Olivia Monti

Sterbewohl


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schwiegen. Es war ein unbequemes Schweigen. Ein Erschrecken und Verdachtschöpfen lag darin.

      Max fuhr unbeirrt fort. „Mein Cousin bekommt von den Hinterbliebenen meist die Geschichte der Verstorbenen zu hören. Und bei den Arbeitslosen ist die Selbstmordrate sprungartig angestiegen. Schon seit Jahren.“

      „Und was soll das nun heißen?“, fragte Anna verunsichert.

      „Man hat sie so lange drangsaliert, bis sie sich das Leben genommen haben. Und ich spreche jetzt nicht nur von den Behörden. In den letzten Jahren ist doch unsere gesamte Gesellschaft darauf getrimmt worden, Arbeitslose zu verachten. Fast jeder hält sie für Schmarotzer. Selbst in Fernsehserien werden sie vorgeführt.“ Max senkte den Blick, guckte auf seinem Teller herum, sah wieder auf. „Genau wie wir Alten. Du schämst dich mittlerweile, alt zu sein. Du verschweigst, dass du nicht mehr arbeitest. Denn darum geht es. Sobald du kein Geld mehr bringst, bist du ein Parasit. Du liegst der Allgemeinheit auf der Tasche. Andere müssen für dich arbeiten, damit du deine Rente bekommst oder deine Arbeitslosenunterstützung. Sie machen es wie mit Hennen, die keine Eier mehr legen, die wandern in den Suppentopf.“

      Niemand machte mehr eine Bemerkung. Wir wussten alle, so war es. Auch Anna konnte sich dem nicht entziehen. Sie verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse.

      Jedem von uns war es schon mindestens ein Mal passiert, dass uns eine wildfremde Person fragte, was wir davon hielten, rechtzeitig zu gehen, bevor wir der Gesellschaft zur Last fielen. Das konnte beim Frisör sein, da fragte einen plötzlich die Kundin, die neben einem saß, danach. Oder im Bus, da fragte einen die Sitznachbarin aus heiterem Himmel, ob man später, wenn man Rente bezog, auch ans freiwillige Sterben dachte. Dass Leute auch mal indiskrete Fragen stellten, war nichts Neues. Ich wurde etwa öfters gefragt, wie viel ich als Grundschullehrerin verdiente. Wahrscheinlich fragten mich die Leute danach, weil sie hören wollten, wie wenig ich verdiente, damit sie mit ihrem eigenen Verdienst zufriedener sein konnten. Wenn es um die Frage nach dem freiwilligen aus dem Leben Scheiden ging, hatte ich allerdings den Verdacht, der Staat bezahlte Leute, die einem diese unangenehme Frage stellten, um einen unter Druck zu setzen.

      Kapitel 12

      Je mehr wir tranken, desto lauter schimpften wir über den Staat. Bis es an Freds Tür läutete.

      Die Türglocke war schrill. Fred hatte sie auf die höchste Lautstärke gestellt, da er leicht schwerhörig war, aber noch keine Hörgeräte tragen wollte.

      Alle verstummten. Die Angst stand uns ins Gesicht geschrieben. Die einen erblassten, die anderen rissen die Augen weit auf. Nur Max’ Miene veränderte sich nicht.

      Es läutete noch einmal.

      Fred stand auf und wankte zur Eingangstür.

      Er öffnete nicht sofort.

      Es läutete ein drittes Mal. Es fuhr einem durch Mark und Bein.

      Vorsichtig guckte Fred durch den Spion, so zögerlich, als hätte er Angst, dass die Person auf der anderen Seite der Tür ihm mit einer Nadel ins Auge stechen könnte. Plötzlich zuckte er zurück und drehte sich zackig zu uns um. Auf seinem Gesicht lag ein breites Grinsen. „Nur mein Sohn.“

      Zuerst holte ich tief Luft, da ich vor Schreck ganz vergessen hatte zu atmen, erst dann wunderte ich mich, dass Fred einen Sohn hatte. Von einem Sohn hatte er uns noch nie erzählt.

      Ein großer, breitschultriger blonder Mann um die vierzig trat ein.

      Fred führte ihn zum Tisch, stellte ihn vor und wurde dabei leicht rot. „Tommy kümmert sich um meine letzten Angelegenheiten“, erklärte er uns.

      Dann nahm er seinen Sohn an der Schulter und brachte ihn nach nebenan. Wenig später hielt Tommy ein DIN-A4-Couvert in Händen und ließ sich von seinem Papa zur Wohnungstür begleiten.

      „Wir sehen uns da oben“, sagte Tommy noch zum Abschied, zeigte mit dem Finger hoch zur Decke und ging heiter grinsend.

      Fred setzte sich mit einem Räuspern wieder zu Tisch und stürzte ein Glas Wein hinunter. Er blieb stumm.

      „Warum hast du uns nichts von deinem Sohn erzählt?“, wollte Anna wissen.

      Es dauerte eine Weile, bis Fred sich durchrang, über Tommy zu sprechen. Die Sache war die, Tommy genierte sich für seinen Papa. Er hatte gleich nach der Schule jeden Kontakt zu ihm abgebrochen und Geld verdient. Wahrscheinlich hatte er die Nase voll gehabt von Freds unzähligen Projekten, die allesamt scheiterten. Und von den großen Hoffnungen, die Fred jedes Mal schürte, von seinen leeren Versprechungen, dass es jetzt endlich klappen würde und er diesmal ganz groß rauskäme. Es war ärgerlich, einen Vater wie Fred zu haben. Ein solcher Vater musste einem wie ein Betrüger vorkommen.

      Als Fred uns mitteilte, seinem Sohn wäre es egal, wenn er stirbt, tat mir Fred dann doch leid. Fred hatte seinen Sohn nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder angerufen, um ihn als Sachwalter und Erben einzusetzen. Tommys erste Frage war gewesen: „Um wie viel handelt es sich denn?“ Als Fred ihm mitteilte, er wolle nächste Woche Sterbewohl schlucken, hatte Tommy nur bemerkt: „Na, wenn du das willst.“

      „Dann hast du ihm nicht gesagt, dass wir gar nicht vorhaben zu sterben?“, wollte Marwa nun doch wissen.

      Fred errötete wieder. Es wirkte merkwürdig auf mich, einen so alten Mann erröten zu sehen, und er tat mir erneut leid.

      Fred wollte darauf nichts antworten.

      Anna brachte es auf den Punkt. „Du vertraust ihm nicht.“

      Fred verzog den Mund, ruckte auf seinem Stuhl hin und her. „Es wäre zu umständlich gewesen, ihm alles zu erklären“, brachte er schließlich hervor. Er hustete. „Wir haben nicht mehr so viel Zeit.“

      Kapitel 13

      Meine Wohnung erschien mir seltsam leer am Vorabend der Abfahrt. Ich hatte gepackt. Fast nur Sportliches und Laufschuhe. Fluchtkleidung. Die Beruhigungstabletten hatte ich natürlich auch dabei. Bisher hatte ich nur zwei davon geschluckt. Die machten einen stark benommen und man konnte nicht mehr klar denken. Man fand alles harmlos, ja sogar lächerlich. Gleichzeitig wuchs in einem ein großes Schlafbedürfnis. Es schwebten einem Betten in allen Formen und Größen vor. Kissen und Decken. Daunen und Matratzen. Sich schlafen zu legen wurde zur Sucht. Nur im äußersten Notfall wollte ich diese Pillen nehmen. Wenn ich mit den Nerven am Ende war.

      Von der Bank hatte ich Bargeld abgehoben. Nicht alles, damit es nicht auffiel. Aber mehr, als ich auf eine Reise je mitgenommen hätte. Fred hatte uns das geraten. Die Kreditkarte konnten sie einem jederzeit sperren, wenn man im Ausland war.

      Ich stellte den Koffer in die Diele und blickte mich um. Es war sehr still in meiner Wohnung. So still hatte ich meine Räume noch nie erlebt. Meine Wohnung hatte auf einmal etwas Unberührtes, wirkte, als wären gar keine Bewohner mehr da, als wäre ich schon fort. Meine Wohnung nahm womöglich vorweg, dass ich nicht mehr zurückkehrte. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Hier lauerte bereits eine tödliche Einsamkeit. Die Dinge gehörten schon niemandem mehr, waren herrenlos geworden …

      Ich drehte den Fernseher laut auf, um mich zu wehren. Es kam eine Talentshow. Ein Mädchen sang poppig. Die Stimme füllte bald, wie helles Licht, meine Wohnung bis in alle Winkel und das Gespenstische verschwand.

      Kapitel 14

      Am 20. April um zehn Uhr morgens kam pünktlich der Kleinbus, um uns abzuholen. Es war ein Bus mit sechs Plätzen, außer uns vier kamen aber keine weiteren Reisenden dazu.

      Der Fahrer war bester Laune und bot uns gleich Sekt aus dem Bordkühlschrank an, nachdem er unsere Koffer verstaut hatte.

      Anna saß entspannt neben mir. Sie machte es sich bequem. Ich fühlte mich noch nicht sehr locker. Ich wollte zwar glauben, dass wir jederzeit das Hotel wieder verlassen konnten, um notfalls auch die