Barbara E. Euler

Raphaels Rückkehr


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war die Sache mit dem Lkw passiert.

       Zu fünft hatten sie versucht, den Lkw zu stoppen, aber Raphael war es gewesen, dem es schließlich gelang. Als sie ihn fanden, lag er unter seiner Harley. Die Harley lag unter dem umgekippten Zwanzigtonner. Selbst der Notarzt hielt Raphael für tot. Den Flüchtlingen in dem verschweißten Container war nicht viel passiert. Ein paar Knochenbrüche. Ein paar Platzwunden. Ein, zwei Stunden später, und sie wären alle erstickt. Als Raphael schließlich über den Unfall zu recherchieren begann, meldeten die Verlagsseiten die Zeitungsberichte unisono als veraltet und nicht mehr abrufbar. Sie hatten alles gelöscht. Da hatte er geweint, das erste Mal in der ganzen Zeit.

      „Raphael?“ Anna stand vor ihm. „Alles okay?“

      „Alles okay, Anna“, bestätigte er kühl.

      Quotenkrüppel, hatte Dovenhof gesagt, als Raphael in der Besprechungspause vom Klo kam und ein bisschen zu leise und zu flott hereingerollt war. Dovenhof musste es ja wissen. Als Polizist war der Mann eine Niete. Aber er hatte mehr Dreck am Stecken, als an einen Stecken passte, hatte Fanny, die Kellerfrau, gesagt und ihm bei einem Tässchen Kaffee die ein oder andere Akte aus ihrem Giftschrank gezeigt. Dovenhof hatte sich nicht geändert, nicht in all den Jahren. Im Gegenteil. Wenn man ihn jetzt schasste, würde er eine Menge Leute mit in den Abgrund ziehen. Raphael grinste.

      Ihn nicht.

      Zu seiner Zeit war Dovenhof nur ein dreckiger kleiner Bulle gewesen, den er, wo er konnte, mied. Als Dovenhofs kometenhafter Aufstieg begann, hatte Raphael bereits ausgecheckt. Außerdem war er in der Wiedereingliederungsphase. Plötzlich fühlte er sich unverwundbar. Und das war eine durchaus denkwürdige Erfahrung.

      An den Feierabenden war er allein. Normalerweise jedenfalls.

      Bei Dovenhofs Lieblingsfranzosen war ein Hilfskoch unglücklich gestürzt. Tot. Ein Unfall. Reine Routine. Sie hatten die Sache Raphael gegeben, weil sie dem Amt Integrationsbemühungen vorweisen mussten und weil der Hilfskoch ein ehemaliger Flüchtling war. Aus dem Container. Der auf der Harley gelegen hatte. Die auf Raphael gelegen hatte. Die Aktenlage war dünn, aber nicht dünn genug. „Nein!“, hatte Raphael gesagt. Und dann: „Wo?“

      Er war selten in der Altstadt unterwegs. Das verdammte Kopfsteinpflaster rüttelte ihm das Kreuz durch und er bekam Panikanfälle, wenn er zwischen die Horden Selfies schießender Touristen geriet. Neulich war ihm eine Japanerin in den Schoß gefallen. Schoß war ein großes Wort dafür. Zu groß. Sie hatte geschrien. Er hatte geschrien. Es hatte verdammt weh getan.

      Aber auch als er noch ein 1,82-Mann in Cowboystiefeln gewesen war, hätte er niemals ein Lokal wie Le Coq d‘Or betreten. Zwei Sterne und fünfzehn Punkte im Gault&Millau. Nicht sein Ding. Nicht mal mit Anna. Der kühlen, schönen Anna, die an diesem Abend wie eine Klette an ihm klebte. „Keine Alleingänge“, hatte Piet gesagt. Natürlich. Ordentliche Polizisten traten immer als Duo auf, wie die Zeugen Jehovas. Aber normalerweise nahm Piet das nicht so genau. Raphael seufzte. Wenigstens hatte der Chef das Kleingedruckte nicht gelesen, das in den Unterlagen stand, mit denen das Amt ihn geliefert hatte. „Nur Innendienst“ hatte die Ärztin geschrieben. „Gefahr eines Kreislaufkollaps“. Er hatte sie angefleht, es wegzulassen, aber es war nun mal die Wahrheit. Das wusste er selbst am besten.

      Früher war er ein Beschützer gewesen. Heute war er eine Gefahr.

      Als er die rot beplüschte Schwelle am Eingang sah, war er zum ersten Mal froh, nicht alleine zu sein; oft genug musste er sich irgendwo von hinten über die blecherne Rampe eines Lieferanteneingangs reinkämpfen wie ein Guerillero. Barrierefrei war für Babys, aber er hasste die Blicke, wenn er unvermittelt aus einer Küche oder einem Lagerraum hereingeplatzt kam und nach einem freien Tisch fragte oder nach einem Oberhemd in L, wenn es ein Kleidergeschäft war. Oder, schlimmer, nach einer Hose. In L.

      „Danke, Anna“, sagte er höflich, als sie ihm über die Schwelle half, und „Danke, Anna“, als sie ihn im dezenten Schummerlicht an den zugewiesenen Tisch schob, nachdem der Ober diskret den überflüssigen Stuhl beiseite geschafft hatte. Normalerweise benutzte Raphael einen Stuhl wie alle anderen auch, aber er sagte nichts. Anna sah ihn erstaunt an.

      Raphael lächelte zurück. Er war behindert. Bedürftig. Blöd. Darum hatte er den Fall. Es war Schadensbegrenzung, die sie damit betrieben. Glaubten sie. Raphael öffnete die schwere, ledergepolsterte Speisekarte. Wer war er, ihnen ihren Glauben zu nehmen?

      „Stehen in Deiner Karte auch keine Preise?“, zischte er der kühlen Kollegin zwischen den Zähnen zu. Sie deutete ein Kopfschütteln an. Raphael biss sich auf die Lippen.

      Jemand wollte sie kaufen.

      Die Polizisten tauschten einen raschen Blick. Sie hatten das früher oft gemacht, wenn nicht die Zeit oder Gelegenheit zum Reden war. „Okay“, flüsterten sie wie aus einem Mund. Sie würden mitspielen. Einen Augenblick überlegte Raphael, ob Anna eingeweiht war, aber dafür kannte er sie zu gut.

      Vor dem Dessert erkundigte Raphael sich beim Ober nach einer Behindertentoilette, aber sie hatten keine, natürlich nicht. Die rot beplüschte Schwelle am Eingang sprach eine deutliche Sprache. Krüppel verkehrten nicht in solchen Lokalen. „Haben Sie vielleicht eine Urinflasche?“, fragte er laut. Alles hatte seinen Preis. Auch er.

      Als sie durch die bestürzte Stille nach draußen gelangt waren, zündete Raphael sich eine Zigarette an. Ein Auto fuhr vorbei. Ein Haubentaucher piepste verschlafen. „Musst du jetzt oder nicht?“, fragte Anna. Es sollte amüsiert klingen. Raphael kramte in seiner Tasche, winkte mit seiner Flasche und rollte der Form halber ein paar Meter weiter, die Zigarette im Mundwinkel. „Nicht in die Gracht …“, sagte Anna nervös und sah in die andere Richtung. Das war alles ein bisschen viel.

      Die Flasche war weg, als er zurückkam. Sie fragte nicht, was er damit gemacht hatte, ob er den Inhalt gegen die Restaurantmauer gekippt hatte oder in den Kanal, oder ob die Flasche noch voll war und ob man etwas riechen würde. Sie musste das nicht fragen. Er las alles in ihren Augen, jede Einzelheit. „Nicht in die Gracht“, wisperte er ihr verschwörerisch zu, als sie wieder am Tisch saßen.

      Beim zweiten Dessert wurde es gemütlich. Entspannt durchstöberte Anna mit Löffelchen und Gäbelchen die putzige Landschaft aus Soufflés und Parfaits und Mousses und Beeren und Bavarois, die auf einer Schieferplatte von der Größe eines Aktenordners angerichtet war. Eines aufgeklappten Aktenordners. Raphael betrachtete sie über den Rand seiner Kaffeetasse. Plötzlich sah Anna ihn an. „Galena“, hauchte sie. Er war nicht so für Süßes, aber was er von dem Löffelchen leckte, das sie ihm hinhielt, schmeckte genau wie die Puddingpulvermarke, die er schon als Kind gekannt hatte.

      Also doch. Jetzt bedauerte er, nicht durch die Küche gekommen zu sein.

      „Gourmetfix“, ergänzte er leise. Grit hatte ihm auch das Kochen beigebracht – alles, was sie darüber wusste. Anna biss sich auf die Lippen. Die Béarnaise beim Hauptgang. „Und Topfi“, sagte sie leise. Das Püree. Sie hätte sich fast verschluckt, als Raphael nickte. Jemand schenkte Schokosauce nach. Und dann kam Le chef höchstpersönlich an ihren Tisch und zog den überflüssigen Stuhl wieder heran und setzte sich.

      „Calvados?“, fragte Flor Bertrand spöttisch. Sie waren im Dienst, das wusste er genau. „Nein“, sagte Anna pflichtgetreu. „Ja“, sagte Raphael gleichzeitig. Anna starrte ihn an. Er sprach ungern darüber, aber er durfte gar nichts trinken, bei all den Medikamenten, die er nahm. „Du musst noch fahren“, sagte sie schnell. Raphael lächelte kalt. „Du fährst“, sagte er ruhig. Wenn er schon mitspielte, dann richtig. „Die Beine kannst du dran lassen“, schob er nach. Das war für Bertrand. Sie waren mit Annas Auto gekommen.

      Anna warf Raphael einen bösen Blick zu. Seine Schützengrabenwitze konnte er woanders machen. „Mir auch einen“, sagte sie entschlossen, „Wir nehmen ein Taxi.“

      Alkohol. Noch vor dem dritten Schnäpschen war klar, dass Bertrands Probleme mehr als ein Gerücht waren. „Allez buvez!“, rief er ihnen munter zu, als säßen sie auf der anderen Seite des Kanals. Dann beruhigte er sich