Fjodor Gladkow

Zement


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fühlte.

      Von der Veranda aus beobachtete Gleb eine Schar ausgemergelter Kinder, die zwischen den Büschen und den spärlichen Obstbäumen umherflitzten. Sie warfen sich auf die Erde, wühlten mit gieriger Hast und diebischen Seitenblicken. Sie wühlten und rissen einander die Beute aus den Händen. Einige stöberten im Misthaufen am Zaun.

      Gleb war erschüttert; er wies mit dem Kopf auf die Kinder und sah Dascha starr ins Gesicht. „Sie verhungern euch hier noch alle, Dascha. Erschossen müsstet ihr werden für eure Arbeit."

      Dascha hob verwundert die Brauen, sah hinunter und lächelte. „Ach, du meinst die Wühlerei? Nicht halb so gefährlich, es gibt Schlimmeres. Wenn wir nicht so aufpassten, wären sie uns längst alle wie die Fliegen gestorben. Als wir die Heime aufmachten, hat es überhaupt nichts zu essen gegeben. Und wenn man dem Personal nicht auf die Finger sähe, wäre es den Kindern schon an die Kehle gegangen. Das heißt, es gibt auch Anständige darunter, schon unsere Schule."

      „Und Njurka? Wühlt sie auch so in der Erde und im Mist wie diese hungrigen Ferkel da?"

      „Ist Njurka denn etwas Besseres als die anderen? Ihr ist es auch oft dreckig gegangen. Ohne unsere Frauen wären die Kinder vor Läusen und Seuchen umgekommen."

      Während Gleb und Dascha den Berg heruntergekommen waren, hatten sie noch Kinder auf der Veranda gesehen. Nun aber waren alle verschwunden, auch die Pflegerinnen. Sie waren wohl fortgelaufen, um die Ankunft von Gästen zu melden.

      In dem Saal stand prall die Sonne, die Luft war drückend heiß. Auf den Betten, die in zwei Reihen aufgestellt waren, lagen weiße und rosa Decken voller Löcher und Flicken. Die Kinder hatten graue Kittelhemden an, die wie Säcke aussahen. An den Wänden hingen selbstgemalte Bildchen aus den Arbeitsgemeinschaften der Kleinen.

      Einige Pflegerinnen blieben ehrerbietig stehen. „Guten Tag, Genossin Tschumalowa, die Leiterin kommt gleich." Dascha war hier in ihrem Reich. „Njurka, da bin ich, Njurka!"

      Eines der Mädchen in grauem Kittel, das kleinste von allen, lief Dascha kreischend und lachend entgegen. Die anderen Kinder kamen genauso kreischend hinterher gerannt. „Tante Dascha ist da! Tante Dascha ist da!"

      Njurka! Wie hatte sie sich verändert, der kleine Racker, nicht wieder zu erkennen! Ganz fremd mutete sie ihn an, und doch wieder vertraut.

      Sie flog auf die Mutter zu und vergrub sich in ihrem Rock. „Mama! Meine Mama!"

      Dascha schloss sie lachend in die Arme, drehte sich mit ihr im Kreise und küsste sie ab.

      Das war wieder die alte Dascha, die Dascha, die ihn einst jeden Abend mit der Kleinen erwartet hatte. Die gleiche Zärtlichkeit, die gleichen feuchtschimmernden Augen, die gleiche singende, nervös vibrierende Stimme.

      „Sieh mal, Njurkalein, das ist dein Papa. Sieh doch! Erinnerst du dich noch an deinen Papa?"

      Njurka sah Gleb mit ihren blauen Augen scheu an und zog ein finsteres Gesicht.

      Gleb lachte, streckte ihr die Hand hin und fühlte, wie sich ihm die Kehle zusammenschnürte.

      „Gib mir einen Kuss, Njurkalein. Wie groß du bist! Bald so groß wie die Mama."

      Das Kind wich vor ihm zurück und sah wieder forschend die Mutter an.

      „Das ist Papa, Njurka."

      „Nein, das ist nicht Papa. Das ist ein Rotarmist."

      „Aber ich bin doch beides — dein Papa und Rotarmist."

      „Nein, das ist nicht mein Papa." Dascha lächelte unter Tränen.

      „Na schön, fürs erste bin ich eben nicht dein Papa. Aber mein Töchterchen bist du trotzdem. Wir wollen Freunde sein, wir beide. Das nächste Mal bringe ich dir Zucker mit. Ganz bestimmt, und wenn ich den Berg danach umgraben müsste. Ist denn die Mama besser als ich? Du bist hier — sie aber ist dort."

      „Mama ist hier. Am Tage ist sie hier, und auch wenn es nicht Tag ist. Aber Papa ist fort. Ich weiß nicht, wo Papa ist. Papa schlägt sich mit den Burschos."

      „Oh, das hast du aber fein gesagt! Komm, dafür kriegst du einen Kuss."

      Die Kinder starrten Gleb neugierig an, lachten und warteten sehnsüchtig darauf, dass Tante Dascha sich auch mit ihnen beschäftige. Die Mädchen, kahl geschoren wie Jungen, hielten Veilchensträußchen in den Händen und streckten sie ihr um die Wette hin; jede wollte ihr als erste die Blumen in die Hand drücken.

      „Tante Dascha! Tante Dascha!"

      In einem abgelegenen Zimmer trommelte jemand auf dem Klavier, und ein Kinderchor sang in allen Stimmlagen:

      Wacht auf, ihr Kinder neuer Ordnung, befreite Jugend aller Welt...

      Dascha lachte, streichelte den Kindern die Köpfchen, und man merkte, dass die Kleinen es gewöhnt waren, von ihr geliebkost zu werden, und darauf warteten wie auf das tägliche Brot.

      „So, ihr Rangen, was habt ihr heute gegessen, was habt ihr getrunken, wessen Bäuchlein ist voll, wessen leer? Erzählt mal!"

      Sie schrieen durcheinander, kratzten sich den Bauch und den Kopf. Ein schmuddliges kleines Kerlchen zog die Nase hoch, schluckte den Schleim hinunter und scheuerte sich ächzend die Brust, die Augen weit aufgerissen. Gleb trat zu ihm und hob sein Hemd hoch. Der Kleine brüllte los, rannte in eine Ecke und drückte sich hinter die Betten. Man sah nur noch seinen Kopf und die weitaufgerissenen Augen.

      „Trat-ta-ta-ta! Was für ein grimmiger Held — immer gleich rauf auf die Barrikaden!"

      Alles lachte. Und durch die offenen, türgroßen Fenster lachte die Sonne herein.

      Dascha nahm Njurka bei der Hand und ging voraus. Gleb empfand schmerzlich, dass er auch hier fremd war. Njurka an der Hand, mitten unter den Kindern, ließ Dascha ihre Stimme ertönen wie ein Glöckchen. Er aber war einsam und kinderlos, hier nicht minder als zu Hause.

      Ja, auch hier wollte das Leben zurückerobert werden ... Sie gingen durch alle Stockwerke. Im Speisesaal — Essgeschirr und Kinder; in der Küche — Dampf, Graupendunst und auch wieder Kinder; dann der Klubraum — ohne Möbel, die Wände voller Schimmel und selbstgepinselten Bildchen. Hier umdrängte der Kinderchor ein junges Mädchen mit kurz geschnittenem Haar und einem braunen Muttermal über die ganze Wange und sang durcheinander:

      Wacht auf, ihr Kinder neuer Ordnung, Erbauer der geeinten Welt...

      Auch die beiden Nachbarinnen, die Domacha und Lisaweta, arbeiteten im Kinderheim mit. Sie muteten Gleb ebenfalls wie etwas Neues, noch nie Gesehenes an. Die Domacha war in der Küche und half beim Kochen. Erhitzt, mit aufgekrempelten Ärmeln wirtschaftete sie herum, als sei sie hier zu Hause. Sie empfing Dascha mit Küssen.

      „Aha, unsere Atamanin ist gekommen. Du musst dir dieses ekelhafte Volksbildungskommissariat mal vorknöpfen. Sie sollen was tun und nicht nur in die Rotzlappen schnauben! Aber erst die vom Versorgungskomitee, die müsste man mit dem Schädel an die Wand hauen. Wo gibt's denn so was, dass man Kinder mit Würmern und Mäusedreck füttert? Was, der Herr Gemahl ist wieder da? Schaff ihn dir vom Halse! Meiner ist nicht zurückgekommen — um so besser! Hol's der Teufel! Mach mir nicht bange mit deiner Trichterhaube! Aber ins Versorgungskomitee gehe ich selbst und trete ihnen mit dem Stiefel in die Fresse."

      Dascha klopfte ihr auf den breiten Rücken und lachte. „Na, du schnatterst ja mal wieder was zusammen. Ein tolles Weibsstück bist du, Domacha, uff!"

      „Der ganzen Bande dort müsste man die Zähne einschlagen. Solche Höllenhunde, denken nur immer an den eigenen Wanst. Ich werde ihnen allen den Hintern versohlen." Gleb lachte.

      Lisaweta fanden sie in der Speisekammer bei der Wirtschaftsleiterin. Beide waren hochgewachsene, stolze Frauen, waren sauber gekleidet und sahen wie Krankenschwestern aus. Die Wirtschaftsleiterin war dunkel, mit einem kleinen armenischen Schnurrbärtchen, Lisaweta weißblond und füllig (trotz Hungersnot und Verfall!). Sie prüften Lebensmittel auf ihr Gewicht hin und machten sich Notizen.

      Lisaweta