Alessandra Grimm

Die Melodie in dir


Скачать книгу

on>

      Die Melodie in dir

      von

      Alessandra Grimm

      „Was ist die größte Muse für einen Musiker?“

      Ihre Frage traf einen Nerv in seinem tiefsten Inneren. Er atmete tief ein. Seine Brust zog sich zusammen, gefolgt von einem stechenden Schmerz. Den Kopf senkend atmete er laut aus. Er wollte ihrem prüfenden Blick entgehen, welcher ihm sichtlich Unbehagen bereitete. Stirnrunzelnd beäugte sie ihn. Sie wusste, dass diese Frage für ihn sehr intim war und seine Antwort womöglich zu einem Bruch zwischen ihnen führen würde. Aber nach all den Wochen wollte sie die Worte einfach nur über die Lippen bringen. Sie musste die Antwort wissen, ahnte sie diese doch bereits. Doch war sich Ben darüber im Klaren? Die Erkenntnis würde ihn womöglich etwas aus der Bahn werfen. So bezweifelte sie, dass er jemals in seinem Leben diese Reflektion vorgenommen hatte. Seine Reaktion auf die Frage bestärkte sie nur noch mehr. Es war nicht ihr Stil, aber die Ereignisse der letzten Wochen hatte das Fass sprichwörtlich zum Überlaufen gebracht. Ungeduldig klopfte sie mit den Fingern auf den Tisch. Wie eine Oktave auf dem Klavier spielend tänzelten sie auf und ab. Die dumpfen Geräusche entrissen ihn aus seiner schützenden Trance. Mit glasigen Augen sah er sie an. Die Antwort fiel ihm nur schwer über die Lippen. „Einsamkeit.“, hauchte er beinahe. Seine Stimme klang unsicher und kratzig und nachdem er das Wort ausgesprochen hatte, musste er schwer schlucken. Sie nickte, nahm ihre Jacke samt Handtasche und wandte den Blick von ihm ab. „Dann kannst du ohne sie kein Musiker sein.“ Er hörte wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Sie war weg und diesmal vielleicht für immer. Jetzt leisteten ihm nur reine Stille und seine Selbstzweifel Gesellschaft.

      Kapitel 1

      15 Jahre zuvor….

      Laut sang sie den Song Generation Rock von Revolverheld mit, als sie eilig den Stapel Shirts aus dem Kleiderschrank zog und diesen achtlos auf den Boden warf. Irgendwo zwischen den ganzen Stoffen musste das Shirt mit dem Logo ihrer Schulband sein. Ihre Mutter hatte es definitiv mitgewaschen und seit dem letzten Konzert vor drei Wochen wurde es nicht noch mal angezogen. Ungeduldig tastete sie sich in die hinterste Ecke ihres überfüllten Schrankes, leider ohne Erfolg. Genervt starrte sie auf den Kleiderhaufen zu ihren Füßen hin. Es würde wieder Ewigkeiten dauern, bis sie alles ordentlich gefaltet und in den Schrank eingeräumt hätte. Sie schaute auf ihre Armbanduhr und bemerkte, dass sie jetzt schon ziemlich spät dran war. Aufräumen würde daher erst morgen anstehen. Das Öffnen ihrer Zimmertür war zu hören: „Mama, ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass du anklopfen sollst!“, brüllte sie der kleinen, blonden Frau entgegen, die grimmig in das Zimmer ihrer Tochter blickte. Mia stand, mit noch halbnassen Haaren und im BH, vor ihr. Das Chaos, dass sie in ihrem Zimmer veranstaltet hatte, sorgte jetzt schon für sichtliches Unbehagen bei ihrer Mutter. Aber sie versuchte ihrem Ordnungsdrang zu widerstehen, damit Mia selbst ihr Zimmer wieder aufräumte. „Was suchst und fluchst du denn die ganze Zeit?“, fragte sie mürrisch und freute sich schon auf den ruhigen Abend, ohne laute Rockmusik und Gejaule. „Mein Band-Shirt.“, erwiderte Mia sichtlich genervt. „Ich finde es einfach nicht und du hast es definitiv gewaschen und gebügelt.“, sie sah ihre durchdringend Mutter an. Dann kniff sie die Augen leicht zusammen und verschränkte die Arme. „Hast du es?“, fragte sie vorwurfsvoll. Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. „Warum sollte ich mir dein Band-Shirt nehmen? Ich weiß ja nicht mal, wie die heißen.“, antwortete sie, überzeugt davon, dass sie keine Schuld traf.

      „Das weißt du wohl und es wäre nicht das erste Mal, dass auf mysteriöse Art und Weise meine Sachen in deinem Schrank landen.“, zielsicher hastete Mia an ihrer Mutter vorbei und ging ins Elternschlafzimmer. Sie riss die Schranktüren auf und brüllte „Boah Mama“. Wie auf dem Präsentierteller lag da ihr Shirt der Band Good-For-Nothing. Unbekannt und eher ein Hobby-Projekt von Schülern und Freunden, aber ihre absolute Lieblingsband. Schließlich war ihr bester Freund deren Schlagzeuger. „Ich weiß nicht, wie das T-Shirt da hingeraten ist. Ich muss es verwechselt haben. So was trage ich doch nicht.“, erwiderte ihre Mutter, sichtlich entrüstet über den Fund. Mia rollte lediglich mit den Augen. Ihre Mutter konnte nie einen Fehler zugeben und sie wusste nur zu genau, dass sie das Shirt wohl ab und an beim Sport oder Putzen getragen hatte. Aber zugeben würde sie es nie. Eher würde sie eine Ausrede á la „Ich habe einfach nach irgendeinem Shirt gegriffen, das gerade parat lag“ parat haben, als einzugestehen, dass ihr die Klamotten ihrer Tochter auch an ihr selbst gefielen.

      Hastig streifte Mia das Shirt über ihren Körper. Dazu trug sie schlichte, schwarze Jeans. Ihr schwarzen Chucks durften nicht fehlen, wurden sie doch bei jedem Konzert getragen. Zum Leidwesen ihrer Mutter, war gerade bei den Jugendlichen dieser Szene angesagt, ihre Schuhe mit kleinen Glöckchen zu verzieren. Bei jedem Schritt ertönte der metallisch klingende Ton, der sie ankündigte. Immer wieder witzelten Eltern darüber, dass ihre Kinder dadurch wie Kühe auf einer Weide glichen. Doch ihre Kinder verstanden diesen Spaß ganz und gar nicht und warfen ihnen daher vor, einfach zu alt zu sein. Mia ging in ihr Zimmer, prüfte sich im Spiegel und wuschelte durch ihre schwarzen Haare, die sich wie üblich in kleine Wellen legten. Sie hatte keine Zeit mehr, sie zu glätten. Wohl oder übel würde sie mit ihrer selbst ernannten Naturkatastrophe auf ihrem Kopf zum Schulgebäude fahren. Ein seltener Anblick, denn sie mochte ihre Frisur leider überhaupt nicht. Nachdem sie noch leichten Gloss auf ihre Lippen nachgezogen hatte, schnappte sie sich ihre Umhängetasche mit dem glitzernden Totenkopf bedruckt und zog sich ihre Jeansjacke über. „Wann kommst du Heim?“, fragte ihre Mutter. „Ich bringe die Brötchen mit.“, erwiderte Mia und klang dabei leider weniger cool, als sie eigentlich wollte. Schnaubend hob ihre Mutter den berüchtigten Zeigefinger. „Junge Dame, du bist noch keine Achtzehn! Du bist um 22:30 Uhr zu Hause. Fährt dich Rebecca?“

      Mia nickte genervt und zählte im Kopf die Tage, ab wann sie endlich auch gesetzlich nicht mehr als Kind behandelt werden würde. Dennoch war 22:30 Uhr besser, als gar nicht zum Konzert zu gehen und da viele der Schüler noch nicht die Volljährigkeit erreicht hatten, fing die Veranstaltung bereits um 18:30 Uhr an. Mia gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und machte sich auf den Weg, um zwei Straßen weiter bei Becky alias Rebecca zu klingeln, die schon mit dem Autoschlüssel bereitstand. Becky war an derselben Schule wie Mia, allerdings zwei Stufen drüber. Sie hatten sich im Schulchor vor einigen Jahren kennengelernt und angefreundet. Ihre Liebe zu Rockmusik und Musicals verband die beiden. Im nächsten Jahr würde Becky ihr Abitur machen und Mia versuchte nicht daran zu denken, dass die Freundschaft sich dann womöglich im Sande verlaufen würde. Immerhin würde der Schulabschluss einen vollkommenen neuen Lebensabschnitt nach sich ziehen und wer wusste schon, ob es Becky nicht nach Berlin ziehen würde. So genoss sie die Zeit, die sie noch mit ihr hatte.

      „Da bist du ja endlich!“, begrüßte Becky ihre Freundin und sie gingen direkt zu ihrem kleinen, dunkelblauen VW. Mia drehte die Musik auf, als Becky den Wagen startete. Passend zur Stimmung hatte sie natürlich die neueste Good-For-Nothing-CD eingelegt. Lauthals sangen die Freundinnen alle Songs mit und versuchten sich jede Zeile zu merken, damit sie nachher nicht nur mit Tanzeinlagen, sondern auch ihren Gesangskünsten prahlen konnten. Es ertönte Wische doch deine Tränen weg, Mias absoluter Lieblingssong. Ihr bester Freund Simon hatte ihn für sie geschrieben, als sie, in ihren Worten gesagt, eine depressive Episode hatte. Vor einem Jahr war sie in ein Loch gefallen. Vollkommen aus dem Nichts heraus. Es ging ihr plötzlich nicht mehr gut und sie wusste überhaupt nichts mehr mit ihrem Leben anzufangen. Die Motivation war sprichwörtlich im Keller. Keine Komödie, kein Witz konnten sie zum Lachen bringen. Auf ihre Mitmenschen wirkte sie kühl und distanziert. Sichtlich besorgt hatte Simon in Foren recherchiert und sie dazu bewegt, ihre Gedanken nieder zu schreiben. So schaffte er sie aus der Dunkelheit heraus ins Licht zu holen. Erst sollte sie eine Art Tagebuch führen, doch dann bemerkte sie ihre poetische Ader und so wurde es zu ihrem liebsten Hobby. Sie war nicht der Meinung, dass sie gut war, aber das Schreiben an sich half ihr, sich in eine andere Welt zu flüchten und zu erkennen, dass das Leben nicht so Grau war, wie es in diesem Augenblick auf sie wirkte. Die Welt war voller Farben und Klänge, voller Emotionen die gut und schlecht sein konnten. Sie schrieb viele Kurzgeschichten und erkannte, dass auch die negativen Gefühle nötig waren, um glücklich zu sein. Denn ohne den Schatten, gab es auch kein Licht. Das Leben wäre sonst zu trist und langweilig, dachte sie sich danach immer wieder. „Irgendwann kommt der Moment, der dich wieder lachen lässt.“, sangen die Freundinnen mit und hofften, dass die Band auch heute Abend den Song spielen würde.