Anna Katharine Green

Engel und Teufel


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      „Sie fanden sie hier, auf diesem Sofa, in derselben Lage, wie ich sie jetzt sehe?“

      „Gewiss.“

      „Das ist kaum glaublich! Sehen Sie, wie sie daliegt, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen, gerade als ob sie zur Beerdigung getragen werden sollte - nur liebende Hände können dies getan haben! Was hat dies zu bedeuten?“

      „Das deutet auf Philemon, klar und deutlich.“

      Mr. Sutherland erschauerte, doch er sagte nichts. Er war starr, diesen Beweisen des Werkes eines Geistesschwachen gegenüber. Philemon Webb schien stets so harmlos, vollkommen harmlos, obwohl sein Geist sich seit zehn Jahren immer mehr umnachtete.

      „Aber“, fuhr Mr. Sutherland plötzlich auf, „es ist noch ein anderes Opfer im Hause! Ich sah die alte Batsy aus dem Fenster hängen, tot!“

      „Ja, sie ist im nächsten Zimmer. Es ist aber keine Wunde an Batsy zu finden.“

      „Wie ward sie dann getötet?“

      „Das müssen uns die Doktoren sagen.“

      Mr. Sutherland ging mit Fenton in das kleine, anstoßende Zimmer und sah auf den ersten Blick die leblose Gestalt der alten Batsy aus dem Fenster hängen, wie er sie schon von der Straße aus bemerkt hatte.

      Dass sie tot war, unterlag keinem Zweifel. Doch, wie Fenton gesagt hatte, es war keine Wunde an ihr zu finden, keine Blutspur, nichts, das auf die Art und Weise ihres Todes hätte hinweisen können.

      „Das ist schrecklich!“ jammerte Mr. Sutherland, „das schrecklichste, was ich je gesehen habe! Helfen Sie mir, den Leichnam hereinzubringen. Sie lag lange genug zur Schau der Neugierigen aus dem Fenster.“

      Es befand sich ein Bett in diesem Zimmer - in der Tat war es Mrs. Webbs Schlafzimmer - und auf dieses legten sie die Tote. Als ihr Gesicht zu sehen war, schauten sich die beiden Männer erstaunt an: der Ausdruck von Schreck und Angst, den sie hier sahen, stand in auffallendem Gegensatz zu der Ruhe und Majestät, die auf den Zügen der toten Herrin lagen!

      03. Die leere Schublade.

      Als die beiden Männer in das erste Zimmer zurücktraten, waren sie nicht wenig erstaunt, Miss Page zu sehen, die unter der Türe stand. Sie starrte die Tote an und schien die beiden Männer nicht zu bemerken.

      „Wie kommen Sie hierher? Wer hat Sie, entgegen meinem ausdrücklichen Befehl, eintreten lassen?“ fragte Fenton, ärgerlich und erregt.

      Sie ließ ihre Kapuze vom Kopfe fallen und sah den Frager lächelnd an, mit demselben gewinnenden Lächeln, mit dem sie versucht hatte, ihn vor dem Hause ihren Wünschen gefügig zu machen.

      Damals hatte er widerstanden, doch dem abermaligen Versuch konnte er nicht standhalten.

      „Ich bestand darauf, eingelassen zu werden“, sagte sie. „Machen Sie den Männern draußen keinen Vorwurf; sie wollten einer Dame gegenüber keine Gewalt anwenden“.

      Ihre Stimme war nicht wohlklingend und sie wusste das; sie schlug daher den Ton an, der ihre Worte zu Herzen trug und sie siegte auch über den alten, wetterharten Amos Fenton.

      „Na, na“, murmelte er, „das ist schlimme Neugierde, die Sie hierher führte. Legen Sie die besser ab; ehrenwerte Personen missverstehen dergleichen sehr leicht.“

      „Danke“, entgegnete sie mit schelmischem Lächeln, das Falten auf Mr. Sutherlands Stirn brachte. Er schaute von ihr nach der Toten und sagte in vorwurfsvollem Tone:

      „Ich verstehe Sie nicht, Miss Page. Wenn dieser Anblick Ihrer Koketterie keinen Zwang auferlegen kann, dann weiß ich nicht, was überhaupt diese in Schranken zu halten vermag! Was Ihre Neugierde betrifft, so ist selbige ebenso unpassend als unweiblich. Verlassen Sie dies Haus sofort, Miss Page! Und sollten Sie in den paar Stunden, die noch bis zum Frühstück dahingehen, Zeit finden, Ihre Koffer zu packen, würden Sie mich noch besonders verpflichten.“

      „Schicken Sie mich nicht fort, ich bitte Sie!“ Es war dies ein Schrei aus innerstem Herzen, den sie jedenfalls gleich bedauerte, denn sie versuchte sofort diesen unvorsichtigen Selbstverrat durch Beugen ihres schönen Kopfes und durch Zurücktreten zu verwischen.

      Weder Mr. Sutherland noch Amos Fenton schien das eine oder das andere bemerkt zu haben; hatten sie doch ihre Aufmerksamkeit wichtigeren Sachen zugewandt.

      „Ihrer Kleidung nach zu urteilen“, sagte Mr. Sutherland, der die Tote wieder eingehend betrachtete, „scheint meine unglückliche Freundin vor dem Schlafengehen ermordet worden zu sein. Wenn Philemon –.“

      „Entschuldigen Sie, meine Herren“, rief da der junge Mann, der in der Halle zurückgelassen worden war, „die junge Dame horcht, was Sie sagen. Sie steht noch oben auf der Treppe.“

      „So ist es! So ist es!“ rief Fenton, dessen Galanterie bei der Zurechtweisung vonseiten seines Kameraden verschwunden war.

      „Ich will ihr aber zeigen -.“

      Als er zur Türe gekommen, war die junge Dame verschwunden und nur ein feines Parfüm erinnerte daran, dass sie kurz zuvor hier gestanden hatte.

      „Eine merkwürdige Person“, murmelte der Polizist beim Zurückgehen.

      Er kehrte indes sofort wieder um, da er in der unteren Halle Stimmen hörte.

      „Der alte Mann ist wach!“ rief eine Stimme hinauf.

      Sofort stiegen Fenton und Mr. Sutherland die Treppe hinab. Miss Page stand unter der Türe des Zimmers, in dem Philemon Webb saß. Als die beiden Männer näher kamen, machte sie eine halb ironische, halb abbittende Verbeugung und verließ das Haus.

      Wie von einem Bann erlöst, atmeten die beiden Männer auf und besonders Mr. Sutherland war durch das Fortgehen der jungen Dame sichtbar erleichtert.

      „Ich wünschte, der Doktor wäre hier“, sagte Fenton.

      "Ich sandte unsere n besten Reiter nach ihm, doch er ist irgendwo da draußen am Portchester Weg und es kann eine Stunde dauern, ehe er kommt.“

      „Philemon!“ rief Mr. Sutherland, indem er die Hand seinem alten Freund auf die Schulter legte, "Philemon! Wo sind Deine Gäste? Du hast bis zum Morgen auf sie gewartet!“

      Philemon schaute erstaunt auf die beiden Gedecke neben ihm und sagte, indem er mit dem Kopfe schüttelte:

      „James und John werden stolz - oder sie haben es vergessen, sie haben es vergessen.“

      James und John. Er meinte wohl die Zabels. Es gibt aber so viele Leute in der Stadt, die diese Vornamen trugen.

      Wieder frug Mr. Sutherland:

      „Philemon, wo ist Deine Frau? Ich sehe, es ist hier nicht für sie gedeckt.“

      „Agatha ist nicht wohl, Agatha ist ärgerlich. Sie kümmert sich nicht um einen alten, kranken Mann, wie ich.“

      „Agatha ist tot und Du weißt es!“ schrie der Polizist unüberlegter Weise.

      „Wer hat sie ermordet? Sag, wer hat sie ermordet?“

      Der plötzliche Schreck nahm dem Kranken den letzten Rest von klarer Besinnung. Mit dem gurgelnden Lachen, das Geistesschwachen eigen ist, erwiderte er:

      „Die Mieze-Katze, es war die Mieze-Katze. Wer ist ermordet? Ich bin nicht ermordet. Lasst uns nach Jericho gehen.“

      Mr. Sutherland nahm ihn unter dem Arm und geleitete ihn nach oben. Vielleicht würde der Anblick seiner toten Gattin ihn zur Besinnung bringen. Doch er schaute sie an, mit demselben starren Blick des Nichterkennens, mit dem er alles andere betrachtete.

      „Ich kann dies Kaliko-Kleid nicht leiden“, sagte er nach einer Weile. „Sie kann erfordern, sich in Seide zu kleiden, doch sie will nicht. Agatha, wirst Du zu meinem Begräbnis dein Seidenkleid anziehen?“

      Erschüttert, zog Mr. Sutherland den alten Mann