Alessandra Grimm

Die Melodie in dir


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Das bekannte Verbindungsgeräusch ertönte und nachdem er sich mit dem Internet verbunden hatte, öffnete er das ICQ-Programm und gab die Nummer ein, die ihm Sven gegeben hatte. Er lehnte sich zurück und wartete auf die Annahme Simons. Etliche Male drehte er die Daumen umeinander im Kreis und wusste nicht, was er in der Zwischenzeit mit sich anfangen sollte. Sein Kopf ließ keine Ablenkung zu und erinnerte ihn immer wieder an den Hieb auf sein Herz. Sauer raufte er sich die Haare und beschloss, dass womöglich die Mathehausaufgaben ihn von den Gedanken abbringen konnte. Es fiel ihm allerdings unheimlich schwer, sich auf sie zu konzentrieren. Immer wieder schielte er zum Bildschirm und überprüfte, ob sich der Blümchenstatus änderte. Er tat es vergebens.

      Mittlerweile meldete sich sein Magen, welcher einerseits etwas Nahrhaftes in sich spüren wollte und andererseits wegen der Achterbahn der aufkeimenden Gefühle Alarm schlug. Das Knurren nervte ihn so sehr, dass er schließlich die Treppe hinab in die Küche ging und sich ein Puten-Sandwich machte. Während er das Toastbrot mit Remoulade bestrich fiel ihm ein, dass er vor ein paar Tagen die Fotos des Konzerts von einem der Schüler vor Ort erhalten hatte. Ihm war der Kollege mit der Kamera direkt aufgefallen und nachdem er ihn angesprochen hatte, hatte dieser ihm erzählt, dass er das Konzert als Übung für die Foto-AG nutzte. Direkt hatte Ben die Gelegenheit genutzt und gefragt, ob er die Fotos ihm zur Verfügung stellen würde, damit sie auf der Homepage von Interrobang veröffentlicht werden könnten. Freudig willigte der Anfänger-Fotograf in die Zusendung ein und verlangte lediglich seine Namenssetzung unter den Fotos.

      In die eine Hälfte des Sandwichs beißend, legte er den Rest auf den Teller und eilte kauend wieder hoch in sein Zimmer und öffnete den Ordner, in welchem er die Fotos abgelegt hatte. Klick für Klick ging er jedes einzelne Bild durch. Besonders jene, auf denen das Publikum zu sehen war, interessierten ihn. Er wollte explizit Mia sehen, doch hatte sie scheinbar das Talent, auf Fotos nicht zu aufzutauchen und falls doch, kaum erkennbar zu sein. Ab und an entdeckte er ihre dunklen Locken, aber nie konnte er ihr Gesicht klar erkennen.

      Vollkommen in der Suche nach Waldo versunken, bemerkte er gar nicht, was um ihn herum passierte. So kam es dazu, dass ein dumpfes Klopfen ihn hochschrecken ließ. Durch den Schreck hatte er sich unangenehm auf die Zunge gebissen. Mit von Schmerz verzerrtem Gesicht drehte er sich um und schaute zur Zimmertür. „Was machst du denn hier?“, fragte Ben wenig erfreut. „Dir auch ein Hallo! Darf ich etwa meinen Freund nicht besuchen?“, erwiderte das schlanke Mädchen, welches im Türrahmen stand. Sie schloss hinter sich die Tür, legte ihre Jacke auf dem Boden ab und küsste ihn zur Begrüßung auf den Mund. Ihre langen, glatten und blonden Haare streiften seine Wange, die ein unangenehmes Kitzeln auslösten. Er rieb sich die Wange, während das Mädchen sich auf sein Bett setzte. „Doch, aber ich habe nicht mit dir gerechnet.“, antwortete er und versuchte seine Laune vor ihr zu verbergen. „Ich habe dich eben vermisst. Komm doch zu mir, dann zeige ich dir wie sehr.“, sagte sie und tätschelte mit ihrer Hand das Bett. Zögerlich stand Ben auf und tat, wie ihm geheißen. Eigentlich war er nicht in Stimmung, doch er kannte Julia und wollte keinen Streit provozieren. Sie hätte ihm direkt unterstellt, dass er sie nicht mehr lieben würde oder er sie nicht mehr schön finden würde. Dass er einfach keine Lust hatte, würde für Julia nicht als Ausrede gelten. Auf den zickigen Streit mit ihr, hatte er keine Lust. Das konnte er am heutigen Tage nicht auch noch gebrauchen. Er küsste sie, während er sich auf sie legte und sie ihre Beine um seine Hüfte schlang. Just in diesem Moment änderte sich der Status der Blume zur ICQ-Nummer von Simon. Doch Ben sollte es erst in der Nacht bemerken.

      Zu seinem Ärger war Simon bereits offline, als Julia gefahren und er wieder am Rechner war. Er würde erst am nächsten Tag mit Simon sprechen können. Verärgert putzte er sich die Zähne. „Melodie in sich nicht gefunden.“, sah er ständig vor seinem Auge fliegen. Er starrte in sein Spiegelbild und blickte sich in seine braunen Augen. Er versuchte etwas in sich selbst zu sehen, doch war da nichts. Nur er selbst und das plötzliche Gefühl nicht gut genug zu sein. „Kunst ist subjektiv. Nicht jeder liebt sie. Daran musst du dich gewöhnen.“, sagte er zu sich selbst und atmete tief ein und aus. Ben legte sich ins Bett. Er würde in dieser Nacht kaum ein Auge zu bekommen.

      *

      „Guten Morgen!“, strahlte Mia, als sie ihren besten Freund an den Fahrradständern traf. „Guten Morgen!“, erwiderte er in selbiger guter Laune zurück und umarmte sie. „Ich habe deine Kritik gelesen. Irgendwann wird keiner mehr dein Lob für Good-For-Nothing ernst nehmen.“, sagte er lachend.

      „Warum das denn nicht?“, Mia legte den Kopf schief und setzte einen gespielten Schmollmund auf.

      „Na, weil du offensichtlich meinetwegen parteiisch bist.“, er zwinkerte ihr zu, legte den Arm um sie und ging mit ihr Richtung Schuleingang.

      „Wenn ihr schlecht spielen würdet, würde ich es sagen. Das weiß jeder. Ihr seid einfach gut.“

      „Ja das stimmt. Interrobang aber scheinbar nicht.“, er schenkte einer Freundin einen leicht vorwurfsvollen Blick.

      „Sie sind nicht schlecht, aber ausbaufähig.“, antwortete sie.

      „Sicher, dass du mit dem Artikel ihre Musik kritisiert hast?“, er pikste sie in die Seite und Mia schlug seine Hand von ihr weg. Sie nahm seinen Arm von sich und sah ihn mit ernster Miene an.

      „Was meinst du damit?“

      „Du gehst sonst nie so hart ins Gericht.“

      „Ich will Journalistin werden, da muss man seine eigene Meinung vertreten können und ehrlich zu den Lesern sein.“

      „Tu nicht so. Ich kenne dich. Du weißt, dass die Musik in Ordnung ist.“, sagte Simon streng.

      „Sie ist langweilig und nicht besonders. Jede zweite Band kann das, was Interrobang kann.“, Mias Ton wurde zickiger.

      „Du hast sie ja auch zweitklassig genannt.“

      „Ich habe ihre Songs zweitklassig genannt, nicht sie als Personen.“, Mia verschränkte genervt die Arme.

      „Meiner Meinung nach, kannst du diesen Ben nicht leiden, weil er dich von oben herab behandelt hat und mit der Kritik willst du ihm eins auswischen.“ Mia schwieg. Ihr bester Freund kannte sie zu gut. Sie hatte beim Verfassen des Textes lange überlegt, ob sie diese Passage mit einbauen sollte. Aber sobald sein Gesicht vor ihrem inneren Auge auftauchte, wollte sie die Wörter umso mehr niederschreiben. „Da mag etwas dran sein. Ich gebe zu, dass die persönliche Kritik an ihn selbst etwas zu hart war. Aber der Rest zu den Songs der Band ist tatsächlich meine Meinung und die revidiere ich nicht. Du hast mich doch auf dem Konzert gesehen. Habe ich da getanzt oder mich irgendwie verleiten lassen? Außerdem hatten sie einen guten Song. Sie müssen nur mehr auf diesem Level schreiben.“

      „Na, wenn du das sagst. Ich denke sowieso nicht, dass wir allzu viele gemeinsame Konzerte mit denen haben werden. Also wirst du Ben Richter zu deiner Freude eventuell nie wieder begegnen.“

      Die Schulklingelt läutete und die beiden begaben sich zu ihrer Deutsch-Stunde.

      *

      Ben saß im Unterricht und konnte seinem Lehrer kaum folgen. Er hatte immer nur wenige Minuten am Stück geschlafen und wurde hundert Mal wach. Ihn hatten in der Nacht Albträume von einem schlechten Publikum, das ihm nach seinem Debüt nicht zujubelte und nur grimmig anstarrte gehabt. In einem anderen Traum wurden sogar klassisch Tomaten auf ihn geworfen. In der nächsten Sequenz war er bei einem Produzenten eines Musiklabels, der ihn lachend ablehnte. Wie konnte dieser lächerliche Artikel einen derartig großen Einfluss auf ihn nehmen? Wieso konnten die Worte von Mia Stein nicht einfach in Vergessenheit geraten? Oder glaubte er innerlich an ihre Ehrlichkeit, die ihn die Worte glauben ließ? Er hatte sie als selbstbewusstes Mädchen kennengelernt, das nicht auf den Mund gefallen war, ihre Meinung vertreten konnte und laut äußerte. An jenem Abend hatte er eine leichte Abneigung ihrerseits bemerkt, die er teilweise selbst zu verschulden hatte. Mit blöden, neckenden Sprüchen hatte er sie nicht beeindrucken können. Sie war anders als die anderen Mädchen in diesem Alter. Oder auch nicht. Sie war kein Groupie, sondern ein Musik- und Konzertbegeistertes Mädchen, das ihren besten Freund so gut es ging, unterstützte. Diese Art von Mädchen war er auf Konzerten nicht gewohnt gewesen.