Dagmar Isabell Schmidbauer

Und dann kam das Wasser


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in den Nachrichten gesehen, doch es hatte sie nicht berührt. In ihrer Heimat wäre so etwas eine fürchterliche Katastrophe gewesen, aber hier gab es für alles und jeden eine Hilfe vom Staat und Unterstützung – zumindest, wenn man einen Anspruch darauf hatte.

      Unwillkürlich zuckte sie beim Gehen mit den Schultern. Mitleid war nicht ihre Stärke. Mitleid musste man sich erst einmal leisten können.

      Fest drückte Natalia die aufwendig bestickte schwarze Samttasche, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, an sich. Sie war wie ein Schatz für sie, ein Stück Heimat. Als sie klein gewesen war, hatte ihr die Großmutter erzählt, dass sie sehr wertvoll wäre, weil sie sie im Wald von einer Elfe bekommen habe. Mit den Jahren hatte die Großmutter diese Geschichte immer weiter ausgeschmückt, und Natalia hatte sie geliebt. Daran änderte sich auch nichts, als ihre Mutter ihr erzählte, in Wirklichkeit sei sie von einem Mann, der sich damit ihre Unschuld erkauft habe. Das war aber ein Geheimnis, und Natalia durfte es niemandem verraten.

      Mit einem Mal wurde Natalia unsanft aus ihren Erinnerungen gerissen. Ein Auto fuhr mit hohem Tempo an ihr vorbei und donnerte mitten durch eine tiefe Pfütze hindurch. Natalia sprang noch zur Seite, aber es war aussichtslos: Sie war von oben bis unten vollkommen nass gespritzt. Doch anstatt sich zu ärgern, wischte sie nur kraftlos mit dem Ärmel über ihr nasses Gesicht und ging weiter. Wozu sich aufregen, der Fahrer war längst weg. Lieber dachte sie noch ein bisschen an die Großmutter, die in ihrem Leben so viel gearbeitet hatte, wie alle im Dorf, und die doch immer da gewesen war, wenn Natalia sie brauchte. Als Kind und auch später noch. Zu ihr war sie gelaufen, wenn sie Trost und Wärme brauchte. Nach dem Tod des Vaters ging die Mutter arbeiten, und die Großmutter kümmerte sich um sie. Vor ein paar Jahren war die alte Frau dann friedlich eingeschlafen. Ein schöner Tod, wie sie heute nicht zum ersten Mal dachte.

      Tief in Gedanken versunken, hatte sie die Nibelungenstraße erreicht. Nicht mehr lange, dann würde sie das Viertel betreten, wo man alles bekam, wenn man nur genug Geld hatte. Natalia hatte nicht viel Geld, aber seit sie hier war, hatte sie auch keine Zeit es auszugeben.

      Vor ihr lag der ZOB, der Zentrale Omnibusbahnhof. Sie war erst einmal hier gewesen, ganz spät am Abend, und dann panikartig geflohen. Denn hier traf man die Menschen, denen sie schon in der Heimat besser aus dem Weg gegangen wäre.

      Ein Schatten legte sich auf das Gesicht der Frau. In der Nacht hatte die Jungfrau sie aufgerichtet und ihr Kraft gegeben, um das zu tun, was sie tun musste. Aber jetzt sah sie, wie einfach es war, wenn sie einfach tat, wie sie wollte.

      Trostlos blickte sie zum Turm hinauf. Er war das höchste Gebäude von Passau, wenn es auch weit schönere gab. In den vielen Stockwerken waren Ärzte, Steuerberater, Anwälte und Firmen untergebracht. Ganz oben gab es ein Café. Bei ihrer Ankunft hatte sie beschlossen, dass sie im Sommer dort sitzen wollte, Kaffee trinken, dazu ein Stück Torte essen und hinunterschauen auf die Stadt, die so schön und aufgeräumt war, wie sie sie vor ihrer Abreise auf Fotos gesehen hatte. Das alles stellte sie sich damals wunderbar vor.

      Von ihrer Großmutter hatte sie nicht nur die samtene Tasche geerbt, sondern auch die deutsche Sprache gelernt, was letztlich der Grund dafür gewesen war, warum man sie ausgewählt hatte. Täglich las sie die Zeitung, um zu üben, aber auch um mehr über das Land und die Region, in der sie lebte, zu erfahren. Doch manchmal war es besser, nicht alles zu verstehen. Seit sie wusste, was vor sich ging, hatte sie noch mehr Angst, und diese Angst war langsam in ihre Seele gesickert, bis sie wie ein mottenzerfressener löchriger Lappen in ihr hing. Völlig verstört. Doch in der Nacht, da hatte die Jungfrau zu ihr gesprochen und ihr versichert, dass es überhaupt keinen Grund gab, sich zu ängstigen: Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir, und wo ich bin, da ist kein Platz für Furcht, hatte sie gesagt, und sie wollte ihr so gern glauben.

      Fest drückte Natalia die Tasche an sich, denn sie enthielt alles, was ihr lieb war. Dann überquerte sie mit ein paar schnellen Schritten den Platz und erreichte die Eingangstür zum Turm. Als habe sie kein Recht darauf hier zu sein, blickte sie sich vor dem Hineingehen vorsichtig um. Dabei erblickte sie ihr Spiegelbild mit den nassen Haaren und erschrak. Sie sah schlimm aus. Während sie auf den Aufzug wartete, hob sie den Arm und wischte mit einer weit ausholenden Bewegung ihres Ärmels über die Haare, um sie aus dem Gesicht zu streichen. Mehr konnte sie im Moment nicht tun.

      „Achtes Stockwerk“, berichtete die Computerstimme teilnahmslos, als sich die Türen nach der kurzen Fahrt wieder öffneten. Unten hatte sie sich orientiert, bevor sie den Knopf gedrückt hatte. Jetzt ging sie zielstrebig nach rechts, öffnete die vor ihr liegende Eingangstür und sah sich gleich darauf in einem hell erleuchteten Flur um. Ihr gegenüber saß eine Frau hinter einem Schreibtisch und telefonierte. Ohne sie weiter zu beachten, wandte sie sich nach links und betrat das große Chefzimmer. Sie wusste nicht, was sie sich vorgestellt hatte, aber irgendwie passte alles sehr gut.

      Natalia war jetzt ganz ruhig und konzentrierte sich nur noch auf die Stimme, die sie, tief verborgen in ihrem Inneren, weiterlockte . Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir, und wo ich bin, da ist kein Platz für Furcht, wiederholte die Jungfrau Maria ihr Versprechen nun immer wieder.

      Ohne auf den Mann zu achten, der neben einem wuchtigen Schreibtisch stand und aufsah, sie unschlüssig betrachtete, ging Natalia schließlich zum Fenster und öffnete es. Die Aussicht war schlecht. Die Wolken hingen fast bis zu ihr herunter, und der Regen fiel ohne Unterlass. Langsam beugte sie sich hinaus. Auf dem Platz unter ihr eilten die Menschen mit gesenkten Köpfen vorbei. Hier und da erspähte sie einige aufgespannte Regenschirme. Doch Natalia war jetzt ganz bei sich und dem Grund, warum sie hierhergekommen war. Sie hatte ihren Frieden gefunden. Ihren Frieden mit ihrem Schicksal. Ihren Frieden mit Gott.

      Mit einem Lächeln auf den Lippen klemmte sie die Tasche fest unter den Arm und ergriff die Hand, die ihr die Jungfrau Maria entgegenstreckte.

      „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes!“

      Und tatsächlich war die Jungfrau noch immer bei ihr und hielt sie fest im Arm, bis es endlich vorbei war.

      In dieser Nacht hatte Adina schlecht geschlafen, und sie wusste nicht, ob es am Regen lag, der unaufhörlich auf das Kupferdach über ihrem Zimmer prasselte, oder daran, dass sie sich Sorgen machte.

      Als sie es gar nicht mehr im Bett aushalten konnte, stand sie auf, zog sich an und ging in die Küche hinunter, um einen Hefeteig anzusetzen. Die Männer liebten es, wenn es im ganzen Haus nach frischem Brot und deftigem Gulasch roch. Überhaupt waren sie leicht zu beeindrucken. Das hatte sie sofort gespürt. Und Adina kochte gern, vor allem für Männer, die ihre Kochkünste zu schätzen wussten und sagten, was sie wollten. Einen saftigen Rinderbraten in Rahmsoße zum Beispiel, und dazu Böhmische Knödel, die Leibspeise des Vaters. Und als Nachtisch: Marillenknödel, die sie mit Zimt und Zucker und einer aufgeschäumten Vanillesoße servierte. Oder ein knuspriges Grillhendl mit Kartoffelsalat. Sehr beliebt war auch ihr Schweinebraten mit frischen Reiberknödeln und Krautsalat. Pes‚tele cel mai bun, tot porcul rˇamâne, lautete ein Sprichwort aus ihrer Heimat. Der beste Fisch ist immer das Schwein.

      Allerdings war Adina nicht nur sehr geschickt, was das Kochen anging, sie war auch berechnend. Nachdem sie den Teig auf den warmen Ofen gestellt hatte, sah sie nach dem Mann, den im Haus alle nur „Vater“ nannten, und als sie feststellte, dass er bereits wach war, zog sie die Vorhänge auf und wünschte ihm einen guten Morgen.

      Der Vater frühstückte wie immer im Bett, warum ihm Adina die Tasse mit dem Milchkaffee, den er um diese Zeit zu sich nahm, nur halb füllte. Sein Leben lang hatte er Wert auf Etikette und gute Manieren gelegt, ein Prinzip, das mit dem zunehmenden Zittern seiner Hände immer schwieriger umzusetzen war.

      „Möchten Sie essen?“, fragte Adina wie jeden Morgen, und der Vater antwortete genauso regelmäßig: „Ach, Kind, du weißt doch, dass ich um diese Zeit nichts runterbringe.“

      Adina lächelte, dann nahm sie ihm die leere Tasse ab und half ihm aus dem Bett.

      „Hast du schon etwas von meinem Sohn gehört?“, fragte er, als er gewaschen