Hellen Scheefer

Aufenthalt bei Mutter


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unauffälligen Stelle ein Stück Faser aus dem Gewebe und stopfte es in der genauen Abfolge, wie der Weber einst das Tuch gewebt hatte, um das Loch herum wieder ein. Für diese Arbeit brauchte also der Schneidermeister seine Frau dringend. Außerdem hatte sie das Futter in die Anzugteile einzunähen, mit der Hand selbstverständlich. Das einzige Hobby, was mein Großvater sich leistete, war einmal wöchentlich der Gesangsverein. Dort ging er abends hin. Er soll eine sehr schöne Stimme gehabt haben. Von ihm hatte ich also meine Begabung geerbt. Aber als der Krieg kam, hörte das Singen auf.

      Elli. eins.

      Endlich wird die Tür geöffnet. Elli stürzt heraus, rempelt dabei ein Kind an. Elli weiß nicht, wie das Mädchen heißt, sie kennt hier noch niemanden. Es ist ihr aber auch ziemlich gleichgültig, ob sie dem Mädchen wehgetan hat. Elli will raus. Jetzt hat sie schon die schneebedeckte Wiese erreicht. Vor ihr steigt eine Böschung an. Oben, schon fast auf der Höhe, hat sie ihren Bruder entdeckt. Sie möchte zu ihm. Die anderen Kinder aus ihrer Gruppe holen sie ein, aber Elli interessiert sich nicht für sie, Elli möchte nur zu ihrem Bruder. Zu Hause spielt sie auch immer mit ihm. Und die Kinder in ihrer Gruppe sind ihr alle so fremd.

      Ellis Bruder ist zwei Jahre älter als sie. Er kennt sich gut aus im Kindergarten. Sie jedenfalls findet alles ziemlich schrecklich hier. Heute ist ihr erster Tag. Die Eltern hatten auch noch gesagt, dass sie es leichter haben wird, weil ja ihr Bruder mit dabei sei. Aber als heute der Tag begann, ging ihr Bruder in einen ganz anderen Raum als sie. Als sie sich darüber beschwerte, erklärte ihr die Erzieherin die Ordnung im Kindergarten. „Dein Bruder muss doch in eine andere Gruppe gehen, er ist immerhin zwei Jahre älter als du. Und jede Gruppe hat ihren eigenen Raum.“ Elli ist enttäuscht.

      Nun aber hat sie ihn endlich entdeckt. Sie ruft ihn. Sie kann noch nicht so schnell laufen wie die großen Jungs. Nächstes Jahr kommen die schon in die Schule. Endlich hört sie der Bruder. Er zögert einen Augenblick, schaut unwillig zu Elli, dann läuft er davon. Nein, er hat keine Lust, mit seiner kleinen Schwester zu spielen. Zu Hause müssen sie schon immer zusammen spielen. Er möchte mit seinen Jungs spielen. Aber sein Zögern dauert einen Moment zu lang. Elli hat ihn erreicht, genauer gesagt, sie hat den Zipfel seiner Jacke erwischt, und nun packt sie um so fester zu. Aber ihr Wollen ist größer als ihre Geschicklichkeit. Sie rutscht auf dem Schnee aus. Im Fallen fängt sie sich mit ihren Händen auf, und schon ist der Bruder freigegeben. Der nutzt den Augenblick und läuft seinen Freunden nach.

      Nein. In den Kindergarten gehen ist wirklich schrecklich. So hat Elli sich das überhaupt nicht vorgestellt. Die Leute haben wirklich schöne Spielsachen in den Regalen liegen. Sachen, die sich Ellis Eltern nicht leisten können. Da gibt es zum Beispiel eine Puppe, die kann Laute machen, wenn man sie dreht. Sie hat auch richtige Klapperaugen. Das haben die Leute in den Fabriken erst vor kurzem erfunden. Aber wenn man in den Gruppenraum herein kommt, darf man nicht gleich spielen. „Erst gibt es Frühstück.“ hatte die Erzieherin gesagt. Und danach sollten sie alle gemeinsam malen. Die Erzieherin brachte jedem Kind ein Stück schwarzes Papier und einen weißen Buntstift dazu. So etwas hatte Elli noch nie gesehen. Bei ihr zu Hause waren die Farben von Papier und Stift umgekehrt. Merkwürdig. Man konnte aber richtig auf dem Papier malen. Die Kinder sollten Schnee malen. Weil doch draußen Winter ist. Und dann ging die Erzieherin zu den Kindern an die Tische und hielt in der Hand eine Vase, darin waren Schneeglöckchen. Die Kinder sollten versuchen, auch ein Schneeglöckchen zu zeichnen. Schneeglöckchen mag Elli. Und die kennt sie ganz genau. Kürzlich war sie mit ihrem Vater in den Garten gegangen. Tief verschneit lagen die Beete. „Kannst du dir vorstellen, dass unter dieser Schneedecke Blumen wachsen?“ hatte er Elli gefragt. Elli tat entrüstet. Unter diesem kalten Schnee, der ihr immer so schnell die Hände frieren machte, dass die schmerzten? Nein, das konnte sie sich nicht denken. Der Vater hatte einen Spaten genommen und tief in die Schneedecke eingestochen. Vorsichtig hatte er eine Scholle heraus gehoben, mit den Fingern noch leicht über den Boden gefegt, und siehe: da standen sie. Lugten auf zarten Stängeln aus dem kalten Schnee heraus mit ihren zarten weißen Köpfchen, dass man beinahe ihr Schellen zu hören meinte. Schneeglöckchen! Ja, Schneeglöckchen konnte Elli gut malen.

      Das Malen war also nicht wirklich blöd. Gemein war nur, dass man nicht spielen durfte. Aber danach, bis zum Mittagessen, war endlich die Spielecke freigegeben. Jetzt wollte Elli sich auch die Puppe näher besehen. Aber eh sie sich versah, war das Spielzeug, was sie so interessant gefunden hatte, verteilt. Die anderen Kinder kannten schon die Regel: ‚Wer zuerst kommt, malt zuerst.’ Sie waren Hals über Kopf auf das Regal zugestürzt und hatten sich kurz entschlossen ein Spielzeug gegriffen. Zwei Kinder stritten noch, aber auch hier galt die Regel: „Wer hatte die Kiste zuerst in der Hand?“ der Erste war halt der Glückliche.

      Nach dem Mittag mussten sie Mittagsschlaf halten. Die Tische und Stühle wurden beiseite geräumt und Holzpritschen in den Raum gestellt. Dann sollten alle Kinder sich still hinlegen und die Augen schließen. Das war vielleicht merkwürdig! Elli war noch ganz aufgeregt von den vielen Erlebnissen und nun sollte sie die Augen schließen. Hinten, in der Puppenecke knackte es ganz verdächtig. Huch, kaum hatte Elli die Augen geöffnet, schon hatte es die Erzieherin bemerkt. Das war inzwischen eine andere Frau. Die ‚Spätschicht’, hatten die Großen erklärt. Die ‚Spätschicht’ war viel strenger als die Frau am Morgen. Schrecklich. Elli hatte Angst vor ihr. Aber irgendwann fand Elli das stille Liegen ganz lustig. Man konnte sich Geschichten ausdenken, und wurde durch nichts dabei gestört.

      Inzwischen war die Mittagszeit beendet, sie hatten Vesper gegessen und durften nun ins Freie spielen gehen. Bis die Eltern die Kinder wieder nach Hause abholen. Elli rutscht auf dem Schnee den Hang hinunter. Sie weint enttäuscht, der Bruder war davon gelaufen. Sie geht den anderen Kindern aus dem Weg, setzt sich in die Nähe der Erzieherinnen. Sie hat die Nase voll. Kindergarten ist einfach zu blöd.

      Beth. eins.

      Das Tor war verschlossen. Sie standen beide davor und ärgerten sich über die Leute vom Studentenclub. Sonst um diese Uhrzeit konnte man ungehindert ein- und ausgehen. Aber heute gab es keine Chance. Der Club war hoffnungslos überfüllt. Die Session hatte begonnen. Beth wand den Blick und sah auf den Jungen neben sich. Der war kein ‚Junge’ mehr, in der Art, wie sie sich noch als Mädchen empfand. Er war ganz offensichtlich älter als sie. Vielleicht schon am Ende des Studiums? Sie hatte erst in diesem Herbst damit begonnen. Er war ein richtiger Mann. Er wusste was von der Welt. So jedenfalls erschien er Beth. Sie hatte sich ihm zugewandt und ihre Blicke trafen sich zugleich. Auch er hatte sich ihr zugedreht. Sie sah ihm tief in die Augen. Das tat sie bei allen Männern so. Warum, wusste sie nicht. Er hielt ihrem Blick stand. Kein Lächeln, aber auch kein Flackern oder Ausweichen. Ein Brennen war da, das zwischen ihnen hin und her sprang. Sehnsucht?

      Das Tor blieb verschlossen. Scheinbar gelassen gingen sie Jeder seiner Wege. Sein brennender Blick war ihr bis ins Herz gedrungen. Später, als sie zu einander gefunden hatten, gestand er ihr, wie tief ihn diese Begegnung berührt hatte. Von diesem Moment an hatte er sie gesucht. Er hatte sie leicht gefunden. Sie wohnten ihm gleichen Haus, belegten dieselbe Fachrichtung. Er war nur zwei Jahre weiter als sie. Seit ihrer Begegnung am Tor hatte er ihre Wege beobachtet. Doch er sprach sie niemals an. Er war kein Jäger, aber auch nicht wählerisch. Er nahm schnell ein Mädchen mit in sein Bett. Doch es blieb beim One-Night-Stand. Er achtete diese Mädchen nicht, weil sie sich ihm so leicht hingegeben hatten. Er kannte Beth nicht. Doch zu seinen Freunden sagte er: „Die Kleene da drüben, seht ihr die? Der könnte ich treu sein.“ Sie liefen sich nicht wieder über den Weg. Das Wohnheim war ein Hochhaus und hier wohnten Hunderte von Studenten. So ging das wohl ein halbes Jahr. Die Sommerpause nahte. Beth war ungeduldig geworden. Sie spürte oft seine Blicke, sah ihn am Fenster nach ihr schauen, aber nie ergab sich die Gelegenheit, einander zu sprechen. Dann, endlich, eines Abends zur Disko, entdeckte sie ihn inmitten seiner Kumpels. Wieder trafen sich ihre Blicke, sie beobachteten einander, umkreisten sich wie Katzen. Doch eigentlich war Beth diejenige, die kreiste, ihn umkreiste, die Gruppe junger Männer ansteuerte, währenddessen er sicher im Kreis der Gruppe verharrte, sie aber nie aus den Augen verlor. Nichts. Beth hatte einen weiten Bogen um die Männer geschlagen, aber Er hatte sich nicht herausbewegt, nicht von der Stelle gerührt. Beth zog sich verwirrt