Barbara E. Euler

Raphaels Rückkehr


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irgendwo in den Weiten seiner riesigen Bikerjacke verborgen gehalten hatte. „Halt mal“, sagte er. Anna nahm die Flasche mit spitzen Fingern und beobachtete, wie Raphael ans Geländer vorrollte. Alkoholgeruch drang an ihre Nase. Calvados. Darum hatte er vorhin draußen mit der Flasche hantiert. Und sie hatte nichts bemerkt. „Cooler Trick“, gluckste sie.

      Raphael nahm ihr die Flasche wieder ab. „Hättest du auch machen sollen“, sagte er, als sie unkontrolliert zu kichern begann. „Sechzig Euro …“, betrübt kippte er seinen Apfelbrand in die Reie. Zwölf Euro das Glas. Bei Bertrand Bastard gab es nichts aufs Haus.

      Anna bekam einen Schluckauf. „Warum hast du mir nichts gesagt?“, fragte sie zwischen zwei Hicksen. „Man hat uns beobachtet“, informierte sie der Kollege. Anna runzelte die Stirn. „Und jetzt nicht, wie?“ Raphael fuhr sich über das Gesicht. „Nein.“

      Er starrte in das dunkle Wasser, während Annas Schluckauf langsam verebbte. Die Sache mit der Flasche war ihm verdammt spät eingefallen. Früher hatte er so etwas besser vorbereitet. Früher war er nicht so nervös gewesen. Früher hatte er ein anderes Auftreten gehabt.

      Das Taxi kam. „Du siehst Gespenster“, sagte Anna sanft und half Raphael mit dem Rollstuhl.

      Kapitel 2

      Was für ein bemerkenswerter Abend das gewesen war. Er hatte die halbe Nacht darüber wach gelegen. „Morgen …“, sagte Raphael rau und blinzelte. „Morgen …“, röchelte es zurück. Raphael grinste. An ihrer Stimme hätte er Anna heute nicht erkannt.

      Als Piet nach ihrem Bericht fragte, fassten sie sich kurz. Viel Interesse schien der Chef ohnehin nicht dafür aufzubringen. Raphael grinste Anna zu. Take it easy.

      Im viel zu grellen Morgenlicht pirschte er sich an die Tafel heran und nahm einen Stift aus der Rinne. Unwirsch schob er den Gedanken an Fannys Kaffee weg. Später vielleicht.

      „Kannst du die weiter oben hintun?“, bat er Jan, der Fotos auf der Tafel verteilte. Schulterzuckend räumte der Kollege das Feld. „Neue Erkenntnisse, was?“ Selten hatte jemand so belustigt geklungen. Raphael schwieg und zeichnete. Jede angemessene Antwort wäre eine Ordnungswidrigkeit gewesen. Mindestens.

      Konzentriert entwirrte er das Knäuel aus vagen Erkenntnissen und drängenden Fragen. Er hatte geblufft, als Fanny ihm verraten hatte, wer sich vor kurzem so auffällig für die Akte Brabantia interessiert hatte. Der Name hatte ihm nichts gesagt. Gar nichts. Raphael hatte seine ganze Schauspielkunst bemühen müssen, um nicht wie der Idiot zu wirken, als der er sich in diesem Moment gefühlt hatte. Fanny hatte den Namen ausgesprochen, als kennte ein jeder diese Person. Jeder in diesem schnieken, blitzsauberen Glaspalast, dessen Errichtung Raphael vor drei Jahren noch mitverfolgt hatte, ehe der Lkw ihn aus dem Leben löschte; dem Leben, das er gekannt hatte.

      In diesem neuen Leben war er ein Fremder, immer noch.

      „Der Sternekoch. Du beschuldigst den Sternekoch?“ Annas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Warum nicht, verdammt?“, ärgerlich wandte er sich wieder seiner Skizze zu. Er hatte schnell rausgekriegt, wer die Akte geholt hatte, natürlich. Als Hauptinspektor hatte er Zugang zu Informationen über jeden verdammten Kollegen in dieser geschleckten Bude, in der das einzig Kaputte außer ihm selber ein Kaffeeautomat war. Plötzlich musste er lachen. Er lachte, bis ihm die Tränen kamen. Anna reichte ihm ein Papiertaschentuch. Er schnäuzte sich und versuchte die Blicke zu ignorieren, die auf ihm lagen. „Es war nur ein Witz …“, sagte Anna erleichtert.

      „Ein Witz?“ Plötzlich begriff er. „Nein, verdammt. Wieso?“ Anna schaute grimmig. „Weil du nicht einfach Dovenhofs Lieblingsfranzosen zum Mordverdächtigen erklären kannst. Es gibt überhaupt keinen Mord!“ Sie mahlte mit dem Kiefer. „Kopfweh?“, fragte Raphael. Anna schüttelte den Kopf. „Nein. Ja. Doch ... Das ist es nicht …“ Raphael lächelte ihr zu. „Dolorin? Tramorol? Hydrexan? Neuropentin?“, er fischte eine Handvoll Schachteln aus seiner Tasche. Anna schluckte. Er hatte mal was von Phantomschmerzen gesagt. Es hatte beiläufig geklungen. Verdammt beiläufig. „Danke … nicht nötig …“, stotterte sie. Achselzuckend steckte Raphael die Schachteln wieder weg.

      Laila Yorinde Vandamme. Abteilung Dokumente. Hauptkommissarin. Die Frau mit dem Mata-Hari-Namen, die sich die Akte Brabantia geschnappt hatte, war ein ganz hohes Tier. Niemand, bei dem er einfach so reinschneien konnte, so: Hey, Laila, Süße, woher das plötzliche Interesse an diesem alten Kram? No way.

      Abteilung Dokumente … Sie befassten sich dort mit gefälschten Papieren. Nach ein paar Bierchen wurde gerne behauptet, sie fälschten selber. Alles, was man so brauchte. Was sich gut verkaufte. Alles. Und alles in Top-Qualität. Natürlich. Sie waren Profis.

      Laila Schätzchen. Wir müssen reden.

      Aber erst das Machbare. Fanny. Zu den klaffenden Lücken in seiner Grafik gehörte auch der Fahrer des verdammten Lkw. Die Akten meldeten einen Namen. Nichts weiter.

      Ronny Verstraeten. Das jungenhafte Gesicht hinter der Windschutzscheibe war das letzte, was Raphael gesehen hatte, ehe der Zwanzigtonner ihn zu Brei zerquetscht hatte. Raphael würgte, als der Film wieder in ihm losbrach. Die angstvoll aufgerissenen Augen. Das Geheul der Bremsen. Der brandige Geruch gequälter Reifen auf Asphalt. Und dann das Geräusch, das seine Knochen gemacht hatten. Er schloss die Augen und überließ sich dem Beben seines Körpers. Es würde vorbeigehen. Es war immer vorbeigegangen.

      Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder, schweißgebadet. Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Vielleicht waren sie auch nur gleichgültig. Oder angewidert. Schweigend verließ er den Raum.

      Das Wasser am Waschbecken der Behindertentoilette war lau und blieb es. Er hielt die Handgelenke unter den pisswarmen Strahl, zwei Minuten, drei. Er wusch sein Gesicht. Wann würde das endlich aufhören. Es war verdammte drei Jahre her. Erschöpft grub er nach dem frischen T-Shirt in seiner Tasche und zog sich um. Aus dem Spiegel sah ihn ein käsiges Gesicht an. Dieses verdammte Licht. Er atmete tief durch und öffnete die Tür. Niemand kam. Er war froh darüber und auch nicht.

      Als Raphael an den Waschbecken im Vorraum vorbeirollte, warf er instinktiv einen letzten Blick in die Spiegel, aber er sah nur die kahle, weiße Decke darin. Vielleicht war es besser so.

      Jetzt konnte er einen Kaffee gebrauchen. Einen guten, heißen, starken Kaffee. Fannys Kaffee.

      Wie siehst du denn aus?, sagten Fannys Augen. Ihr Mund sagte was anderes. „Danke, gut“, antwortete Raphael rau. Seine Augen sagten auch was anderes. Fanny stellte ihm eine dampfende Tasse auf den Schreibtisch. Raphael zögerte. Eben hatten seine zitternden Hände kaum den Liftknopf getroffen. Er nahm die Tasse trotzdem, vorsichtig. Fanny lächelte. „Und?“, fragte sie, als er ein paar Schlucke getrunken hatte. „Der Fahrer. Von dem Lkw. Da muss es doch was geben“, wisperte Raphael durch den Dampf.

      Fanny nickte heftig. „Ein ganz junger Kerl. Grade mal 22. Verurteilt als Schleuser mit mehrfacher Tötungsabsicht. Drei Jahre und acht Monate. Sitzt hier in Brügge ein“, schnaubte sie. Sie hatte ein gutes Gedächtnis. Und ziemlich viel Gefühl.

      „Kennst du ihn?“, fragte er instinktiv.

      „Muss man jemanden kennen, um Mitgefühl zu haben?“, fuhr sie ihn an. Ja. Ja. Ja, dachte er. Muss man. Wie sonst sollten sie diesen Job machen können? „Jeder kann Mitgefühl brauchen“, sagte er versöhnlich. Sie war eine nette Person und noch ziemlich neu hier.

      Als er ins Büro zurückkam, legte Piet ihm die Hand auf die Schulter. Raphael nahm den Zorn aus seinem Blick, ehe er zu seinem Chef hochsah. Behutsam löste er die warmen Finger von seinem Körper. Nur Hunde berührte man so, aber Piet lernte es nicht. „Ja?“, sagte Raphael sanft.

      Piet räusperte sich und legte eine Mappe vor ihn hin. „Es war Mord.“

      Raphael riss artig die Augen auf. „Nein - - - Wirklich?“, sagte er in den Kreis stummer Kollegen, der ihn plötzlich umstand und