Barbara E. Euler

Raphaels Rückkehr


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Raphael ihr mit den seinen. Anna fasste sich. „Was ist passiert?“, fragte sie nüchtern.

      „Isch-öre eine laute … wie sagt man … Krach. Dann plötzlisch alles ist still …“, flüsterte der Wallone atemlos. „Isch gehe nachsehe …“

      „Sie haben den Unfall nicht beobachtet?“, vergewisserte Anna sich. Raphael hustete. Früher hatte er sie unter dem Tisch getreten. Sie würde nie kapieren, warum man so etwas Verhör nannte.

      Anna nickte entschuldigend und ließ den Mann reden.

      „Gesehen? … oh, non, non, mon Dieu … Isch wäre in Ohnmacht gefallen … Diejarme Mann …“, er machte eine Pause, um die Kehle zu befeuchten. Anna prostete ihm aufmunternd zu.

      „Er da liegt und bewegt nischt“, berichtete Bertrand beflissen. „Isch sage allo? allo? und er sprischt nischt. Isch ihn anfasse und er ganz kalt …“

      „Kalt?“, sagte Raphael streng. Alles hatte seine Grenzen.

      „Isch meine er ganz-eiß … warm … Wie sagt man … lau …“, er hob die Schultern. „Diejarme Mann …“, wiederholte er matt und verfiel in Schweigen. Anna lächelte, eisig jetzt. Der verarscht uns, sagte ihr Blick. Raphael grinste zurück. Das können wir besser.

      „Galena“, sagte er schlicht.

      Annas Fuß rumste gegen seinen Rollstuhl. Idiot, funkelten ihre Augen. So kühl war sie gar nicht. Raphael grinste und hob sein Glas. Sorry ...

      Anna nickte zufrieden und stippte ihr Löffelchen in die Reste des Desserts. „Das schmeckt genau wie früher … als ich ein kleines Mädchen war …“, schwärmte sie und leckte Pudding aus dem Mundwinkel. „Auch die Béarnaise … und das Püree … wie bei meiner Mutter …“ Raphael seufzte. Er wünschte, er könnte nur einmal derart höflich sein. Bertrand lächelte breit. „Sie sind eine Kennerin, Madame!“ Annas Löffelchen tauchte wieder in den Pudding. „Merci … merci, monsieur“, maunzte sie hingebungsvoll. Sie war jetzt richtig in Fahrt. Und ganz ohne Treten. „Es-at noch nie jemand so schön gesagt“, seufzte der Koch. „Viele Gäste verstehe nischt meine concept …“, er nahm noch einen Schluck. „Sie glauben wirklisch, isch verwende diese … wie sagt man …“, er senkte die Stimme, „Convenience“, tuschelte er, als handle es sich um ein Produkt aus dem Sexshop. Anna nickte verständnisvoll.

      „Man merkt wirklich keinen Unterschied“, bemerkte Raphael trocken. Sein Glas war schon wieder leer. Und rumms!, bekam er die Quittung. Bloß weil er sich nicht wehren konnte. Er sollte jetzt wütend sein. Aber eigentlich fand er alles ziemlich lustig.

      Bertrand war mit Nachschenken beschäftigt. In seinem Zustand eine Aufgabe, die ihn vollkommen beanspruchte. „Sehr schwer …“, sagte er erschöpft und ließ die Flasche auf den Tisch sinken, „… es war sehr schwer, diese Geschmack zu … äh … entwickeln …“ Raphael presste die Lippen an das Glas, um nicht laut loszuprusten. „Bestimmt, monsieur“, bestätigte Anna ernst. Raphael gab es auf. Er rollte Richtung Küche, während er vergebens versuchte, seinen Lachanfall mit einer Serviette zu ersticken. „Der Calvados …“, murmelte Anna hinter ihm her. Es klang ehrlich besorgt.

      Bertrand schien sein Abgang nicht zu stören. Während Raphael suchend zwischen Herdblock und Regalen herumkurvte, hörte er den Wallonen weiterwinseln. „Es ist eine neue Linie. Eine Re-vo-lu-tion … Ehrlisch … Aber die Gäste … sie sind sooo dumm. Mon Dieu … Sie-aben misch verlassen … sie sind mir untreu …“, jetzt weinte er beinahe. In der Tat war das Lokal den ganzen Abend verdammt leer gewesen. Gourmetfix und Topfi waren nicht jedermanns Sache.

      „Monsieur … monsieur …“, Anna klang, als säße sie schon auf seinem Schoß. Besser, er sah mal nach ihr. Er rollte zum Kücheneingang zurück. Fertigpackungen hatte er keine entdecken können. Natürlich nicht.

      Und keine Menschenseele.

      „Es ist nach Mitternacht. Isch bin keine Unmensch!“, rief Le chef entrüstet, als Raphael ihn darauf ansprach. Anna nickte artig. Wider Erwarten hatte sie kein bisschen derangiert gewirkt. Die Polizisten blickten einander an. Genug für heute. Sie hatten Bertrand ganz schön durcheinandergebracht.

      „Dovenhof ist auch keine Unmensch“, sagte der Koch plötzlich in die Stille hinein.

      Raphael verharrte in der Küchentür und hielt den Atem an.

      Bertrand musterte ihn durchdringend. „Sie glauben, er ist auf die falsche Seite …“ Raphael atmete langsam aus. Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit. „Wenn etwas nischt funktioniert mit die Asylante, es nischt ist seine Schuld“, sagte der Koch konzentriert. Auf einmal wirkte er ziemlich nüchtern. „Sie nischt müsse glaube, wenn jemand sagt anders. Dovenhof … er tut für die Leute, was er kann. Er ist eine gute Poliziste. Er schützt sie …“

      Raphael dachte an den Hilfskoch, das schmale, graue Gesicht, den mageren Körper unter dem fahlen Tuch. Die klaffende Wunde am Hinterkopf. Den Toten in der Leichenhalle des St.-Jans-Krankenhauses zu besuchen, war das erste, was Raphael getan hatte, als man ihm den Fall übertrug. „Wo?“, blaffte er und machte die Bremsen los, „Wo ist es passiert?“ Anna schwieg.

      Bertrands Hände zitterten, als er in der Küche auf irgendeine Metallkante wies. Raphael fuhr mit den Fingern über die Stelle. Besah den Boden. Es konnte hier passiert sein. Oder auch nicht. Die Sache war kaum dokumentiert. Sie hatten alle Hände voll zu tun gehabt, den Mann ins Krankenhaus zu schaffen. Als der Notarzt gekommen war, hatte der Afrikaner noch gelebt. „Danke“, sagte Raphael mühsam beherrscht und rollte an den Tisch zurück.

      Jetzt hatte Bertrand ihn ganz schön durcheinandergebracht.

      „Sie haben uns sehr geholfen!“ Annas Stimme klang angestrengt. „Die Rechnung, bitte“, sagte Raphael, nur der Form halber. Mit Bestechung wollten sie nichts zu tun haben.

      Es verschlug ihm die Sprache, als die Rechnung tatsächlich kam. Le chef wollte auch nichts mit Bestechung zu tun haben. Raphael starrte auf das Büttenpapier. Sicher nicht bei diesen Summen. Eins zu null für dich, Bertrand Bastard, dachte er und zog seine EC-Karte raus. Verdammt, er würde wieder überziehen. Er machte sein Gesicht locker und lächelte.

      Flor Bertrand war das jüngste von sieben Kindern eines wallonischen Bergmannes. Alles Söhne. Mit dem Zeitpunkt seiner Geburt hatte seine Mutter, die einen Gemischtwarenladen betrieb, die Hoffnung auf eine Tochter endgültig begraben. Fortan arbeitete sie härter und reduzierte das Interesse an Mann und Kindern weiter, soweit das überhaupt noch möglich war. Flor aber war zutraulich oder gab sich so, und ging der Mutter gerne zur Hand. Bald bot er kleine selbstgemachte Speisen an, die den Laden zum Hit machten. Suppe, Bratkartoffeln, sowas. Sonntags lungerte er herum wie er’s seinen Vater tun sah. Manchmal schlug er zu wie der Vater es tat. Meistens war er nett. Er machte sich viele Freunde, vor allem, wenn er gratis Schnaps und Schinkenbaguette über den Tresen reichte. Die Mutter verließ sich auf ihn. Es war der einfachste Weg. Irgendwann hatte er das erste eigene Lokal. Irgendwann kam der erste Stern. Seit einem Jahr war Flor Bertrand jetzt in Brügge. Der Bergmannssohn spielte seine Rolle zwischen den Reichen und Schönen gut. Bei ihm gesehen zu werden, war der Ausweis, dass man es geschafft hatte. Das Essen war Nebensache. Hauptsache, es kostete mehr als die normale Börse hergab. Dann war es gut. Flor Bertrand hatte das lange Zeit nicht glauben mögen. Als die Erkenntnis zu kommen drohte, brachte er nicht den Mumm auf, wegzugehen und anderswo neu anzufangen. Er hatte so hart dafür gearbeitet. Er blieb, wo Ruhm und Ehre und Geld waren, und tröstete sich, wie er’s den Vater hatte tun sehen. Mit Alkohol. Das war der Anfang vom Ende.

      Das alles ahnte Raphael mehr als dass er es wusste, aus dem, was er gehört und gelesen hatte und aus dem, was er jetzt sah. Niemand wusste es wirklich. Niemand wollte es so genau wissen.

      Raphael schon.

      Er kannte das Gefühl, wenn man nirgendwo hingehört und etwas will und kann nicht. Flor war ihm sympathisch,