Carsten Bloch

Mrs. Livarot hatte etwas von einem Pinguin oder Kreuzfahrt am Ende der Zeit


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ruhigen Landsitz in Florida zu erfüllen, der zuvor die Abende ihres tristen Kassiererinnendaseins jenseits des siebten Glases billigen Gins bevölkert hatte. Eigentlich hätte sie in diesen schon längst vergangenen Tagen auch nur von einer teureren Gin-Marke träumen können, das wäre bodenständiger und ebenso unerreichbar gewesen, doch Bodenständigkeit und Träume passten einfach nicht zusammen. Aber nachdem sie nun einmal am Kelch des dolce vita genippt hatte, wollte sie sich mit banalen Träumereien wie diesen nicht mehr zufriedengeben. Ihre Zeit als Gattin eines Managers des Jahres im Scheinwerferlicht des öffentlichen Interesses, verfolgt von schnarrenden Fotoapparaten und abgebildet in bunten Frauenmagazinen, täglich nach Lieblingsrezepten und Haushaltstipps befragt, diese kurze Zeit hatte sie süchtig werden lassen nach Aufmerksamkeit, nach der Bedeutung, die eine auf sie gerichtete Fernsehkamera ihr gab. Sie wollte niemals wieder in der anonymen Masse der Mittelmäßigkeit untergehen, und sie hatte unschöne Qualen erlitten, als nach dem mehrere Monate nach der Trennung bekannt gewordenen Tod von Mr. Livarot das Interesse an ihr endgültig zerging wie ein Eiswürfel in der Sonne. Die Presse hatte längst andere Frauen entdeckt, die ebenso reich und schillernd waren wie Livarot, dafür aber noch jung und schön.

      Livarot hatte versucht, mit rauschenden Festen und mit spektakulären Millionen-Dollar-Projekten die öffentliche Aufmerksamkeit dazu zu bringen, sich mit ihr unter vier Augen zu verabreden. Sie hatte sich sogar vielversprechende, aber mittellose Künstler als Liebhaber gehalten. Es hatte alles nicht geholfen. Schließlich hatte sie es aufgegeben. Sie wusste, dass ihr Reichtum genügte, um zumindest bei einigen Kleingeistern Eindruck zu hinterlassen, und damit hatte sie sich zufriedengegeben. Sie hatte darauf gesetzt, reich auszusehen, reich zu klingen, sich reich zu benehmen, und hatte die Spuren genossen, die sie damit wenigstens in den Köpfen einiger Mitmenschen hinterlassen konnte.

      Daher hatte sie an diesem Nachmittag einiges nachzuholen. Noch während das Teegeschirr abgeräumt wurde, fütterte Livarot die Anwesenden ohne jeden Zusammenhang mit den in ihren Hirnwindungen herumlungernden Gedanken, die hinaus ans Tageslicht wollten, selbst wenn sie für ein intellektuelles Kräftemessen noch nicht in Form waren. Und die Zuhörenden wagten nicht, das Weite zu suchen, aus Angst, sie könnten eine entscheidende Äußerung bezüglich des neuen Passagiers verpassen.

      Alles in allem war es ein fantastischer Nachmittag.

      Für Mrs. Livarot.

      Zwei Tage später öffnete die Aufgenommene zum ersten Mal die Augen. Regungslos lag sie in ihrem Bett und betrachtete staunend den Kronleuchter, der direkt über ihr hing. Die zwei Dutzend aus Glas nachgeformten Kerzen und die geschliffenen Kristalle, die wie in einer umgewendeten dreistöckigen Torte darunter baumelten, glitzerten im Licht, das durch das Bullauge fiel.

      „Haben alle Zimmer im Himmel so kitschige Kronleuchter?“, fragte sie mit schwacher Stimme. Die Frage galt Livarot, die zufällig zugegen war und gerade die Kabine mit dem von ihr nicht mehr benötigten Ramsch nach ihrem Geschmack einrichtete.

      Zunächst war Livarot ein wenig verwirrt über die Frage. Sie blickte die Schiffbrüchige zweifelnd an, doch dann lachte sie, während sie einen handgroßen Glasfisch auf dem Nachttisch deponierte. „Nein, nein, du bist hier nicht im Himmel, du bist hier auf einem Kreuzfahrtschiff. Auf der Jafet.“

      „Aha“, erwiderte die Schiffbrüchige. „Aber warum bin ich nicht in den Himmel gekommen?“

      Ohne den Kopf zu bewegen, schaute sie sich den Tropf an, dessen Schläuche in ihrem rechten Handrücken endeten. Dann fiel sie erneut in Ohnmacht, doch von nun an war ihr Schlaf ruhig und erholsam, und ihr Atem ging so gleichmäßig wie das Ticken einer Uhr.

      An diesem Abend war Livarot geladen, am Tisch von Kapitän Caerphilly zu dinieren. Ein Gefühl von Glückseligkeit stieg aus ihrem Herzen auf bis zu ihren Wangen, deren aufgeregte Röte nur mit viel Puder maskiert werden konnte. Sie hatte bereits vier neue Kleider in der Schiffsboutique gekauft, dreimal ihre Frisur und einmal die Haarfarbe geändert, seit sie an Bord war, nur um die Aufmerksamkeit des Kapitäns zu erhaschen. Doch es war vergeblich gewesen. Ihr Wunsch, Vertraulichkeiten mit ihm auszutauschen, wurde vom stets distanzierten Kapitän beiseitegefegt. Doch nun hatte er sich die Mühe gemacht, sie auf ihrem Trimmrad im Fitnessraum aufzusuchen, auf dem sie nachmittags gerne ein paar Stunden träge herumsaß, um sich mit Mrs. Chester über Kuchenrezepte und alte Seifenopern zu unterhalten, und er hatte sie persönlich und mit Nachdruck an seinen Tisch gebeten. Das war eine erhebende Wendung der Umstände. Am Horizont ließ sich das Glimmen besserer Zeiten erahnen, was den sofortigen Kauf eines neuen Kleides notwendig gemacht hatte.

      Das Princess-Restaurant beherbergte etwa dreißig runde Tische in verschiedenen Größen, die auf zwei durch eine breite Treppe verbundenen Ebenen verteilt waren. Teppiche und Polster waren in Burgunderrot gehalten, ebenso wie die innenseitig mit Leder beschlagenen Eingangstüren. Zwischen den Tischen erhoben sich kindsgroße Marmorstatuen, die wenig sittsam bekleidete junge Frauen darstellten, umgeben von haufenweise Farnen und anderem Grünzeug. Der Eingangsbereich war von zwei marmornen Springbrunnen mit glubschäugigen, wasserspeienden Fischen umsäumt. Am Ende des Saals gab eine große Fensterfront den Blick auf das Meer frei, zumindest bei Tag; nun war sie nichts weiter als eine schwarze Wand, in der sich die Tische spiegelten. In der Mitte des Saals befand sich eine Tanzfläche mit elfenbeinfarbenem Untergrund, der jedoch farblich zum Konformismus überredet wurde, indem er noch vor Beginn der Mahlzeit von rot getönte Lampen ausgeleuchtet wurde. Auf einem Podest nahe der Tanzfläche warteten zahlreiche Musikinstrumente auf ihre Besitzer.

      Das Dinner begannen an diesem Abend mit Wachteln gefüllt mit Morcheln und Trüffeln in einer Tomaten-Koriander-Soße. Die Füllung aus Zwiebeln, Mandeln und mit Mehl angerührten Gewürzen ergab eine vorzügliche Kruste für die Wachteln, die mit frischem Koriander garniert waren. Dazu wurde ein Portwein gereicht.

      Die erste Hälfte der Wachteln verging bei einer lustlosen Diskussion über die New Yorker Börse, die der Besonderheit des Abends keinesfalls gerecht wurde. Livarot hockte nervös auf ihrem burgunderroten Polsterstuhl. Dann veranlasste die Neugierde den Kapitän endlich dazu, sich an den Schiffsarzt Schabziger zu wenden und sich nach dem Befinden der Schiffbrüchigen zu erkundigen.

      Der Arzt erklärte lapidar, dass ihre Genesung voranschreite und man sie schon bald als neues Mitglied der Gesellschaft begrüßen könne. Aus Angst, das Thema könnte damit beendet sein, mischte sich Livarot ein und erzählte dem Kapitän, dass die junge Frau in ihrer Gegenwart kurz aufgewacht sei und berichtet habe, sie sei mit ihrem Boot von einem Sturm überrascht und abgetrieben worden. Dies sei schon so lange her, dass sie nicht einmal von dieser furchtbar dummen Katastrophe gewusst habe, die nun schon mehreren Wochen zurücklag. All die Zeit habe die junge Frau sich von selbst gefangenen Fischen und Regenwasser ernähren müssen, bis ihr Hunger und Schwäche das Bewusstsein geraubt hätten.

      Dies war zugegebenermaßen gelogen. Die Schiffbrüchige hatte nichts von alledem erzählt. Mit Ausnahme der kurzen Frage nach dem Kronleuchter hatte Livarot kein Wort mit ihr wechseln können, doch die Amerikanerin war immerhin bodenständig genug, um den Fantasien von Töchter aufkaufenden Pferdehändlern oder mordenden Schwiegermüttern etwas Handfestes entgegenzusetzen, und so tat die Äußerung ihre Wirkung. Caerphilly nickte interessiert, fragte sogar nach. So erhielt Livarot die Gelegenheit, nochmals in aller Ausführlichkeit zu erzählen, wie sie zur Reling gegangen war, wie sie sich dem Meer zugewandt und wie sie plötzlich etwas gesehen hatte, das wie ein kleines Boot aussah.

      Ihre Butterkekse erwähnte sie nicht.

      „Das arme Ding“, sagte die ebenfalls am Tisch sitzende Mrs. Chester mitleidsvoll, und alle Gäste der Tafelrunde stimmten ihr zu. Die ganze Zeit von Fischen leben zu müssen, war schon eine traurige Angelegenheit, aber Regenwasser zu trinken, solange es noch Champagner auf dieser Erde gab, das war furchtbar.

      „Wovon wird das Mädschen ’ier leben?“, fragte Mme de Saint-Paulin, eine Dame von echtem französischem Adel, und nippte mit abgespreiztem kleinen Finger an ihrem Sherry. „‘ier an Bord wird sie Geld benötigen.“

      Saint-Paulin sprach stets mit einem französischen Akzent, auch wenn sie ihn nicht nötig hatte, da sie den größten Teil ihres Lebens in Deutschland zugebracht hatte. Ihre Nase war krumm wie ein Enterhaken, und das brünette,