und sich seiner Abschiebung widersetzt, bis der Große Steuermann ihn aus dem Spiel nahm. Game over. Dabei war er fast am Ziel gewesen. Die Stelle bei Bertrand, die sie bei der Behörde irgendwie übersehen hatten, musste wie ein Sechser im Lotto für ihn gewesen sein. Und dafür hatte er nicht mal Pech in der Liebe gehabt: Die letzte Eintragung war ein Ansuchen auf die Bestätigung der Heiratsfähigkeit gewesen.
Raphael rollte an die Tafel zurück und wob eine weitere Person in sein Netz. Er nannte sie Braut. Vorläufig.
Sie störten ihn nicht mehr, aber die Blicke reichten. Raphael wollte „Dovenhof“ schreiben und ließ es. Er hieb die Kappe auf den Stift. Das mit der Tafel war ein verdammter Fehler gewesen. Wütend kritzelte er ein Blatt Papier voll. Zerknüllte es. Er wollte offen mit ihnen sein. Er musste offen mit ihnen sein. Er brauchte sie.
Alleine würde er das hier niemals schaffen.
Im Hof war es schattig und kühl. Raphael rieb Schweiß von der Stirn. Er ahnte zu viel und wusste zu wenig. Als er die dritte Belga aus der Schachtel klopfte, ließ das Zittern nach. Er würde auf das Boot gehen. Die Brabantia. Es gab sie immer noch. Sie war immer noch ein Flüchtlingsboot. Es gab andere Plätze für Asylanten, aber keinen, den jemand kurz vor seinem Unfall abgefackelt hatte. Neue Erkenntnisse, was? Heftig sog Raphael die Glut gegen den Filter, bis die Hitze seine Fingerkuppen traf. Er würde alleine gehen. Er war Hauptinspektor. Er war niemandem Rechenschaft schuldig.
In der Kantine heuchelten sie Normalität. Die Kinder. Die Schwiegermutter. Der Urlaub. Das Geld. Schweigend nahm Raphael das Tablett in Empfang, das die Bedienung ihm brachte. Es war verdammt erniedrigend, aber als an der Kasse zum zweiten Mal sein komplettes Menü zu Boden gegangen war, hatte er entschieden, dass es die bessere Option war. Es hatte einen Riesenstau gegeben und eine Riesensauerei; das ganze Haus hatte gegafft. Die Wiederholung war das Beste gewesen, sein ganz persönlicher Bonus-Track. Raphael piekte Pommes auf die Gabel, bis zum Anschlag. „Und wenn es doch Bertrand war?“, stichelte er mit vollem Mund. Bertrand Bastard, dessentwegen er bis zum nächsten Ersten mit einem halb fertigen Tattoo herumfahren würde. Wenigstens sah es keiner.
Keine.
„Das glaubst du doch nicht wirklich“, Anna tupfte Dressing von den Lippen. Sie hatten Piet von Topfi und Gourmetfix und Galena erzählt, aber er hatte sie ausgelacht. Alle beide. Einen Moment lang hatte Raphael geglaubt, dass Anna auf seiner Seite wäre. Trotzig tropfte er das zweite Tütchen Mayo über seine Pommes. „Gib mal“, sagte er und wischte die kräftigen Finger in Annas Serviette. Die Bedienung brachte ihm grundsätzlich keine.
Anna lachte. „Du hast eine schmutzige Fantasie“, sagte sie. Raphael grinste. Weibliche Logik. Aber verdammt zutreffend.
Zurück in der Intimität des Büros ließen die Kollegen ihre Hüllen fallen. Ein Mordfall. Das muss doch sehr belastend für dich sein. Raphael. Du brauchst das nicht zu machen, das weißt du, nicht wahr. Ein andermal vielleicht. Bestimmt. Aber doch nicht jetzt. Es ist zu früh. Zu viel. Zu schwer. Du bist doch - - - Du hast doch keine - - - Du weißt schon. Raphael.
Hektisch plapperten sie an ihn hin. Von mittäglicher Mattigkeit keine Spur. Sie mussten das beschlossen haben, als er im Hof rauchen war. Ein Wunder war das nicht. Jetzt war es ein erstklassiger Fall. Jetzt würden sie es gerne selber machen. Und zwar diskret. Raphael schüttelte schweigend den Kopf. Nicht mit ihm.
Der Durchsuchungsbeschluss ließ auch auf sich warten. Er musste mehr Druck machen. Er musste lauter sein. Er musste höher zielen. Er nahm den Stift und schrieb „Dovenhof“ in sein Spinnennetz.
Jetzt wurden sie noch hektischer. „Das kannst du nicht machen“, keuchte Piet. „Lass das. Bitte.“ Raphael verschränkte die muskulösen Arme vor der breiten Brust. „Nein“, sagte er hart. „Es gibt da eine Verbindung und du weißt es.“
„Du gehst zu weit, Raphael.“ Raphael registrierte den mühsam gezügelten Zorn in Piets ausdrucksloser Stimme. Gleich würde es losgehen. Er wartete, die Arme ruhig verschränkt. Piet hielt ihm einen Schwamm hin. „Mach das weg …“, blaffte er. Raphael starrte ihn an. Nur mit Hunden sprach man so. „Nein, verdammt!“ Jetzt war er laut. „Es ist mein Fall!“, schrie er. Plötzlich war ihm ganz heiß. Er war wieder zurückgekehrt, endlich. Er hatte drei verdammte Jahre gebraucht, um so weit zu sein. Er würde nicht aufgeben. Niemals.
Sie sahen, dass er zitterte, als er jetzt die Arme voneinander löste und sich schützend vor die Tafel stellte. Sie sahen, wie er nach Atem rang. Wie seine Pupillen zuckten. Der Quotenkrüppel. Piet biss sich auf die Lippen. Dovenhof hatte ja so recht. Was für ein billiges Theater. „Hör auf“, sagte er kalt.
Längst schaute das ganze Büro. „Geht wieder an die Arbeit!“, schnaubte Piet, ohne den Blick von dem Hauptinspektor zu nehmen, der ein erbärmlicher Polizist und ein noch erbärmlicherer Schauspieler war.
Raphael hatte zu stöhnen begonnen. Seine Hände suchten die Greifreifen der Räder und fanden sie nicht. Dann ging alles sehr schnell. Plötzlich sackte er zusammen. Ein, zwei Sekunden hing er schief in seinem Rollstuhl. Dann schlug er auf den glattgewienerten Boden hin, wo er leblos liegen blieb.
Anna stürzte zu ihm. „Raphael!“, sie schüttelte ihn. „Raphael?!? RAPHAEL!!!“
Kapitel 3
Langsam tastete er den Kopfverband ab. Die Kanüle an seiner Hand. Er sollte jetzt die Augen aufmachen. Später vielleicht. Schmerz rollte heran, wie Brecher auf Sand, bis der Schlaf ihn wieder aufs Meer hinaustrug.
Seit die Haie ihm vor Madagaskar beide Beine abgebissen hatten, war er der König der Piraten. Es war sein Schiff, das unter vollen tiefschwarzen Segeln durch südliche Meere schoss. Es waren seine Leute, die seine blutigen Verbände wechselten und ihm Rum und Brandy einflößten. Die letzte Schlacht war heftig gewesen. Irgendwann kam ein Boot. Piet stand darin. Er kam näher. Er sagte, wie leid es ihm tue, und richtete Grüße von Dovenhof aus. Raphael wollte ihn ins Wasser stoßen, aber dann fiel er selber rein. Was für ein beschissener Traum. Er machte die Augen auf. Da waren Blumen. Raphael fingerte nach der Karte. Die Vase fiel um. Jetzt war er wirklich nass. Er hob die durchtränkte Karte von der Bettdecke. „Gute Besserung. P. Dovenhof“. Dieser Arsch.
„Immer diese Wörter … Wann werden Sie endlich entlassen?“, fragte eine schwache Stimme. Raphael versuchte seinen massigen Körper auf den Ellenbogen zu stützen und das im Nebel tanzende Gesicht im Nachbarbett zu fokussieren. „Wie lange bin ich hier, verdammt?“
„Zu lange. Viel zu lange. Bitte hören Sie auf zu fluchen“, murmelte der Mann.
„Wie lange, ver… Wie lange?“
„Zwei Tage. Zwei Tage zu viel.“ Der Mann drückte auf den Klingelknopf. Als die Schwester kam, wies er stumm auf das überschwemmte Bett neben ihm. „Lassen Sie ihn gehen“, flehte er, als Raphael mit Hilfe eines robusten Pflegers zittrig in seinen Rollstuhl kroch, damit sein Bettzeug erneuert werden konnte. „Gute Idee“, sagte Raphael. Dann erbrach er sich. Der letzte Becher Rum war wohl zu viel gewesen.
Als er sauber gewaschen in seinem frischen Bett lag, kam er das erste Mal richtig zu sich. Zwei Tage. Seine großen Hände fuhren über den eingewebten Schriftzug in den Laken. „AZ St. Jan“. Zwei Tage, in denen er nicht an seinem Fall gearbeitet hatte. Er nicht und vermutlich auch sonst niemand. Jedenfalls nicht in seinem Sinne. Verdammt.
„Sorry“, sagte er, als der Nachbar wieder zu jammern begann, „Ich bin schon so gut wie weg!“ Ein paar Stockwerke unter ihm lag ein Toter mit einer Stichverletzung in der Lende und einer klaffenden Kopfwunde. Einem Namen, der vermutlich falsch war. Und einer Braut, die hoffentlich echt war. Er musste sie finden. Raphael versuchte sich aufzusetzen und ließ sich würgend zurücksinken. Vage erinnerte er sich an einen Arzt, der was von Gehirnerschütterung und Kreislaufzusammenbruch gesagt hatte. Und von einer Platzwunde an der Stirn. Matt drehte er den Kopf zu seinem Nachbarn. „Haben Sie eine Zigarette?“
In