmer. Ich befürchtete schon, sie ließe mich dort mit den anderen zehn dort sitzenden Personen warten. Die Vorzimmerdame winkte mich aber gleich weiter und schob mich durch eine Tür in ein leeres Büro. Dort setzte ich mich vor einen Schreibtisch. Eine Minute später erschien Frau Winter in einem, wie ich fand, unpassenden schwarzen Kostüm. Sie hatte straff nach hinten gekämmtes Grauhaar. Im Nacken war es zu einem Knoten gezurrt. Ihr Mund wirkte unangenehm spitz mit dem dick aufgetragenen dunkelbraunen Lippenstift.

      Zuerst stellte sie mir eine ganze Menge Fragen. Ich fühlte mich rasch verwirrt. Sie wollte alles Mögliche über meine Hobbys, meine Vorlieben, meine Freunde wissen. Gingen diese Fragen nicht zu weit? Dann schlug sie mir einen amtlichen Sachwalter vor, einen Herrn Kundo. Als ich an dessen Stelle meine Großkusine vorschlug, fragte sie mich, ob ich diese denn gut kenne. Es war mir peinlich, das zu verneinen. Erst später wunderte ich mich, woher die Winter ahnen konnte, dass ich zu meinen Verwandten keinen Kontakt mehr hatte. Da ich mich irgendwie erschlagen fühlte, willigte ich ein, Herrn Kundo als meinen Sachwalter zu akzeptieren. Damit bliebe mir die mühsame Suche nach meiner Kusine, das leidvolle Wiederanknüpfen einer Beziehung nach so vielen Jahren erspart. Auch musste ich diesen Herrn Kundo nicht treffen, ihm keine Unterlagen aushändigen und nicht meinen Wohnungsschlüssel übergeben, wie ich eine Sekunde lang befürchtet hatte. Ich war also in dem Moment gar nicht so unzufrieden, wie die Dinge liefen. Dann aber machte Frau Winter einen Vorschlag, der mich zutiefst verstörte. Sie zog aus einer Schublade ihres Schreibtischs ein Papier und legte es mir zur Unterschrift vor: Ich