Barbara E. Euler

Raphaels Rückkehr


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Italienisch?“, fragte Fanny kauend, als sie wenig später über ihren Kartons saßen. „Nein.“ Raphael quetschte sich das letzte Stück Familienpizza in den Mund. „Nicht mehr …“. Seine Ex war Italienerin. Sizilianerin. Sie waren verdammte zwei Jahre zusammen gewesen.

      „Isst du das noch?“, fragte er ein bisschen zu forsch.

      Fanny schüttelte den Kopf und schob ihm ihren Karton rüber. „Sie warten da oben auf dich“, sagte sie vorsichtig. „Du hast sehr intensiv recherchiert.“ Raphael nahm das frische Pflaster, das sie für ihn aus ihrer Handtasche hervorgekramt hatte, und spülte den Rest Pizza mit kaltem Kaffee runter. „Du hast sehr intensiv recherchiert“, berichtigte er.

      Sie hielt den Finger auf die Lippen. „Schsch. Du gehst jetzt besser. Und wechsel dein Pflaster. Ciao!

      „Bist du weiter gekommen?“, fragte Anna ohne Spott. Raphael stoppte und sah die Kollegin an. „Die alte Akte, Brabantia. Sieht aus, als hätte die Van… als wäre da dran …“ Er verstummte. Idiot. Einen Augenblick lang hatte er darauf vertraut, dass sie auf seiner Seite wäre. „Sieht gut aus“ haspelte er und floh an seinen Schreibtisch, wo er sich in seine Mails vertiefte. Agenturmeldungen. Die Einsätze der letzten Stunden – einmal Fahrerflucht, dreimal Taschendiebstahl und ein brennender Papierkorb. Personalwechsel im Revier Brügge Zentrum. Und ein Rundschreiben zur Arbeitssicherheit. „… Bitte tragen Sie ab sofort nur noch die neuen Sicherheitsschuhe.“

      „Ich muss noch mal weg“, sagte Raphael und zog mit den Zähnen eine Belga aus der Schachtel.

      Kapitel 4

      Das Wasser des Ringkanals glitzerte in der hoch stehenden Sommersonne. Am anderen Ufer rauschten die Autos vorbei. Plaudernde Schüler auf kunstblumengeschmückten Nostalgierädern überholten Raphael, als er langsam an den ehemaligen Ladekais entlangrollte. Raphael sog den warmen, brackigen Geruch des Wassers ein. Wie oft hatte er als Junge hier gestanden, an den langen Augustnachmittagen, wenn keine Schule war und auch sonst nichts zu tun, und hatte zugesehen, wie Sand in die schwarzen Tiefen der Transportkähne rauschte, unendlich viel Sand. Wie die tief liegenden Schiffe endlich loszogen, behäbig und stolz, Richtung Ostende. Er war ein paarmal in Ostende gewesen damals, bei Tante Miriam. Schokoladen-Babka mit Streuseln. Verdammt lang her.

      Eine Glocke schellte schrill, als die Krakelebrücke sich öffnete. Eine Traube von Radfahrern bildete sich vor der Schranke. Dahinter die Autos. Träge näherte sich ein Lastkahn, fuhr an der gedrehten Brücke vorbei Richtung Schleuse. Von hier aus konnte man die Schleuse nicht sehen. Schon klingelte die nächste Brücke. Die Warandebrücke. Behäbig würde sie sich auf ihrem Pfosten drehen wie eine stumpfe, breite Kompassnadel, die keine Eile hat, den Norden zu finden. Auch die Dampoortbrücke, direkt bei der Schleuse, würde bald klingeln. Würde hochklappen, himmelhoch. Anthrazit gegen Meerblau. Dann würden sich die Schleusentore schließen, langsam, wie unter Anstrengung, gegen die ungeheuren Wassermassen des Kanals. Die Wasser würden hereinströmen und das Schiff heben, bis sich endlich das Schleusentor zur anderen Seite und die Brücke öffnen und das Schiff freigeben würden. Und endlich würden die Brücken sich schließen, die Schranken sich öffnen und die Fahrradfahrer würden losbrechen wie ein Bienenschwarm, und dann würden auch die Autos ihren Weg fortsetzen. Raphael lächelte. Der Rhythmus der Stadt. Ihr Atem.

      Wie oft hatte er als kleiner Junge an der Schleuse gestanden und geschaut. Die stolzen Schifferfrauen, die die endlos langen Kähne spielerisch durch die schmalen Tore lenkten. Ihre ruppigen Männer, die schwere Taue warfen und mit dem Schleusenwärter scherzten. Ein Auto, festgezurrt oben an Deck. Wäsche und Wimpel im Wind. Ein kleiner Hund. Und Kinder. Manchmal hatte er sie an Deck spielen sehen, eingewoben in eine sichere Welt aus hohen Netzen. Manchmal hatte er ihnen zugewinkt. Manchmal hätte er mitfahren wollen.

      Die Krakelebrücke schloss sich wieder, grell läutend. Radfahrer quollen über den Asphalt; Autos folgten ihnen und brachten den Brückenstahl zum Poltern. Raphael holte tief Atem. Jetzt war alles anders. War das Warten lästig. Auch ihm.

      Er besah das Boot, vor dem er stehen geblieben war. In der Ferne läutete die Dampoortbrücke. Der Name ‚Brabantia‘ war ein bisschen verwaschen. Leute schauten von der Terrasse über dem ehemaligen Laderaum auf ihn herab. Gesichter aller Formen und Farben.

      Nussbaum, Kirsche, Ebenholz, dachte er. Er hatte mal Schreiner gelernt; wo er herkam, waren Polizisten verpönt. Zwei Typen bauten sich am Eingang auf. Raphael hielt seinen Ausweis hoch und begehrte Einlass. Er las ihre Blicke, als einen Moment lang die Maske fiel: Ärger. Dann Empörung – für sie war wohl ein halber Bulle gerade gut genug. Angst auch. Kein Mitleid, immerhin. Dann schlossen sie wieder ihre Visiere. Er konnte förmlich das feindselige Klicken hören. Trotzdem musste er da hinein. Das war sein Job. Wenn er sich jetzt zierte, würden sie ihm nie vertrauen.

      Er musste nur noch an Bord kommen.

      Raphael kniff die Augen zusammen und besah die schmale Gangway. Mit Schwung und auf zwei Rädern könnte es gehen. Aber dann dachte er an die Puppenstubenarchitektur, die ihn auf dem Boot erwarten würde, und verwarf es wieder. Er konnte auch auf den Händen gehen, ziemlich gut sogar. Aber das hier war keine Freakshow.

      Ergeben hob Raphael die Arme.

      Er sah, wie die Typen auf den Teppich aus Tattoos starrten, der sich auf seinen Muskeln blähte. Als er das erste hatte stechen lassen, hatte sein Großvater ihn geschlagen. Niemals wieder, hatte der alte Mann geschrien und ihm das seine hingehalten, blasse Ziffern auf runzliger Haut. Es hatte wie eine Telefonnummer ausgesehen. Wenig später war er gestorben.

      Raphael legte seine Arme um die zwei starken, dunklen Nacken, die sich zu ihm beugten, und ließ sich hochnehmen. Er wog immer noch weit über einen Zentner, aber sie balancierten ihn mühelos über die Planke.

      Sie setzten ihn auf bunte Kissen, zu anderen, die ihn stumm beäugten. Er versuchte gleichgültig dreinzuschauen, während sein Herz wie eine Bassdrum schlug. Jetzt war er wirklich ein halber Mann. Aktionsradius Null. Oder so gut wie. Vorsichtig zog er die Hand zurück, die instinktiv an die Hüfte gefahren war. Er trug keine Waffe mehr. Er war ja kein Selbstmörder. Als er ein paarmal tief durchgeatmet hatte, bekam er die Gewalt über sich zurück.

      Er scannte die dunklen Gesichter.

      Es stimmte nicht, dass sie alle gleich aussahen. Nicht, wenn man verdammte zwei Jahre lang Gemüse unter hegenden Händen gewesen war, zu denen meist Gesichter wie diese gehört hatten.

      Er zwang sich, zu lächeln.

      Er machte Smalltalk. Die afrikanische Art. Er wusste noch, wie das ging. Mein Name ist Raphael. Und deiner? Wie geht es dir? Danke. Gut. Ja, meiner Frau auch. Nur gute Nachrichten, Bruder. Und deine Familie? Alles gut? Er sprach langsam. Englisch. Französisch. Kramte nach den Brocken Kisuaheli, die er damals gekonnt hatte. Sijambo. Es geht mir gut.

      Raphael unterdrückte ein Seufzen. Damals. Es war alles noch wie damals. Als es angefangen hatte mit den Flüchtlingen. Dieselbe Fremdheit. Nicht zu wissen, ob sie etwas verstanden hatten. Etwas verstehen wollten. Er fuhr fort, zu lächeln.

      Ein Tablett erschien vor seiner Nase „Do you want some tea?“ Er hasste Tee. „Sure. Thanks a lot.“ Die Leute waren schwer einzuschätzen. Und sie kamen und gingen. Er wusste nicht mal, wie viele sie waren. Sie ließen ihn keinen Überblick gewinnen. Er unternahm nichts dagegen. Wie auch?

      Raphael trank von dem Tee, der seltsam schmeckte, und lächelte weiter. Er war ein sicherer Schwimmer, aber er wollte es nicht beweisen müssen.

      Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht. Er dachte an den Rollstuhl, den jemand mit einem Fahrradschloss ans Geländer gekettet hatte. Jemand, der den Schlüssel eingesteckt hatte. Er hätte den Kollegen Bescheid sagen sollen. Aber vielleicht hatten sie inzwischen das Kleingedruckte entdeckt. Jetzt war es sowieso zu spät, darüber nachzudenken. Raphael rückte sich zurecht. Er musste jetzt mal auf den Punkt kommen.

      „Wer