Carsten Bloch

Mrs. Livarot hatte etwas von einem Pinguin oder Kreuzfahrt am Ende der Zeit


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lassen.

      „Was machst du denn schon wieder?“, tadelte Livarot ihren Neffen.

      „Nichts, Tantchen, nichts“, beschwichtigte Romadur. Er nahm beidhändig einen Schluck aus seinem Weinglas und grinste, ohne dabei jemand Spezielles anzuschauen.

      Als der Seeteufel abgeräumt wurde, nahm ein nicht unbedeutender Teil des Fisches den Weg zurück in die Küche. Mit ausdruckslosen Gesichtern bahnten sich die Kellner ihren Weg zwischen den Tischen, stapelten nicht mehr benötigte Teller und Besteck auf silberne Rollwagen und versuchten dabei, so unauffällig zu bleiben wie die Schatten, die ihnen folgten.

      Zum Abschluss der Mahlzeit wurde Kaffee gereicht. Eine Sechs-Mann-Kapelle begann zu spielen, und einige Paare nutzten einen langsamen Walzer, um die gerade angefutterten Kalorien runterzutanzen.

      „Warum gibt es immer nur Fisch zu essen?“, klagte Saint-Paulin, den Kellnern nachblickend, die mit den abgeräumten Tellern in einem Nebenraum verschwanden, der über einen Fahrstuhl mit der Küche verbunden war. „Das kann doch keinen Menschen bei Kräften ‘alten.“

      „Was sollen wir machen?“, entschuldigte sich Caerphilly. „Unsere Speisekammern sind leer, vor allem das Fleisch muss rationiert werden. Ich würde auch lieber jeden Tag Steak essen. Doch dies ist erst möglich, wenn unsere Vorräte wieder aufgefüllt sind.“

      „Aber so ganz ohne Fleisch“, fand Saint-Paulin. „Das geht doch nischt.“ Geistesabwesend hob sie ihr Hündchen auf ihren Schoß, eine Mischrasse mit hauptsächlich pekinesischem Einschlag und dem unerklärlichen Namen Nicolas Sarkozy, und schob ihm eine Praline in sein Schnäuzchen. Weinbrandpralinen mochte er am liebsten.

      „Mme de Saint-Paulin, es gibt mindestens einmal die Woche Fleisch zu essen“, meinte Caerphilly und schüttelte tadelnd den Kopf. „Und etwas vegetarische Kost, das ist gar nicht so schlecht für die Gesundheit. Das wird Ihnen Dr. Schabziger gern bestätigen.“

      „Man sollte die Hunde in die Pfanne hauen, die sind jetzt gut gemästet“, sagte Romadur und lachte laut. „Ich habe gehört, Pekinesen sollen gut schmecken. Vielleicht nicht so gut wie Chow-Chow, aber besser als Terrier oder Deutscher Schäferhund.“

      „Das ist doch die ’ö’e!“, empörte sich Saint-Paulin. „So etwas muss isch mir nischt bieten lassen!“

      „Man muss ihn allerdings rösten“, fuhr Romadur fort. „Das ist besser für das Aroma. Wenn man ihn kocht, verdirbt man ihn. Hat mir ein Chinese erzählt.“

      „Du musst nicht alles glauben, was man dir erzählt“, wies Livarot ihren Neffen zurecht.

      „Mir gefällt es, dass ein Hund ein wenig Abwechslung an Bord bringt“, meinte Caerphilly, um die Gemüter zu beruhigen. „Ich habe auch mal einen Hund gehabt, hier auf dem Schiff. Und er hat mir sehr viel Freude bereitet.“

      „Mein Nicolas Sarkozy ist ein braver ‘und“, sagte Saint-Paulin trotzig. „Er kann keiner Fliege etwas zuleide tun.“

      „Hunde sind etwas Feines“, fand auch Mrs. Chester. „Ein Vetter von mir hatte einen Hund, nicht wahr? So einen kleinen mit zotteligen Haaren. Er hat ihm beigebracht, sich auf Befehl auf dem Boden zu wälzen und anschließend in eine Plastikwanne mit Wasser zu springen. Auf diese Weise hat mein Vetter immer seinen Küchenfußboden gewischt. Nicht wahr, Chad?“

      Ein Kellner kam an ihren Tisch und reichte Cognac an die, deren Mägen nach dem Essen anstelle des Kaffees etwas Hochprozentiges verlangten. Livarot bestellte sich einen Gin.

      „Manchego hat mir erzählt, auf dem Touristendeck soll jemand nach einer Schlägerei über Bord gegangen und ertrunken sein“, sagte sie, sich halb an den Kapitän wendend, und leerte ihr Ginglas in einem Zug.

      „Tatsächlich?“, fragte Mrs. Chester.

      „Ich habe gehört, es soll um irgendeine blöde Wette gegangen sein“, meinte Romadur.

      „Pöbel, alles Pöbel auf dem Touristendeck“, fand Saint-Paulin. „Dort geschieht ständig so ein ’umbug.“

      „Sie sollten nicht einfach jedes Gerücht glauben, das im Umlauf ist“, warf Caerphilly ein. „Es hat in der letzten Zeit keine besonderen Vorkommnisse auf dem Touristendeck gegeben.“

      „Bei uns auf dem Oberdeck wissen sich die Leute zu benehmen“, meinte Livarot. „Bei uns wäre so etwas nicht möglich.“

      „Auf dem Touristendeck gibt es sicher auch anständige Leute“, sagte Mrs. Chester. „Ich meine, das sind Leute wie wir. Nicht wahr, Chad?“

      „Ja, ja“, sagte Mr. Chester.

      „Isch würde nischt auf dem Touristendeck wohnen wollen“, meinte Saint-Paulin.

      „Das liegt daran, dass Sie jeden Unsinn glauben, den man Ihnen von dort erzählt“, fand Caerphilly.

      „Natürlich sind die Leute dort auch anständig“, sagte Schabziger. „Mrs. Chester hat recht, wir sitzen alle in einem Boot.“

      Livarot bestellte sich einen weiteren Gin, und die Gespräche begannen, sich in bekannten, seichten Gewässern zu bewegen wie ein Fährschiff, das zum x-ten Male eine Furt fernab jeglicher intellektueller Klippen überquert. Abgesehen davon, dass Livarot immer mal wieder die von ihr gerettete Marie erwähnte, waren in den nächsten zweieinhalb Stunden zu hören: eine Anekdote von Caerphilly, wie er als junger Offizier bei seiner ersten Äquatorüberquerung die Feuertaufe hatte erleben müssen und anschließend nie wieder hatte zur See fahren wollen; ein Schwank aus dem Leben von Saint-Paulins Großvaters, der eines Tages irgendeinem Grafen ein Fass Sherry abschwatzen konnte und bei der anschließenden Zechtour fast darin ertrunken wäre; sowie eine Geschichte von Livarots An- und Abgetrautem, wie er einst ein Konkurrenzunternehmen beim Pokern gewonnen hatte.

      Wenn man sich auf der Jafet amüsieren wollte, war es günstig, ein kurzes Gedächtnis zu haben, denn die wenigsten der Anekdoten, die man in dieser Nacht zu hören bekam, waren unverbraucht. Und trotzdem fand das Schiff erst spät seinen Schlaf. Man trank, lachte und erzählte und ging erst zu Bett, als der gelbe Mond schon längst im Meer versunken war.

      2

      Noch vor Einbruch der morgentlichen Dämmerung kam ein Sturm auf, der zwei Tage andauerte. Er türmte das Meer zu meterhohen Wellen und versteckte den Himmel hinter einem Vorhang dunkler Wolken. Regentropfen fielen dicht wie aufgezogene Perlen und die Windböen zerschmetterten die Tropfen an der Bordwand wie Fliegen an der Windschutzscheibe eines Rennwagens.

      Die Jafet warf sich trotz ihrer Größe von einer Seite auf die andere, und viele Passagiere lagen mit grünen Gesichtern und entleerten Mägen in ihren Betten und hofften auf eine ruhigere See. Oder wenigstens auf kürzere Wege zwischen ihren Kissen und ihren Toilettenschüsseln. Der Regen spülte über das Deck, und als der Himmel endlich aufklarte, fehlten erneut drei Passagiere des Touristendecks, die vermutlich der Sturm in die See gefegt hatte.

      Es herrschte noch immer eine kabbelige See, als das Schiff schließlich vor einer Insel ankerte. Der Kapitän hatte sicherheitshalber den Katt-Anker auswerfen und ihn mit einer kurzen Kette mit dem eigentlichen Anker verbinden lassen. Ein Teil der Besatzung begab sich an Land, um dort Holz zu sammeln. Denn um den knappen Treibstoff zu sparen, hatte Schiffsingenieur Reblochon die Idee gehabt, die Dieselmotoren so umzubauen, dass die Stromversorgung des Schiffs in einem getrennt arbeitenden System durch das Verfeuern von Holz gewährleistet werden konnte. Zumindest so lange, bis die fast leeren Tanks der Jafet wieder mit frischem Dieseltreibstoff gefüllt wären.

      Am Abend dieses Tages, als die Matrosen gerade zur Insel übersetzten, um eine zweite Ladung Holz an Bord zu holen, erwachte die gerettete Marie endgültig. Sie schlug die Augen auf, zog die Bettdecke bis unter die Nase, starrte aus dem Fenster, in dem der Horizont die Welt zerteilte, und schwieg. Schabziger kam und fütterte sie mit Tee, Zwieback und Vitaminpillen. Sie aß und trank schweigend und starrte aus dem Fenster.

      Erst zwei Tage später, als wieder ein Blassrosa ihre Wangen überzog und ihre Augen die