Carsten Bloch

Mrs. Livarot hatte etwas von einem Pinguin oder Kreuzfahrt am Ende der Zeit


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Gesten immer wieder in das Gespräch zwischen dem Kapitän und Marie mischte.

      Schließlich führte Caerphilly seine beiden Gäste durch den mit Lithografien und dunkelroten Teppichen geschmückten Kabinengang hinaus auf das Deck. Er erzählte währenddessen vom Bau des Luxusliners, von seinen großen Fahrten, von seinem Aufkauf durch einen jüdischen Großreeder, der dem Schiff den biblischen Namen Jafet gegeben hatte, von den berühmten Gästen, die in seinen Kabinen genächtigt hatten.

      An Deck führte der Kapitän seine Gäste an einer Putzkolonne vorbei Richtung Brücke. Er sprach dabei von den 210 Metern Länge und 27 Metern Breite des Schiffes, von seinen 55.000 Bruttoregistertonnen und von seiner Höchstgeschwindigkeit von 27 Knoten. Der Himmel war mit kleinen Schäfchenwolken geschmückt. Die in Sichtweite befindliche Küste, an der die Jafet westwärts zog, warf das Grollen der an den Felsen zerschellenden Wellen zu ihnen hinüber.

      Marie, die zum ersten Mal seit Langem wieder die Sonne sah, folgte dem Kapitän mit unsicheren Schritten, gestützt auf Livarots Arm, und staunte. Sie hatte zwar ihr halbes Leben auf dem Meer verbracht, aber auf einem so gewaltigen Schiff hatte sie sich noch nie befunden. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie je ein solches Schiff gesehen hatte. Die weißen Wände mit den runden Fenstern zog sich endlos hin. Das Deck überredete das Auge, als Horizont wahrgenommen zu werden. Der Schornstein, der gerade rot übertüncht wurde, ragte bis in den Himmel und blies seinen Rauch der Sonne entgegen. Das Schiff versuchte, seinen Besuchern einzureden, dass es jenseits der Reling kein Meer gab.

      Angekommen auf der Brücke, die die Ausmaße eines mittleren Ballsaals hatte, erklärte Caerphilly seinen Gästen die vielen Knöpfe an einem Pult, das sich unterhalb einer nach außen geneigten Fensterfront befand; die Computerbildschirme, auf denen unverständliche Zahlenkolonnen und Grafiken tanzten, die Ziffernblätter mit wackelnden Zeigern; die Drehschalter mit kleinen, leuchtenden Lämpchen. Er erzählte, wie die Dieselgeneratoren in Betrieb gesetzt wurden, die Schmierölpumpen, die Ventilatoren der Fahrmotoren und die Konverteranlagen. Wie die Propellerdrehzahl auf bis zu 128 Umdrehungen pro Minute erhöht werden konnte, auch wenn das Schiff derzeit mit einer geringeren Geschwindigkeit fahren würde, um Treibstoff zu sparen. Das Radargerät, die Funkanlage.

      Livarot durfte einen grünen Knopf drücken, mit dem die Klimaanlage im Restaurant in Gang gesetzt wurde. Darüber hinaus verstand sie nichts von dem, was der Kapitän über all die Knöpfe und Anzeigen erzählte, aber ihre Bewunderung für ihn wuchs ins Unermessliche.

      Caerphilly erklärte, dass man im Maschinenraum, der zu laut und zu dreckig für eine Besichtigung sei, die 90.000 PS starken Motoren sehen könnte sowie einen Vakuum-Verdampfer, mit dem theoretisch 800 Tonnen Frischwasser täglich erzeugt werden könnten. Denn immerhin könnten auf der Jafet mehr als 1.400 Menschen Unterkunft finden, auch wenn zur Zeit lediglich 300 Passagiere und 100 Besatzungsmitglieder den Bauch des Schiffes füllten.

      Caerphilly hatte ein wunderbares Gedächtnis für Zahlen. Gesichter vergaß er binnen Minuten und oft genug versäumte er es, seine dritten Zähne einzusetzen, aber eine Zahl vergaß er niemals. Auch wenn seine Zeit an der Schifffahrtsakademie 35 Jahre zurücklag, konnte er sich noch an die Telefonnummern sämtlicher Dozenten von damals erinnern.

      Zahlen, das wusste Caerphilly, waren die Grundbausteine der Zivilisation. Einzig die Zahlen. Nicht der menschliche Geist formte die Welt, es waren die Zahlen, die die chaotische Natur zähmten. Sie ordneten, berechneten, schützten vor Unwägbarkeiten. Ließen nicht zu, dass man von nicht messbaren Ahnungen oder Gefühlen überrascht wurde. Das Dasein ließ sich durch eine einfache Aneinanderreihung von Daten und Zahlen beschreiben und immer wieder neu zusammensetzen. Ereignisse wurden an Zahlen festgemacht, nicht an Bildern oder Gefühlen. Das Datum der Abschlussprüfung, der Preis für das Häuschen im Grünen, die Zimmernummer im Krankenhaus, in dem einem die Gallensteine herausgenommen wurden. Stets blieben die Daten und Zahlen in der Erinnerung, während die Bilder schnell verblassten und wie Blätter im Herbst von den Bäumen fielen.

      Nach der Brücke führte Caerphilly seine Gäste in die Küche, die sich unterhalb der Restaurants im Mittelschiff befand. Sie bestand aus einem etwa 30 Schritte langen Raum, in dem mehr als zwei Dutzend Kochmützen zwischen Töpfen herumliefen, die groß genug für einen ausgewachsenen Menschen gewesen wären. Das Küchenpersonal füllte Spülmaschinen in der Größe von Doppelbetten, bediente mannshohe Kartoffelschälmaschinen und reparierte die Bänder von meterlangen Fritteusen.

      Caerphilly pries zahlreiche Kreationen der Küche an und erklärte einige der Maschinen. Oder tat zumindest so, da er selbst keine Ahnung hatte, wie diese Maschinen funktionierten. Marie schüttelte die Hand von Sbrinz, dem Chefkoch.

      Die Besichtigung des Schiffes endete schließlich auf dem Deck an der Lido-Bar neben dem Pool mit einigen Ausführungen zu den Vergnügungen, die das Schiff zu bieten hatte. Zwei Swimmingpools, die sich bei schlechtem Wetter auf Knopfdruck überdachen und in Hallenbäder umfunktionieren ließen. Ein Kino. Ein Fitnesspark. Ein Spielcasino. Eine Bibliothek. Selbst einen Golfplatz oder vielmehr eine vollautomatische Golfanlage: ein fest verankerter Golfball auf einem Stück Kunstrasen mit einer Leinwand, bei der die Schläge anhand der Geschwindigkeit, des Winkels und der Richtung im Vergleich zur Leinwand elektronisch gemessen und ausgewertet wurden. Nach jedem Schlag konnte man dort weiterspielen, wo der Ball auf dem tatsächlichen Golfplatz von wahlweise Spyglass Hill oder dem der Insel Man aufgetroffen wäre.

      Die Jafet war ein Schiff, das machte Caerphilly klar, auf dem es unmöglich war, sich zu langweilen. Dieses Schiff wusste sich um seine Gäste zu kümmern.

      Schließlich verabschiedete sich der Kapitän mit einem Hinweis auf unabdingbare Verpflichtungen. Er überließ seine beiden Gäste dem Schiff und jeweils einem Gin-Tonic an der Lido-Bar auf Kosten des Schiffs. Nachdem sich der Kapitän zurückgezogen hatte, verlor auch Livarot das Interesse, zusammen mit ihrem Schützling nach weiteren Sympathiepunkten für die Jafet zu suchen. Es drängte sie vielmehr in den zwischenzeitig erwähnten Fitnessraum, um der dort wartenden Mrs. Chester über ihre intensive Begegnung mit dem Kapitän zu berichten. Daher leerte sie ihr Glas in einem Zug und erklärte Marie kurz, wie sie zurück in ihre Kabine finden würde. Dann verschwand sie in einem der Gänge, die ins Innere des Schiffs führten.

      Marie, allein zurückgeblieben, konnte sich weder für den Geschmack ihres Longdrinks begeistern, noch wollte sie sich auf den Weg zurück in ihre Kabine begeben. Zu lange hatte der Himmel für sie aus einer weiß getünchten, mit Stuck verzierten Zimmerdecke und die Sonne aus einem überdimensionalen Kronleuchter bestanden. So ließ sie ihr nur zur Hälfte konsumiertes Getränk zurück und spazierte an den Aufbauten der Jafet entlang Richtung Bug. Abseits der von den Passagieren üblicherweise in Anspruch genommenen Örtlichkeiten beugte sie sich über die Reling, um ihre Lungen mit dem Duft des Meeres zu füllen. Sie betrachtete die entfernte felsige Küste mit ihren blassgrünen Flecken auf ockerfarbenem Untergrund, betrachtete das Meer, das seine weiße Gischt wie ein Werfer an den felsigen Schlagmännern vorbeizuwerfen versuchte. Das Wasser war von tiefem Blau, doch wenn man sich anstrengte und senkrecht hinabschaute, war es glasklar und man konnte den bewohnten Untergrund sehen. Die Fische, die nach einem harten Arbeitstag nach Hause kamen, und die Krebse, die Nachtschicht hatten und sich gerade ihre schlaftrunkenen Fühler putzten. Das Schiff zerteilte mühelos die Wellen, die auf seinem Weg lagen.

      Die Welt lag in Trümmern, hatte man ihr erzählt. Vielleicht war dieses Schiff mit seinen Bewohnern alles, was geblieben war. Und ein Gott oder ein Zufall hatte sie zu einem Teil der Schiffsbewohner werden lassen. Ihr war ein neues Leben geschenkt worden, nachdem sie in den letzten Wochen durstig und hungrig auf ihrem halb zerstörten Kutter längst mit dem alten Leben abgeschlossen hatte. War ein Wunder geschehen? Hatte ein mitleidiger Gott seine Macht genutzt und das Meer gegen seine Gewohnheiten gezwungen, ein bereits geschenktes Leben zurückzugeben? Ein Gott, der mit den Menschen fühlte, weil vielleicht auch er, als er noch klein war, manchmal ohne Abendessen ins Bett geschickt worden war?

      Nein, an so etwas wie übernatürliche Wunder mochte Marie nicht glauben. Ihr Großvater hatte ihr erzählt, dass es keine Wunder gab. Alles war die Folge von logischen Zusammenhängen: die Strömungen der Meere, die Züge der Fischschwärme, das Wetter. Auch wenn man manches nicht verstand, folgte alles bestimmten Regeln, den Naturgesetzen. Und wieso