Carsten Bloch

Mrs. Livarot hatte etwas von einem Pinguin oder Kreuzfahrt am Ende der Zeit


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      Carsten Bloch

      Mrs. Livarot hatte etwas von einem Pinguin oder Kreuzfahrt am Ende der Zeit

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       1

       2

       3

       4

       5

       6

       7

       8

       9

       10

       11

       12

       Impressum neobooks

      1

      Mrs. Livarot hatte etwas von einem Pinguin. Ob es das Watschelhafte ihres Ganges war, ihre hüftlose Statur, ihr schnattriger Sopran, wenn sie Mozart zu intonieren versuchte, oder einfach nur ihre Vorliebe für schwarz-weiße Mode, ließ sich nicht genau sagen. Doch früher oder später ertappte sich jeder an Bord im Angesicht ihrer Körperfülle bei der Frage, wie es wohl den Pinguinen weit unten im Süden gehen mochte.

      Wäre ein Pinguin zugegen gewesen, so hätte er vermutlich darauf hingewiesen, dass Mrs. Livarots Lachen eher dem einer Hyäne glich, ihr gepudertes Gesicht eher dem eines Mandrills und ihre Hochsteckfrisuren eher einem Wiedehopf, ihr Auftreten folglich alles andere als pinguinisch war. Denn mit Mrs. Livarot verglichen zu werden, war keinesfalls ein Kompliment. Sie galt als streitsüchtig und taktlos, und die Empfänge, die sie in ihrer Suite gab, zählten zu den langweiligsten im gesamten Oberdeck.

      Dass trotz dieser geringschätzigen Beurteilung bezüglich ihres Charakters niemand widersprach, als sie die Schiffbrüchige in der leer gewordenen Kabine neben der ihren einquartieren ließ, lag daran, dass immerhin sie es gewesen war, die das winzige Fischerboot am Horizont entdeckt hatte. Sie war es gewesen, die sich eines Morgens gedankenschwer über die Reling geneigt hatte, eine Packung Butterkekse in der Handtasche, die sie tags zuvor am Kiosk erstanden hatte. Sie war es gewesen, die kurze Blicke nach rechts und links geworfen und sich in unbeobachteten Augenblicken einen Keks in den Mund gestopft hatte. Unbeobachtete Augenblicke deshalb, weil Kapitän Caerphilly erst neulich eine unfreundliche Bemerkung bezüglich ihrer Figur gemacht hatte. Bei jedem anderen hätte es sie nicht weiter gestört, doch der Kapitän, nein, ihm durfte man nicht missfallen. Seine zurückgekämmten weißen Haaren und die dunkelgrauen Schläfen, sein stets zusammengekniffener Mund, der ihr jeden Tag, wenn sie sich beim Frühstücksbüfett über den Weg liefen, sein „Guddenmorgen“ entgegenbrachte, in all dem lag so viel Ausdruck, so viel respekteinflößende Autorität, dass sie gar nicht anders konnte, als ihn zu verehren. Denn auch wenn sie es sich nie eingestanden hätte, Mrs. Livarot brachte Uniformen von jeher eine ehrfürchtige Begeisterung entgegen. Auch ihr inzwischen jenseitiger Gatte hatte die Uniform eines Marines getragen, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte im Supermarkt an ihrer Kasse angestanden. Sie hatte ihn angestarrt und gewusst: Der ist es. Der schnittige Gang, der selbstbewusste Ausdruck in den Augen, die sparsamen Bewegungen. Der oder keiner, das war ihr sofort klar gewesen.

      So hatte sie sich geweigert, ihm sein Wechselgeld herauszugeben, wenn er sie nicht zum Tanzen einladen würde. Sie verlor daraufhin ihren Job, da dieses Verhalten in den Augen ihres Vorgesetzten die freundliche Atmosphäre eines frisch geschruppten Supermarkts beeinträchtigte. Doch es hatte auch etwas Gutes, denn Mr. Livarot lud sie aus Mitleid tatsächlich zum Tanzen ein.

      Wenn Caerphilly nun in seiner geschmackvollen Kapitänsuniform mit den unauffälligen Mustern in Gold und Dunkelblau, dieser zu Stoff gewordenen Macht, wenn dieser Caerphilly Livarot für zu dick hielt, dann würde sie eben Diät halten. Es war nur so, dass ihr Magen manchmal nach Butterkeksen schrie, und ihrem Magen durfte man nicht widersprechen. Er konnte brüllen und jammern und um sich schlagen, wenn er nicht bekam, was er wollte. Da war es besser, Kekse in sich hineinzuschieben und niemanden sehen zu lassen, dass es mit ihrer Diät nicht so weit her war. Und es war nicht schwierig, ungesehen zu naschen, hatten doch alle Passagiere ihre Liegestühle längst um den Swimmingpool oder den Tennisplatz gruppiert, anstatt auf das Meer hinauszublicken. In der Sonne zu liegen und das Meer zu betrachten, das konnte zwei Wochen lang interessant sein, vielleicht drei oder vier, aber länger nicht. Denn im Grunde gab es nichts, was weniger zusammenpasste als das seichte Hellblau eines sonnenbeschienenen Himmels, dieses Babywäsche-Blau, dieses Geschenkband-Blau, das einen einzulullen versuchte mit seinem kitschigen Grinsen, und das tiefe, dunkle Blau des Meeres, als hätte jemand ein Tintenfass darin ausgegossen, so dunkel, als würde die Tinte noch immer nach Worten suchen, die sie niederzuschreiben hoffte. Es war unpassend und irgendwie langweilig, und deshalb saßen die Passagiere lieber um den Tennisplatz und betrachteten die schwitzenden Körper, die einen gelben Ball verprügelten. Das war das Leben. Nicht eine gelangweilte Welle, die an all die Jahre dachte, die sie noch durch das Meer kriechen müsste, ehe sie jemals einen Strand erreichen würde.

      Mrs. Livarot hatte also an ihren Keksen geknabbert und uninteressiert auf das Meer hinausgeblickt, als sie plötzlich einen heiseren, Kekskrümel sprühenden Schrei ausgestoßen hatte, weil der Wind am Horizont nicht mehr nur mit den Wellen, sondern mit einer Nussschale gespielt hatte. Wenig später stellte sich heraus, dass es sich um das gerade noch aus dem Wasser ragende Wrack eines Fischerbootes handelte, aus dem eine halbverdurstete junge Frau geborgen werden konnte.

      So war es also nur Mrs. Livarot zu verdanken, dass das arme Mädchen dem Tode entrissen werden konnte und – noch bedeutender – dass die Plaudereien bei Tisch, denen bereits vor Wochen der Gesprächsstoff ausgegangen war, neu belebt, ja sogar gerettet wurden.

      An dem Nachmittag nach der wundersamen Rettung, als der Schiffsarzt Schabziger noch die Wunden der Geborgenen pflegte und ihr Infusionen einflößte, bewiesen die Passagiere beim Tee viel Fantasie, was die Herkunft der Unbekannten betraf. Mrs. Chester, eine Frau mit aufgedunsenem Gesicht und billiger Dauerwelle, hielt sie für eine Prinzessin, die vor den Anschlägen ihrer sie hassenden Schwiegermutter geflohen war. Caciocavello, ein einst viel geliebter, doch inzwischen ausrangierter Showmaster, sah in der Fremden ein Bauernmädchen, das davongelaufen war, nachdem ihr Vater es für einen Sack Gold an einen arabischen Pferdehändler hatte verkaufen wollen.

      Livarot genoss bei diesen Tischgesprächen die neidischen Blicke, die auf ihr ruhten. Der Kapitän hatte veranlasst, dass kein Passagier die Kabine der Schiffbrüchigen betreten durfte. Lediglich bei Livarot als Mieterin der Kabine hatte er eine Ausnahme gemacht. Die Theorien über die Vergangenheit der jungen Frau bedachte die Amerikanerin nur mit einem abschätzigen Lächeln. Und mit einigen wenig Interesse weckenden Auskünften über ihre Gemäldesammlung und ihren ehemals angetrauten Gatten.

      Als erfolgreicher Werbemanager hatte er Mrs. Livarot einst ins Rampenlicht der Öffentlichkeit katapultiert