Adalbert Dombrowski

Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I


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und wir bekamen ein Verbot, Edeks Hof zu betreten.

      Der Winter war in Tuchola unvergesslich. Zu Edeks Haus führte ein kurzes Gässchen hinab, das die Choinicka- mit der Kościelna-Straße verband. Wenn viel Schnee gefallen war, konnte ich auf dem Schlitten geradewegs vors Haus meines Freundes fahren. Auf der linken Straßenseite stand ein kleines erdgeschössiges Häuschen mit einem Dachfenster. Oft schauten aus diesem Fenster zwei Mädchen heraus, die jedesmal Grimassen zogen, „auf der Nase spielten" oder mir zuwinkten.

      Es war ein wunderschöner Wintertag. An den Bordsteinkanten lagen Halden des von der Straße geräumten Schnees. Ich spielte mit Freunden. Die bekannten Mädchen zeigten sich wieder im Fenster. Wir stellten uns in die Nähe und begannen Schneebälle zu machen. Dann öffneten die unverschämten Fräulein das Fenster und machten sich lustig über uns. Ihr Verhalten verstanden wir als Provokation also begannen wir Schneebälle nach ihnen zu werfen. Nachdem einige direkt in ihr Zimmer geflogen waren, schlossen die Mädchen schnell wieder das Fenster. Dies hatte ich nicht realisiert und schickte einen Schneeball direkt in die Scheibe. Das zerbrochene Glas klingelte und die Scherben prasselten auf den Schnee wie Eiskristalle. Die Mutter der Mädchen ging sich bei Oma Ludwika beschweren. Schließlich war es Winter, Krieg. Woher sollte man jetzt Geld für eine neue Scheibe haben? Ich erschrak, dass das Maß meiner Streiche voll war und die Ruthe, welche bisher nur warnend am Geschirrschrank hing, nicht mehr lediglich zur Ordnung herbei rufender Abschreckung dienen würde. Sie hatte einen sehr schönen aus Holz gedrehten Griff, an den mit Ziernägeln in lange, dünne Streifen geschnittenes Leder befestigt war. Bisweilen hörte ich nach wieder einem meiner Streiche die Ankündigung der Erwachsenen: „Oh Dychu, wenn Du das nochmal machst, lernst Du die Ruthe kennen!" Ich bemühte mich sehr, dass meine Streiche unwiederholbar waren und dank dessen verließ die Ruthe nie ihren Haken, auf dem sie hing. Oma hörte sich die Beschwerde der Mutter der Mädchen an. An ihrem Gesichtsausdruck sah man, dass sie auf mich sauer war. Irgendwas murrte sie vor sich hin. Opa Kazimierz trat an sie heran. Flüsternd vereinbarten sie etwas. Nach einem Augenblick nahm Opa ein großes Bild, welches an der Wand hing. Opa nahm das Glas heraus und ging zum Haus der geschädigten Frau, um das zerstörte Fenster zu reparieren.

      Mein Großvater war ein ruhiger, guter Mensch. Jedesmal bemühte er sich, den Schaden wiedergutzumachen, den ich verursacht hatte. Erst nach Jahren habe ich vom Edelmut und der Großzügigkeit meines Opas erfahren. Das im Jahr 1918 wiedergeborene freie Polen, welches durch 126 Jahre Besatzung zerstört war, brauchte Unterstützung. Es gab viele Polen, die zu Hilfe eilten, unter ihnen auch mein Großvater, der alle besessenen Kostbarkeiten zusammen sammelte und sie dem wieder auferstehenden Vaterland übergab, denn das Vaterland und die Polen sind eins. Oma Ludwika hingegen galt als Anführerin des Hauses. Alles musste so sein, wie sie es sagte. Immer wieder hörte ich, wie sie Opa seine misslungenen Geschäfte mit jüdischen Händlern von vor dem Krieg vorhielt, bei denen er sein ganzes Vermögen verloren hatte. Die Schulden zwangen ihn, sein Hotel und Restaurant in Margonin zu verkaufen. Damals zogen meine Großeltern um nach Tuchola. Opa tat immer so, als ob er Oma ganz demütig anhörte und ihr zustimmte, doch im Endeffekt machte er es so, wie er es für richtig hielt. Sein Lieblingstag war der Sonntag. An dem Tag kam Oma nach dem Mittagessen mit einer Schachtel Zigarren und reichte ihm eine davon. Mit einer großen Zeremonie schnitt er das Ende der Zigarre ab, zündete sie an und delektierte sich daran, während er zufrieden murrte: „Die ganze Woche muss ich darauf warten!"

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      1925 Margonin. Großvater Kazimierz Biskups Hotel

      Sonntag war auch der Tag des Kaffees. Er wurde in einer Mühle mit Schublade gemahlen und danach in einer Kanne, die mit einer großen Art Mütze bedeckt war, gekocht. Den Kaffee trank man im Speisezimmer am runden Tisch, über dem ein wunderschöner Kronleuchter mit einer Gaslampe hing. Die „Kanne im Anzug“ stand auf einem hölzernen Untersetzer mit Füßen. Die aufgewärmten Kaffeetassen des Sonntags-Service warteten schon. Nachdem der Kaffee eingeschenkt worden war, wurde die Kanne gleich wieder angekleidet. Anschließend trat Oma majestätisch an den riesengroßen Geschirrschrank heran und holte etwas Süßes zum Kaffee heraus. Woher hatte sie echten Kaffee? Und Opas Zigarren? Ich weiss es nicht. Vorstellen könnte ich mir, dass sie von Tante Iza aus Hamburg kamen.

      Winter bedeutete nicht nur Schneeballschlachten und Schlitten fahren. Die zugefrohrenen Teiche lockten. Ach, wie wunderbar es wäre, Schlittschuhe zu haben! Davon träumte ich. Doch es war Krieg und auf solch ein Weihnachtsgeschenk konnte ich nicht zählen. Also beschloss ich, mir meine eigenen schönen Schlittschuhe aus Holz zu bauen. Opa bat ich um eine alte Zigarrenschachtel. Ihre Trennwände schnitt ich aus, mit Schnüren befestigte ich sie an den Schuhen, um dann auf dem Eis umher zu rutschen und den Neid der Jungs zu wecken. So stellte ich es mir vor. Vorsichtig stellte ich mich aufs Eis und ... fast gleichzeitig hörte ich: klapp, klapp! Unter meinem Gewicht zerbrachen die Brettchen. Nicht mal einen Schwung habe ich gemacht! Meine wunderbaren und ersehnten Schlittschuhe waren zu nichts zu gebrauchen. War ich enttäuscht! Bis heute erinnere ich mich an den bitteren Geschmack des Misserfolgs.

      Zu Hause wurde es immer ärmer. Besonders im Winter setzte uns der Hunger zu. Am meisten, als man sich zuflüstern begann, dass die Russen schon nah sind. Unsere deutschen Nachbarn wurden ungewohnt höflich. Mit Mama gingen wir abends aus der Stadt, um Futterrüben zu holen, die unseren ärmlichen Speiseplan „bereicherten". Wir klauten sie vom Feld. Mama schämte sich dafür, aber ich freute mich, dass wir die Deutschen beklauen. Aus den Rüben kochte Oma eine ekelhafte Suppe. Vielleicht kann ich deswegen bis heute Rüben nicht ausstehen. Eine Ausnahme mache ich nur für den traditionellen roten Barszcz an Heiligabend und für rote Beete mit Meerrettich.

      Ein weiterer, noch bescheidenerer Heiligabend in Kriegszeiten folgte. Eines Tages ging Urgroßvater Piotr von uns. Der Arme hat die Befreiung nicht mehr erlebt. 97 Jahre wurde er alt. Laut und hastig wurde es in Tuchola. Die Deutschen begannen mit Sack und Pack ihre Karren, Wägelchen und Fahrräder zu beladen. Sie verließen ihre Häuser und Wohnungen. Sie flohen in die „Heimat“. Die Front näherte sich. Die Deutschen beschlossen Tuchola so lange wie möglich zu verteidigen. Anfangs hielten die deutschen Truppen ihre Stellungen, doch die Russen griffen hartnäckig an. Die Schlacht um Tuchola dauerte von 11. bis 14.Februar 1945. Schließlich schafften es russische Panzereinheiten, sich durch die Front durchzuschlagen und am 15.Februar wurde Tuchola erobert. Deutschen Berichten zufolge konnten die Einheiten der 4.Panzerdivision in den Kämpfen um Tuchola über 90 sowjetische Panzer zerstören, doch übermäßig viele Wracks habe ich nicht gesehen. Hingegen erwiesen sich die, die wir vorfanden als traumhafte Spielplätze.

      Man hörte Kampfgeräusche. Alle Bewohner suchten im Schutzraum Zuflucht. Oma ordnete an, dass wir uns im hintersten Eck des Kellers versteckten. Aus Decken und Kissen bettete Mama uns in ein bequemes Lager und deckte uns zu. Wir warteten. Wir horchten. Nach jeder größeren Explosion hörte man Geschrei. Jemand betete lautstark. Draußen dröhnte und donnerte es. Unbedingt wollte ich sehen, was passiert. Doch das Kampieren im nicht nur nach Kartoffeln stinkenden Keller zog sich. Nur Mama ging ab und an in unsere Wohnung, um etwas zum Essen und Trinken mitzubringen. Irgendwann sagte sie lächelnd, dass wir schon bald unseren Vater sehen würden. Es wurde ruhig. Plötzlich fielen Russen in unseren Schutzraum ein. Dreckig und stinkend schritten sie durch die liegenden Leute und rissen die Decken von ihnen. Sie suchten Mädchen. Anwesende Männer verhielten sich, als ob sie nicht anwesend wären: sie kauerten unter ihren Decken. Ältere Frauen verfluchten die Soldaten, während sie davon unbeeindruckt entsetzt schreiende Mädchen herauszogen und die Treppen hinaufführten. Nach einer Weile wurde es wieder entsetzlich still. Wir hatten große Angst. Niemand rührte sich.

      Das Treffen mit meinem mir unbekannten Vater

      Ein Soldat kam die Treppen herab. Mit seinem Blick entdeckte er Mama und nickte mit dem Kopf. Mama wies uns an aufzustehen. Sie führte Rysia und mich ins Nachbarhaus. Dort saß in einem großen Zimmer mit schönen Möbeln an einem ovalen Tisch ein Offizier in sauberer, ordentlicher Uniform und neben ihm stand ein Herr in dunklem Anzug. Mama schob uns vor: „Rysia und Dychu, das ist Euer Vater“, sagte sie, während sie auf den Herren im dunklen Anzug deutete. Kurz dauerte unsere Begrüßung. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass uns unser Vater umarmt hätte.

      Wir zogen