Alessandra Grimm

Die Melodie in dir


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könnte passieren.“, lachte er und sie gingen in sein Zimmer. Mia legte ihren grauen Wollmantel auf seinem Bett ab und setzte sich auf ihren Stuhl. Mittlerweile hatte sie einen festen Platz, da sie sich mindestens einmal in der Woche zum Computerspielen verabredeten. Aktuell war Vampire The Masquerade Bloodlines angesagt und sie versuchten sich gemeinsam durch die Geschichte zu spielen. Allerdings waren sie nicht immer einer Meinung bezüglich der Entscheidungen. Allein zu Beginn wollte Simon unbedingt zu den Nosferatu gehören, aber Mia wollte nicht das ganze Spiel über in der Kanalisation verbringen und bei jedem Aufkommen von einem Menschen entdeckt und ermordet werden. Nach etlichen Diskussionen und sogar einem Persönlichkeitstest entschieden sie sich für den Clan Malkavian. Dafür durfte der Charakter ein Mann sein, so war der Kompromiss. Ein Weiterspielen ohne den anderen war darüber hinaus verboten und wurde mit den Kosten einer Riesenpizza, inklusive Getränk getadelt.

      Simon ließ sich auf seinen schwarzen, ledernen Schreibtischstuhl fallen und faltete die Hände ineinander. „Sag mal, wie fändest Du es, wenn ich deine ICQ-Nummer ungefragt weitergebe an jemanden, den du aber kennst?“

      „Wie ich das finde? Vollkommen unangemessen! Wem hast du meine Nummer gegeben?“, Mia war sichtlich erbost.

      „Ben.“

      „Ben? Ben wer?“

      „Ben Richter.“

      In Mias Kopf ratterte es, bis es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. „Wieso gibst du dem Sänger von dieser bescheuerten Band meine ICQ-Nummer?“, ungläubig sah Mia ihren besten Freund an. Das Konzert war zwei Wochen her gewesen, es kam ihr allerdings deutlich länger vor. Nach dem kurzen Geplänkel während des Auftrittes von Good-For-Nothing hatten sie nicht weiter miteinander gesprochen, sich nicht einmal voneinander verabschiedet. Nachdem sie die Kritik verfasst hatte, hatte sie die Band schon in ihrem Kopf archiviert, denn sie ging nicht davon aus, sie irgendwo noch einmal wieder zu sehen. Die Mitglieder lebten in der Nachbarstadt und jede Band hatte quasi ihr Revier. Ihre Stadt gehörte nicht dazu und sie hatte des Weiteren auch nicht das große Bedürfnis, ihn näher kennenzulernen. Allein dieser Moment, als er sie nicht mal beim Namen nennen wollte, hatte ihm einige Minuspunkte aufs Konto gebracht. Mit so einer Person wollte sie nichts zu tun haben.

      „Ich habe sie ihm noch nicht gegeben, aber ich würde das gerne tun.“, antwortete Simon.

      „Diesem arroganten Idioten? Dein Ernst? Hat er danach gefragt oder warum?“

      „Tatsächlich hat er danach gefragt. Warum auch immer. Auf dich stehen tut er mit Sicherheit nicht.“, er streckte ihr die Zunge raus und zwinkerte ihr zu. „Du kannst ihn natürlich ablehnen, oder auch einfach annehmen. Wenn du mir einen Gefallen tun möchtest, dann nimmst du ihn an und hörst dir an, was er zu sagen hat und von dir möchte. Gib ihm eine Chance. Ich glaube diese Kritik hat ihn doch etwas aus der Bahn geworfen.“, er hörte wie Mia genervt grummelte. „Komm schon. Du kannst ihn immer noch in die Wüste schicken und sagen, dass er lernen muss mit Kritik umzugehen. Ich werde ihm nachher die Nummer geben. Nimm ihn bitte erstmal an. Am Ende steht er noch mit Rosen vor deiner Tür und kniet vor dir Liebe. Mia, die einzig wahre Kritikerin. Bitte höre mich an!“, er fing die Szene theatralisch nachzuspielen. „Nur dein Urteil beweist, dass ich ein guter Musiker bin. Oh, bitte holde Mia, höre dir meine neueste Komposition an. Ich werde solange nicht aufgeben, bis ich eine positive Rezension von dir zu mir lese.“, säuselte er. Es folgte ein Klaps auf seinen Oberarm, gefolgt von einem bösen Funkeln.

      „Will ich wissen, warum du dir Kopfszenen zu meinem Liebesleben ausmalst?“, fragte sie.

      „Ich bin halt sehr fantasievoll. Genug Theater. Lass uns spielen.“, sagte er und startete seinen Computer.

      *

      Es war schon dunkel als sie sich auf Fahrrad schwing, um nach Hause zu radeln. Es war nach wie vor bewölkt und weder Mond noch Sterne blickten am Himmelszelt hervor. Die Blätter raschelten im sanften Wind und ließen die kühle Nacht nach einem sanften Regenschauer klingen. Doch der Geruch, der sich den Weg in ihre Nase bahnte, war geplagt von den Abgasen eines älteren Automodells, das gerade an ihr vorbei geschnellt war. Mia rümpfte die Nase und trat schneller in die Pedale. Es war nicht mehr weit und sie genoss die ruhigen Minuten für sich allein, bevor ihre Mutter sie wieder nach ihrem Tag ausquetschen würde. So lieb sie ihre Mutter hatte, so froh war sie, wenn sie für sich allein sein konnte. Der heutige Plan war, später mit einer Tasse Tee sitzend am Computer an ihrer Fanfiction weiterzuschreiben. Ihre Geschichte mit Namen Racheengel, basierte auf dem Vampir-Spiel des heutigen Tages. Es half ihr, über den Alltag hinweg zu kommen und ein Gefühl von Erleichterung machte sich nach jedem Satz in ihr breit. Man könnte es sich so vorstellen, wie einen Sack voller Steine, den man auf dem Rücken hievte. Mit jedem Wort, jedem Satz, jeder Seite wurde ein Stein herausgenommen, sodass die Last immer leichter wurde. Ein sehr befreiender Akt, der sie von den Streitereien mit ihren Eltern und den schlechten schulischen Leistungen ablenkte.

      Sie stieg vom Fahrrad ab und hievte es über eine Stufe, um es dann rechts in eine von Mauern geschützte Ecke abzustellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass hier ein Hollandrad gestohlen werden würde, ging gegen Null. Obwohl am Bahnhof tatsächlich jemand ihren Fahrradständer zertreten hatte. Bislang war sie zu faul gewesen, um beim Fahrradladen eine Erneuerung vorzunehmen, sodass ihr Rad immer irgendwo anlehnte oder auf die Abstellungen angewiesen war.

      Die Wohnung war wohlig warm und der Geruch nach verschiedenen Kräutern stieg ihr in die Nase. Ihre Mutter hatte eine Kanne Tee aufgesetzt, eine jener aus Porzellan, die über ein Teelicht weiterhin erhitzt werden.

      „Hast du was gegessen?“, rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer ihr zu. „Ja, wir haben…“

      „Pizza gegessen.“, beendete sie den Satz. „Richtig geraten.“, antwortete Mia. Das war auch eines ihrer Rituale mit Simon. Immer wenn sie sich zum Zocken verabredeten, folgte eine große Pizza Tonno, die sie sich in der Regel teilten. Eine Zeit lang hatten sich die beiden immer montags bei Mia getroffen und ihre Mutter hatte dann, vorausschauend wie sie war, auf dem Rückweg ihrer Arbeit die aus Teig bestehende Köstlichkeit mitgebracht.

      Kapitel 6

      Widerwillig hatte Mia die Bitte ihres Freundes umgesetzt und Ben Richters Anfrage angenommen. Der Gedanke, sich mit dem arroganten Jungen zu unterhalten, gefiel ihr eigentlich gar nicht. Sie war nicht bereit, den Eindruck, den sie von ihm hatte zu revidieren. Der eine Abend auf dem Konzert hatte ihr ausgereicht. Wie er sich ständig durch die wilden, braunen Haare mit der Hand gefahren war und cool dagestanden hatte, während die Mädchen ihn tuschelnd beobachteten und kicherten, wenn er sie angesehen hatte. Sie hatte ihn direkt durchschaut. Ben Richter fühlte sich wie ein Star und benahm sich entsprechend. Die Konzertbesucher sollten allesamt seine Fans sein, die ihn und sein Talent anhimmelten und in Ohnmacht fallen sollten, wenn er ihnen ein „Hallo“ schenkte. Gut, Mia neigte dazu, die Dinge etwas überspitzter zu sehen, als sie eigentlich waren. Aber allein dieser Moment, als er ihren Namen nicht sagen wollte und sie als „Freundin von Simon“ stattdessen bezeichnete, hatte schon für hundert Minuspunkte bei ihr gesorgt. Sein Auftreten während der Bühnenshow hatte sie in ihrer Meinung nur bestätigt. Sie hatte regelrecht abgelesen, wie gut er sich auf der Bühne fühlte. Selbstbewusst und vollkommen selbstsicher. Dieser Eindruck ging damit einher, dass sie das Gefühl nicht loswurde, dass er gerne die Welt um sich selbst drehen ließ. Zumindest war es das Bild, dass ihre Intuition ihr bot. Es wunderte sie daher nicht, dass er mit ihr zu ihrer Kritik sprechen wollte. Anders als Simon es ihr verkauft hatte, glaubte sie Ben allerdings kein Wort. Er wollte versuchen sie umzustimmen und Mia bezweifelte, dass er ihre Kritik nur ansatzweise für voll nahm. Immerhin hatte er sich nicht einmal ihren Namen gemerkt, wobei er das womöglich getan hätte, hätte er gewusst, dass sie eine Rezension verfassen würde. Mit Journalisten sollte man sich immer gut stellen und wenn es auch nur für die Schülerzeitung gedacht war.

      „Danke, Mama.“, sagte sie, als ihre Mutter ihr einen Teller Kekse samt Kräutertee hinstellte. „Hast du die Hausaufgaben schon fertig?“, fragte ihr blondes, älteres Ebenbild.

      „Natürlich. Du kennst mich doch.“ Ihre Mutter nickte und schloss die Tür, um ihrer Tochter ihre Privatsphäre zu geben.