Carsten Bloch

Mrs. Livarot hatte etwas von einem Pinguin oder Kreuzfahrt am Ende der Zeit


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brachen die eigenen Gesetze.

      Marie glaubte lieber an einen guten Gott, der bodenständig genug war zu wissen, dass selbst Göttlichkeit etwas Vergängliches war. Es war also kein Wunder, sondern ein Zufall gewesen, der ihr das Leben gerettet hatte, ein ganz simpler Zufall. In der Gestalt von Livarot. Ein kleiner Zufall hatte ihr ein Leben geschenkt, während zur gleichen Zeit vielen anderen das Leben genommen worden war. Marie wusste nicht, ob sie über die Lage der Dinge glücklich oder traurig sein sollte. Oder beides zugleich.

      „Es ist selten, dass jemand hier an Bord auf das Meer hinausschaut“, unterbrach eine Stimme ihre Gedanken.

      Marie wandte sich erschrocken um und sah einen jungen Mann, eher klein und hager, leicht lockiges kastanienfarbenes Haar, große, dunkle Augen, Haut mit einem leichten Gelbstich. Seine Kleidung war abgewetzt und so unpassend zusammengestellt, dass er unmöglich ein Passagier der Jafet sein konnte. Er lächelte sie mit seinem breiten Mund an.

      „Die meisten Passagiere stellen ihre Liegestühle so, dass sie auf den Tennisplatz oder den Pool blicken können“, sagte der Mann und stellte sich neben Marie an die Reling. „Sie mögen das Meer nicht.“

      „Mrs. Livarot hat auf das Meer geschaut, als sie mich entdeckt hat“, wandte Marie ein.

      „Das ist wahr. Sie macht das jedes Mal, wenn sie ungestört Kekse essen will“, erwiderte der Mann. „Sie fühlt sich unbeobachtet, wenn sie sich an die Reling stellt.“

      Marie empfand diesen Blickwinkel auf ihre Lebensretterin als ungerecht, doch sie erwiderte nichts. Sie betrachtete die Wellen, die singend ihre Gischt gegen den Rumpf des Schiffes warfen.

      „Ich bin auf dem Meer zu Hause. Vermutlich mag ich es deshalb“, sagte sie stattdessen. „Mrs. Livarot und die anderen sind vom Festland. Ansonsten würden sie das Meer sicher auch lieben.“

      „Ich liebe das Meer, seit ich es das erste Mal gesehen habe“, sagte der Mann, ohne Marie anzublicken. Zwischen den Wolken tropften die Strahlen der tief stehenden Sonne wie Honig. Der Wind tanzte auf den Kronen der Wellen.

      „Sind die von dir?“, fragte Marie unvermittelt und zeigte auf ein paar provisorische Angeln, die mehrere Schritte von ihr entfernt an die Reling gebunden waren und deren Schnüre ins Wasser hingen und neben dem Schiff durch die Wellen gezogen wurden.

      Der Mann nickte.

      „Was benutzt du als Köder?“

      „Stücke von einem Fisch, der so ungeschickt war, sich fangen zu lassen“, erwiderte der Mann.

      „Wie viel fängst du auf diese Weise?“

      „Nicht viel. Zwei oder drei Fische am Tag. Es reicht für Fischsuppe einmal pro Woche.“

      Marie betrachtete belustigt die Angelruten, die scheinbar aus zusammengesteckten Gardinenstangen bestanden, an deren Enden Wollfäden gebunden waren. Sie glaubte, dass der Mann maßlos übertrieb. Wenn er mit diesen Angeln einen Fisch am Tag fing, dann war er gut.

      „Du solltest es mit Netzen versuchen, wenn du mehr fangen willst“, sagte sie. Sie selbst hatte zwar keine Netze mehr benutzt, seit sie allein aufs Meer hinausgefahren war, weil die Handhabung für eine einzelne Person zu schwierig war. Sie hatte in dieser Zeit lange Leinen ausgeworfen, an denen in regelmäßigen Abständen Dutzende von Ködern angebracht waren. Auf diese Weise hatte sie zwar weniger gefangen, doch dieser Nachteil wurde durch die höheren Preise ausgeglichen, die in den Markthallen für diese Fische bezahlt wurden. Netze beschädigten die Haut der Fische, und in den Nobelrestaurants in den Städten bevorzugte man Fische mit gesunder Farbe und unbeschadeter Haut, und das ließ man sich etwas kosten. Dennoch waren Netze allemal effektiver als diese Angeln im Heck der Jafet.

      „Ich glaube, wir haben keine Netze“, erwiderte der Mann.

      „Wenn du dickes Garn an Bord findest, kann ich dir daraus Netze knüpfen, wenn du willst. Ich weiß, wie das geht.“

      „Falls ich so etwas finde, komme ich gern darauf zurück. Vielen Dank für das Angebot.“

      Eine der in letzter Zeit selten gewordenen Möwen flog vor ihnen her und schwebte in der Luft und dachte sich ihren Teil, was auch immer Möwen denken mochten beim Anblick zweier sinnlos umherstehender Menschen.

      „Wohin fahren wir eigentlich?“, fragte Marie nach einiger Zeit.

      „Wir folgen der Küste“, erwiderte der Mann. „Wenn wir Glück haben, treffen wir auf einen Hafen, der die Katastrophe überstanden hat, und können dort auftanken. Es scheint, dass wir nicht mehr viel Treibstoff haben.“

      Im Westen senkte sich die Sonne über den Horizont und küsste das Meer, ohne ein Wort zu sagen. Die Dämmerung begann, sacht wie ein Schleier vom Himmel zu schweben.

      „Ich habe dich schon mal gesehen“, sagte Marie. „Unten in der Küche, glaube ich.“

      „Ja, das kann sein“, meinte der Mann. „Ich bin James Grieve, ich arbeite in der Küche als Essensdekorateur.“

      „Angenehm. Ich bin Ingrid Marie“, erwiderte Marie und reichte ihrem Gegenüber die Hand.

      Grieve schüttelte diese lächelnd.

      „Wie bist du Essensdekorateur geworden?“, fragte Marie und betrachtete die Wellen, die sich auf dem Meer herumtrieben. „Hat dein Vater das auch schon gemacht: Essen dekorieren?“

      „Nein, früher bin ich einmal Zauberer gewesen. Auf Jahrmärkten“, erwiderte Grieve.

      Er wühlte eine Münze aus seiner Hosentasche.

      „Schau!“, sagte er und hielt die Münze zwischen Daumen und Zeigefinger vor Maries Gesicht. „Achte genau auf die Münze. Lass sie nicht aus den Augen.“

      Er griff mit der anderen Hand die Münze, vollzog mit dieser einige geheimnisvolle Bewegungen und öffnete dann beide Hände. Die Münze war verschwunden.

      „Wie hast du das gemacht?“, fragte Marie erstaunt. Sie tastete Grieves Ärmel ab, betrachtete seine Hände von allen Seiten, doch die Münze kam nicht mehr zum Vorschein.

      „So etwas habe ich damals auf Jahrmärkten vorgeführt“, sagte Grieve.

      Marie nickte.

      „Und wieso dekorierst du heute Essen?“, fragte sie dann.

      „War nicht so einträglich, das Zaubern. Als ich eines Tages bei einem Volksfest Kunststückchen vorführte, ankerte gerade die Jafet vor der Insel.“

      „Vor welcher Insel?“

      „Ferdinandea.“

      „Du kommst von Ferdinandea?“

      „Zumindest bin ich dort geboren. Du kennst die Insel?“

      „Nein, noch nie gehört, den Namen.“

      „Ein Offizier der Jafet sah damals die Vorführung“, fuhr Grieve fort. „Und weil am Tag zuvor ihr Essensdekorateur gestorben war, brauchten sie schnell einen neuen, bevor das Schiff aufs Meer zurückkehren würde. Der Offizier fragte mich, ob ich das nicht machen wolle, weil Essen hübsch aussehen zu lassen auch nicht schwerer sein könnte als Zauberkunststückchen vorzuführen. Seitdem bin ich auf der Jafet.“

      Eine der Angeln zuckte und wand sich, doch dann wurde sie wieder still.

      „Wahrscheinlich hat ein Fisch sich den Köder geholt“, sagte Grieve, „ohne sich für den Haken zu interessieren.“

      Er zog die Angel aus dem Wasser, indem er die Schnur um seine Hand wickelte. Tatsächlich hing am Ende nur ein nackter Haken, dessen Aussehen Marie an eine verbogene Gabel erinnerte. Grieve warf die Angel einfach wieder aus, ohne sie mit einem neuen Köder zu bestücken. Der Haken verschwand im Meer, das langsam schwarz wie der Himmel wurde.

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