Carsten Bloch

Mrs. Livarot hatte etwas von einem Pinguin oder Kreuzfahrt am Ende der Zeit


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und einem angebissenen Friseurenfinger, an deren Einzelheiten sie sich längst nicht mehr erinnern konnte.

      „Nicht doch“, meinte Livarot großmütig und lächelte den Kapitän an. „Das ist alles kein Problem. Ich werde natürlich für die Unkosten des Mädchens aufkommen. Das mit der Kabine ist ja bereits geregelt.“

      Sie schob sich eine halbe Wachtel am Stück in den Mund.

      Geld hatte keine Bedeutung für Livarot. Sie hätte noch ein Dutzend weiterer Passagiere durchfüttern können, wenn sie denn gewollt hätte. Doch die Schiffbrüchige, das war etwas anderes, das war ein Geschenk des Himmels. Eine Gelegenheit, die man sich unbedingt zum Gefährten machen musste. Jeder an Bord war neugierig auf dieses Mädchen und wollte in ihre Nähe gelangen, doch dafür würden sie alle erst einmal an ihr, Livarot, vorbeikommen müssen. Und an ihr, Livarot, würde nur vorbeikommen, wer zuvor ihre, Livarots, Gunst erworben hatte.

      „Vor allem um Kleidung und solche Dinge werde ich mich natürlich kümmern müssen“, fuhr sie kauend fort. „So, wie sie von dem Boot geholt wurde, kann sie nicht herumlaufen.“

      „Ich fürchte, in unseren Boutiquen werden Sie nicht mehr viel finden“, warf Kapitän Caerphilly ein.

      „Vielleicht könnte jemand einige meiner Kleider umnähen, damit sie diesem Mädchen passen“, schlug Livarot vor.

      „Das ist eine gute Idee“, fand Schabziger, ein großgewachsener Mann von besonnener Art und mit viel Gel im blonden Haar. Seine schmalen Lippen waren etwas vorgewölbt, was ihm das Aussehen eines Fisches gegeben hätte, wäre da nicht die große, spitze Nase gewesen, die gnadenlos wie ein knochiger Finger auf jeden zeigte, dem er das Gesicht zuwandte. „Ich habe gehört, Fontina, eine Kellnerin vom Touristendeck, soll eine hervorragende Schneiderin sein.“

      „Ich werde Fontina fragen, was sie da machen kann“, sagte Caerphilly. „Die Schiffbrüchige muss schließlich in der Lage sein, sich ordentlich einzukleiden.“

      Das Hauptgericht wurde serviert: panierter und mit Knoblauch und Weißwein scharf angebratener Seeteufel mit Kartoffeln und einem Weißkraut-Salat, vom Essensdekorateur liebevoll mit aufgeschnittenen Zitronen, gemusterten Tomaten und Petersilie garniert. Dazu eine Weißwein-Kerbel-Soße und ein 2012er Rosé ohne besonderen Namen, aber weich, kurz und duftig im Geschmack. Die Anwesenden machten sich über das Essen her, auch wenn die Begeisterung in ihren Gesichtern fehlte, da es sich bei dem Seeteufel lediglich um die Reste des Vortags handelte.

      „Wie heißt die Schiffbrüchige eigentlich?“, fragte Mrs. Chester.

      „Wir haben Papiere auf dem Boot gefunden“, erwiderte Caerphilly. „Oder auf dem, was davon übrig geblieben ist. Demnach handelt es sich um eine gewisse Ingrid Marie.“

      „Ingrid Marie?“, sagte Livarot. „Ein komischer Name.“

      „Wirklisch komisch“, stimmte Saint-Paulin zu. „Klingt wie saures Obst.“

      „Diese Ingrid Marie tut bestimmt schick aussehen in den Kleidern von Mrs. Livarot“, sinnierte Mrs. Chester. „Wo sie eine so zarte Figur hat. Meine Nichte, wissen Sie, die hat auch eine so zarte Figur, und die sieht wunderschön aus, wenn sie Kleider trägt. Na ja, sie hat nie was zum Essen, das lässt sie dünn bleiben. Nicht wahr, Chad, sie hat doch eine zarte Figur?“

      Sie nannte ihren Gatten stets Chad, obwohl sein eigentlicher Vorname Rarebit lautete. Anfangs hatte er sich darüber geärgert, da er sich über die Herkunft des neuen Rufnamens im Unklaren war und dahinter einen ehemaligen Geliebten seiner Frau vermutete. Doch im Laufe der Jahre hatte er sich so an diesen Namen gewöhnt, dass sein Fehlen ihm das Blut in den Adern hätte gerinnen lassen.

      „Ja, ja, eine zarte Figur“, sagte Mr. Chester betonungslos.

      „Und ihrer Mutter, die meine Schwester ist“, fuhr Mrs. Chester fort, „schenkt sie ständig die schönsten Kleider und den schönsten Schmuck aus Paris. Nicht wahr, Chad?“

      „Ja, ja, den schönsten Schmuck“, sagte Mr. Chester und zerlegte seinen Seeteufel auf der Suche nach Gräten in winzige Stücke. Wenn seine Frau nicht stets gedrängt hätte, im Speisesaal inmitten der vielen gut gekleideten Leute zu speisen, hätte er in seiner Kabine zu Abend gegessen. Dort fühlte er sich wohler als in diesem Saal voller vornehm redender Menschen. Ihm lag so etwas nicht. Ihm hätte es mehr gefallen, jetzt mit seinen Kumpels in einer Kneipe in Wells/Summerset bei einem lauwarmen Bier zu sitzen, laut grölend seine Meinung über die britische Regierung oder das letzte Spiel von Cardiff City kundzutun und zwischendurch einmal mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Doch wie er die Meldungen des Kapitäns nach dieser furchtbar dummen Katastrophe verstanden hatte, gab es wohl keine Kneipe mehr in Wells/Summerset und auch keine britische Regierung und keine Fußballmannschaft aus Cardiff. Vor allem um die Kneipe und die Fußballmannschaft war es schade.

      „Mir schenkt sie auch manchmal was“, erzählte Mrs. Chester. Sie ließ dabei ihre Gabel, mit der sie einen mundgerechten Teil ihrer Mahlzeit erlegt hatte, eine Zeit lang durch die Luft gleiten, ehe sie zwischen ihren Zahnprothesen verschwand. Ihre Bewegungen hatten etwas Fahriges, wie ein zu dünn gekochter Pudding, den man in Form zu gießen versucht. „Dieses Kleid hat sie mir aus Paris geschickt. Es ist hübsch, nicht wahr?“

      Stolz betrachtete sie das sie umhängende Baumwollkleid, das sich aus unterschiedlich großen Quadraten mit variierenden Grüntönen zusammensetzte, die ineinander übergingen und nur an den Schultern weiße Flecken frei ließen. Die Ärmel waren halblang, der Rock reichte bis zu den Waden, und um die Hüfte war es so geschnitten, dass es nicht einmal versuchte, die missliche Figur seiner Trägerin zu verstecken. Livarot fand es abscheulich.

      „Ich habe gehört, Muna-Juusto hat eine neue Erfindung gemacht?“, wandte sie sich an den Kapitän.

      „Das soll ein neuer Klebstoff sein“, sagte Mrs. Chester. „Er soll schnellklebend, säurefest und hautfreundlich sein. Habe ich gehört.“

      „So sind die Japaner“, sagte Livarot. „Stets fleißig und voller Ideen.“

      „Ich hoffe nur, das wird nicht wieder ein Reinfall“, meinte Caerphilly. Er brachte den Ideen von Muna-Juusto nicht viel Sympathie entgegen. Muna-Juusto war nach einer Herzattacke von seiner Firma zur Erholung auf dieses Schiff geschickt worden. Nicht unbedingt zu seinem Vergnügen, er war kein Mensch, für den die Erholung ein Vergnügen war. Meist hatte er mit schlechter Laune am Pool gesessen, eingehüllt in dicke Decken, selbst dann, wenn es so heiß war, dass die anderen Passagiere überlegten, ob sie sich nicht vom Kellner ein paar Eiswürfel bringen lassen sollten, während sie im Pool ihre Runden drehten. Erst diese furchtbar dumme Katastrophe hatte aus ihm einen anderen Menschen gemacht. Seitdem glaubte er, den Leuten helfen zu können, indem er sein Wissen über die Chemie nutzte, um alles Mögliche zu erfinden.

      „Nicht so ein Reinfall wie beim letzten Mal, als er glaubte, eine feuerfeste Wandverkleidung erfunden zu haben“, fuhr Caerphilly fort. „Bei der Vorführung sind drei Kabinen im Touristendeck abgebrannt.“

      „So schlecht sind seine Erfindungen gar nicht“, fand hingegen Mrs. Chester. „Der Farbstoff, der das Meer so schön blau aussehen hat lassen wie auf den Postkarten, das hat mir gut gefallen.“

      „Ein ekeliges Blau“, meinte Livarot. Wenn dem Kapitän das Zeug von Muna-Juusto missfiel, dann musste es schlecht sein. Einem Mann wie Caerphilly missfielen Dinge nicht ohne einen ernsthaften Grund.

      Eine Fliege, die sich schon vor Wochen auf das Schiff verirrt haben musste, kreiste über dem Tisch und setzte sich ausgerechnet neben den Teller von Romadur, Livarots Neffen. Er war um die zwanzig, mittelgroß und seine in Locken frisierten Haare waren hellblond. Die blauen, tief liegenden Augen wurden von dicken Brillengläsern vergrößert. Sein Nacken war übermäßig kräftig, und unter einem zu engen weißen T-Shirt trat sein Bauch hervor, der von dünnen Beinen getragen wurde.

      Romadur fixierte die Fliege neben seinem Teller mit einem Blick, als wollte er sie hypnotisieren. Er legte langsam seine Gabel beiseite, um dann mit einer Schnelligkeit, die man seinem müden Gesicht kaum zugetraut hätte, den Arm nach der Fliege zu strecken und sie mit der Hand einzufangen. Aus