Irene Dorfner

ENDSTATION


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Tür stand offen. Ich wäre aber auch reingegangen, wenn sie zu gewesen wäre. Ein Mord an der Frau des Hauses rechtfertigt einen gewaltsamen Zugriff allemal.“ Viktoria ließ Leo stehen und machte sich wieder an die Arbeit. Sie war immer noch sehr aufgewühlt, außerdem schämte sie sich.

      Leo ging ins Haus und sah sich im Wohnzimmer um, wo er den Leiter der Spurensicherung Friedrich Fuchs und drei seiner Mitarbeiter vorfand. Zum Glück war Fuchs hier schon fertig, sonst hätte der ihm den Zutritt sicher verwehrt. In diesem Zimmer musste ein heftiger Kampf stattgefunden haben, die Spuren waren eindeutig. Die Küche und das Esszimmer des Erdgeschosses machten einen ordentlichen Eindruck, aber das angrenzende Büro sah ebenfalls chaotisch aus. Das Büro und das Wohnzimmer waren durchwühlt worden. Warum nur diese beiden Zimmer? Viktoria hatte richtig entschieden. Wenn er das Chaos hier vorgefunden hätte, hätte er genauso gehandelt. Außerdem hätte auch er das volle Programm durchgezogen.

      „Was haben Sie für mich, Herr Fuchs?“, sprach Leo den Leiter der Spurensicherung an.

      „Das wird alles in meinem Bericht stehen“, murmelte dieser unfreundlich. Er mochte es nicht, wenn er gehetzt wurde. Aber noch mehr hasste er es, wenn man sich in seine Arbeit einmischte.

      „Ich möchte jetzt keinen vollständigen Bericht von Ihnen hören“, sagte Leo und lächelte. In den drei Jahren, in denen er bei der Polizei Mühldorf war, hatte er es gelernt, mit Fuchs und seinen Marotten umzugehen.

      „Dass hier ein Kampf stattgefunden haben muss und in diesem Zimmer, sowie im angrenzenden Büro, alles durchwühlt wurde, sehen Sie selbst“, sagte Fuchs. „Die anderen Räume sind alle sauber. Wir haben hier und hier Blut gefunden. Wenn Sie genau hinsehen würden, könnten Sie das selbst erkennen.“

      „Blut von Uwe Esterbauer?“

      „Woher soll ich das wissen? Bin ich Hellseher?“

      „Genug Blut, um auf ein Verbrechen schließen zu können?“

      Fuchs zögerte.

      „Raus mit der Sprache, Kollege Fuchs. Mit wie vielen Tatorten haben Sie bisher zu tun gehabt? Sie sind kein Anfänger, sondern einer der Besten, das brauche ich Ihnen nicht sagen. Sie können sehr gut einschätzen, mit was wir es zu tun haben“, forderte Leo Fuchs auf.

      Fuchs war nicht anfällig für Schmeicheleien, aber sehr wohl für die Wahrheit. Ja, er gehörte zu den Besten, das wusste er selbst. Und ja, er hatte schon sehr viele Tatorte untersucht, um eine vorsichtige Schätzung abgeben zu können, obwohl er das nicht besonders mochte. Er war ein Freund von Tatsachen und Beweisen, und nicht von Mutmaßungen.

      „Für mich deutet die Menge an Blut auf ein Verbrechen hin. In welchem Ausmaß, wage ich nicht zu vermuten. Hier vor dem Sessel gibt es die größte Menge an Blut, dort und dort gibt es nur Spuren davon. Hier ist eine große Blutlache, ebenso hier. Das Blut wurde von den schweren, dunklen Teppichen aufgesogen. Ich kann noch nicht beurteilen, von welcher Menge Blut wir auf den Teppichen sprechen, aber ich bin davon überzeugt, dass das sehr viel weniger ist, als das Blut vor dem Sessel. Wenn Sie mir bitte folgen? Die Blutspuren sind hier, hier und hier, gehen durch die Eingangstür und enden auf dem Gehweg.“

      „Ein Auto?“

      „Das vermute ich, ja.“

      „Führen die Blutspuren von innen nach außen, oder umgekehrt?“

      „Eine sehr gute Frage, Herr Schwartz.“ Fuchs lief hektisch auf und ab. „Nein, für mich sieht es so aus, als gingen die Spuren von innen nach außen. Um alle Zweifel aus dem Weg zu räumen, werde ich mir das nochmals genauer ansehen.“

      „Nehmen wir an, dass das Opfer hier im Wohnzimmer vor dem Sessel verletzt wurde. Der Menge des Blutes zufolge muss die Verletzung recht groß sein. Nehmen wir weiter an, dass der Mann das Haus aus eigener Kraft verlassen hat. Müsste es in diesem Fall nicht sehr viel mehr Blutspuren geben, als das Wenige, das ich mit bloßem Auge gesehen habe? Die Spuren hier und hier sind noch recht groß, aber hier hören sie fast gänzlich auf. Die wenigen Tropfen und Spritzer bis zur Straße sind kaum der Rede wert.“

      „Das sehe ich auch so. Gehen wir von einer sehr stark blutenden Verletzung aus. Wenn das Opfer sich notdürftig versorgt hat, wären die Spuren plausibel.“ Dann machte Fuchs eine Pause und sah sich hektisch um. „Wenn das Opfer aber so stark verletzt war, dass er sich nicht selbst helfen konnte oder sogar bereits tot war, suchen wir nach einer Möglichkeit, wie das Opfer aus dem Haus gebracht wurde.“ Fuchs war ganz in seinem Element. „Wir machen uns sofort an die Arbeit. Sorgen Sie dafür, dass alle das Haus verlassen, damit wir in Ruhe arbeiten können. Suchen Sie nach Personen, die sich im Haus auskennen. Nur die könnten bestätigen, ob etwas fehlt, falls wir nichts finden sollten.“

      „Dazu bräuchte ich Unterlagen.“

      „Die hat Ihre Kollegin Untermaier doch schon längst. Reden Sie nicht miteinander?“

      „Du willst wieder alles genau wissen, oder? Warum gibst du dich nicht damit zufrieden, dass Esterbauer Opfer einer Gewalttat geworden ist, die im Wohnzimmer stattgefunden hat, nachdem er seinen Peiniger ins Haus gelassen hat?“ Viktoria hatte sich Leos Argumente angehört und heftig mit ihm diskutiert.

      „Das ist mein Job. An jedem Tatort stelle ich mir vor, dass ich anstelle des Opfers sei. Und in dem Fall würde ich wollen, dass alles akribisch untersucht wird. Was spricht dagegen?“

      „Nichts.“

      „Wenn Esterbauer verletzt das Haus verlassen konnte, muss er sich versorgt haben. In diesem Fall muss er Verbandsmaterial in greifbarer Nähe gehabt haben. Ich für meinen Teil habe Verbandsmaterial im Badezimmer, so wie die Esterbauers, das habe ich kontrolliert. Zum Badezimmer führen keine Blutspuren, das können wir also ausschließen. Allein kann sich Esterbauer nicht versorgt haben. Sollte er aber tot sein, muss die Leiche irgendwie aus dem Haus geschafft worden sein. Aber wie? Ein erwachsener Mann von der Größe und Statur Esterbauers ist nicht leicht. Ob tot oder lebendig: Esterbauer muss irgendwie das Haus verlassen haben.“ Leo sah sich um. „Wir sollten uns bei den wenigen Nachbarn umhören, vielleicht hat jemand etwas gesehen.“

      „Das übernehme ich“, sagte Hans. „Die wenigen Häuser schaffe ich alleine.“ Leos Ausführungen bestätigten seine Vermutung. Auch er hatte die wenigen Blutspuren gesehen, die an der Straße enden. Für sein Empfinden kamen diese Spuren nicht von einem Toten. Er war überzeugt davon, dass Esterbauer das Haus lebend verlassen hatte. Auch die Kollegen waren dieser Annahme. Denn für alle galt: Solange keine Leiche gefunden wurde, war der Mann lediglich verletzt.

      Viktoria übergab Leo kommentarlos den Karton mit den Aktenordnern. Auch weil sie wusste, dass er recht hatte. Leo nahm sich den Ordner mit den Überweisungen vor, der Kollege Werner Grössert half ihm dabei. Schnell fanden sie heraus, dass es außer einer fest angestellten Haushaltshilfe noch einen Gärtner gab, der sich regelmäßig um den riesigen Garten kümmerte, was man diesem auch ansah. Außerdem hat Esterbauer einen persönlichen Sekretär. Als Leo dessen Gehaltszahlung las, pfiff er anerkennend.

      „Der verdient so viel wie wir beide zusammen.“

      „Das ist bei unseren mickrigen Gehältern kein Kunststück.“, sagte der einundvierzigjährige Werner, der auch heute wieder mit einem modernen, sicher sündhaft teuren Anzug aussah wie aus dem Ei gepellt. Werner entstammte einer reichen Familie, was er aber niemals raushängen ließ. Leo sah wie immer aus: Lederjacke, Jeans, alte Cowboystiefel und ein T-Shirt mit dem Konterfei eines Revoluzzers aus längst vergangenen Tagen, den niemand zu erkennen schien. Sonst waren auf seinen oft viel zu bunten T-Shirts Rockbands oder Sänger aufgedruckt, die auch selten erkannt wurden. Banausen!

      Werner bestellte die Haushaltshilfe Grete Hofer sowie den Gärtner Franz Lobmann ein. Der Sekretär Tobias Mohr hatte einen Termin in München und versprach, so schnell wie möglich nach Mühldorf zu kommen. Da die Telefonverbindung sehr schlecht war, konnte Werner nicht erklären, worum es ging. Mohr hatte allerdings auch nicht danach gefragt. Sehr merkwürdig.

      „Hier hat niemand etwas gesehen oder gehört.“, sagte Hans, der mit den Befragungen der Nachbarn tatsächlich sehr schnell