Hellen Scheefer

Aufenthalt bei Mutter


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Kind in ihrem Bauch gab ihrem Leben eine Wendung, ihrem Dasein einen tiefen Sinn.

      Beth begann zu organisieren. Prüfungstermine verlegen, ein Zimmer mit Platz für das Baby, eine Tagesmutter, wenn sie nach der Entbindung wieder an den Vorlesungen teilnehmen würde.

      Karl hatte inzwischen sein Studium beendet und war in seine Heimat zurückgekehrt. Dort war ihm als Absolvent ein Arbeitsplatz zuordnet worden. Beinahe einen ganzen Tag lang musste man mit dem Zug fahren und beim Umsteigen auf Bahnhöfen gelangweilt warten, um die Entfernung zwischen ihnen zurückzulegen. Karl konnte Beth bei allem nicht helfen.

      Beth und Karl planten zu heiraten. Sie brauchten auch eine Wohnung für einander. Bei seinen Eltern konnten sie nicht leben. Da war zwar Platz, aber kein Raum für so ein eigenes junges Leben. Es war keine Frage, dass Beth ihm in den Norden folgen würde. Obwohl, hier am Ort der Universität hatte sie Aussichten auf einen erfolgreichen Berufsweg. Es war auch keine Frage, dass sie heiraten würden. Beth wollte es. Sie wollte mit dem Vater ihres Kindes leben und sie wollte das allen Leuten zeigen.

      Erst Jahre später fragte sich Beth, ob denn Karl eigentlich auch hatte Vater werden und heiraten wollen. Oder hatte er aus Angst vor seinem Vater in alles eingewilligt, weil der Vater es nicht ertrug, wenn seine Söhne uneheliche Kinder in die Welt setzten?

      Es war schwierig, für sie zu Dritt eine Wohnung zu finden. Durch das Kind waren sie zwar bevorteilt, aber die Warteliste war lang und die Wohnungen für junge Leute in schlechtem Zustand. Als sie endlich an der Reihe waren, gab es keine Auswahl. Die Wohnung war klein, kalt, eine der Außenwände war voller Schimmel. Aber es war ihr eigenes Reich und allemal besser, als bei seinen Eltern, vor allem mit Karls Vater, unter einem Dach leben zu müssen. So jedenfalls meinte Karl.

      Als Karl die Wohnung endlich bezog, hatten Nachbarn den transportablen Ofen geklaut. Die waren Mangelware. Der Winter war hart, brachte langen und starken Frost und in der Küche gefror das Wasser am Boden.

      Dennoch waren sie glücklich miteinander. Vor der Entbindung reiste Beth zu Karl. Die Wohnung war frisch tapeziert und gestrichen, ein neuer Ofen in Aussicht, das Waschbecken heil. Sie hatten Platz für das Baby und sie konnten jeden Tag zusammen sein.

      Das Baby kündigte sich am Abend an Beths Geburtstag an. Ein bisschen vor der Zeit. Blasensprung. Die Geburt musste künstlich eingeleitet werden und: die Wehen waren hart. Beth erschrak an der Gewalt der Schmerzen. Aber alles verlief schnell und gut und noch in der Nacht hielt sie ein gesundes Mädchen im Arm.

      Zehn lange Wochen waren Beth und Karl in ihrem neuen Heim einander nah, und mitten drin: ihr Baby. Es war von freundlichem, ausgeglichenen Wesen, schlief fiel und gedieh gut. Ein Sonntagskind halt. Es sollten die glücklichsten Wochen ihres gemeinsamen Lebens werden.

      Als das Kleine zwei Monate alt war, kehrte Beth in ihr Studium zurück. Wenn sie Hilfe brauchte, konnte sie auf ihre Mutter zählen. Karl kam jedes zweite Wochenende zu Besuch. Häufiger konnte er nicht, der Weg war zu lang. Karl sah keine Probleme. Sollte Beth einmal ernsthaft krank werden, dann konnte doch ihre Mutter helfen. Die wohnte doch ganz in der Nähe.

      Beth fand den Anschluss an die Vorlesungen. Tags war sie in der Universität, nachmittags holte sie die Kleine von der Tagesmutter ab, erledigte den Haushalt und war für das Kleine da. Nachts lernte sie.

      Beth blieb keine Zeit für Geselligkeiten, gemeinsame Abende mit Freunden, tanzen gehen. Sie hatte dafür auch nicht die Kraft. Sie unterwarf sich streng ihrem selbstgewählten Tagesablauf. Und sie erreichte gute Abschlüsse. Ihr kleines Mädchen gedieh prächtig. Es habe das passende Gemüt für ein Studentenkind, meinte Beths Mutter. Bei aller Härte und Konzentration im Alltag war Beth glücklich. Sie bestimmte ihren Tagesablauf selbst. Wählte aus, welche Fächer sie in der Universität direkt hörte und welche sie im Selbststudium am Abend nachholte. Beth plante und entschied für zwei Leben. Unbemerkt für sich selbst veränderte sie sich.

      Elli. drei.

      Heute ist Sonntag. Das ist ein schöner Tag. Mutter und Vater haben gute Laune, weil sie ausschlafen dürfen. Die Kinder dürfen morgens, wenn sie aufgewacht sind, zu den Eltern ins Bett kommen.

      Als Elli heute Morgen wach wird, fehlen schon einige Geschwister in ihren Betten. Sie schaut zu den Eltern ins Schlafzimmer. Da tummeln sich schon die beiden älteren Schwestern. Elli wird mit einem fröhlich „Hallo“ begrüßt. Vaters Bett ist schon belegt, die Ältere ihrer Schwestern kuschelt an ihm. So kriecht Elli zu der Mutter ins Bett. Mutter und Ellis mittlere Schwester gackern gerade und kichern. Die Schwester erzählt gerade eine Geschichte. Das kann sie gut. Dauernd fallen ihr so lustige Sachen ein. Allerdings nehmen die Beiden kaum Notiz von Elli oder, anders ausgedrückt, Elli stört ihre Zweisamkeit. So liegt sie in der Mitte des großen Doppelbettes, neben ihr tummelt es sich, und sie fühlt sich allein.

      So vergeht ein morgendliches Stündchen, bis der Frühstück-Hunger ruft. Das Schlafzimmer leert sich. Endlich ist der Platz an Vaters Seite frei. Elli schmiegt sich ganz dicht an ihn. Mit ihm mag sie gerne kuscheln, Mutters Körper dagegen spürt sie nicht gerne. Als Vater und Elli allein im Zimmer zurückbleiben, zieht Vater Elli ganz dicht an seinen Bauch und schiebt sie unter das Bettdeck. Dort ist es dunkel. Er hält sie ganz fest, schiebt ihr seinen Daumen zwischen die Beine und beginnt zu reiben. Einmal, als Elli im Keller Strafe sitzen musste und er das gleiche an ihr tat, hatte Elli ihn gefragt, was er da mache. Da hatte er geantwortet, er reibe sie mit seinem Daumen zwischen den Beinen, damit sie aufhöre zu weinen. Sie mag es eigentlich nicht, wenn Vater dieses Reiben mit ihr machte. Sie spürt aber, dass Vater seinen Spaß daran hat und inzwischen hatte auch sie ihren Teil daran entdeckt. Außerdem tut sie für ihn. Sie hat ihn halt lieb, und so tut sie ihm den Gefallen. Endlich ist der Vater zufrieden und Elli taucht unter der Bettdecke wieder auf. Der Vater küsst und streichelt sie. Flüstert ihr ins Ohr: „Du bist halt meine Beste.“ Ja, Elli weiß, dass Vater sie von seinen drei Töchtern am liebsten hat. Das macht sie stolz.

      Die Tür zum Schlafzimmer wird aufgerissen. Mutter ist wütend. „Steht ihr nun endlich auch mal auf? Das Frühstück ist schon gleich fertig.“ Elli erschrickt. Die Mutter darf doch nichts wissen. Elli rutscht in Vaters Schatten, lugt vorsichtig nach Mutters Gesicht. Die scheint nichts zu ahnen. Vater antwortet friedfertig, dass sie gleich aufstehen werden.

      Am Abend gibt es wieder Ärger für Elli. Sie sei zu laut und zu wild. Morgen müssen die großen Kinder wieder in die Schule und rechtzeitig Schlaf bekommen. Elli muss das gemeinsame Kinderzimmer der Geschwister verlassen und sich zu den Eltern ins Bett legen. Elli versteht das nicht. Bis eben hatten alle Kinder getollt und mit den Kissen durchs Zimmer geworfen. Die Großen waren gerade dabei sich umzuziehen. Sie und der Bruder lagen schon gewaschen im Bett. Als die Tür aufging und Vater zu schimpfen drohte, rief die mittlere Schwester schnell: „Elli. Die tobt wieder wie toll herum. Sie ist überhaupt nicht zu bremsen.“ So kam es, dass Elli nun allein im Schlafzimmer liegen muss. Das ist wirklich sehr traurig. Abends, wenn das Licht ausgeht, ist es nämlich im Kinderzimmer besonders schön. Die Geschwister erzählen dann Geschichten aus der Schule oder von Freunden. Und überhaupt diese Sachen aus der großen Welt, die Elli noch gar nicht richtig versteht. Sie hört dann immer ganz genau zu und beneidet vor allem ihre großen Schwestern. Was die alles schon können und alleine machen dürfen!

      Stattdessen muss sie nun hier alleine liegen. Sie versteht auch gar nicht, wieso immer sie ,Die Böse' ist. Die anderen hatten genauso herum getobt wie sie. Und lauter als die anderen war sie auch nicht. Sie hat nun mal ein so lautes Organ. Hat jedenfalls ihre Tante ihr mal erklärt.

      Elli weint leise vor sich hin. Sie ruft einfach so in den Raum hinein: „Kommt Jemand ‚Gute Nacht’ sagen? Ich habe noch kein Küsschen bekommen.“ Niemand kommt. Mutter nicht. Das wundert sie wenig. Aber auch Vater kommt nicht. Sie hört ihn im Flur vorbei gehen, aber er öffnet nicht die Tür. Nun wird sie ernstlich traurig.

      In ihrem Weinen bemerkte sie gar nicht, dass sich doch die Tür geöffnet hatte. Ihre ältere Schwester steht im Zimmer. Sie ist schon zwölf, ein großes Mädchen, fast wie eine Mutter für Elli. „Soll ich ein bisschen kuscheln kommen?“ Elli freut sich, umarmt die Schwester glücklich. „Du bist halt meine Ersatzmama.“