spielraum fürs individuelle zu eröffnen
nachahmung ist eine fernzeugung (Gabriel Tarde)
„nachbarn“ heißen jetzt die anwender analoger immunisierungsstrategien
gleicher kreativitätsmuster verwandter überlebenskünste
das ergibt eine betriebswirtschaftslehre für zivilisationstreibhäuser:
eine atmosphärenethik
das gute gilt als das atembare; sie dürfte auch seifenblasenethik heißen
ihr merkmal:
das zerbrechliste als ausgangspunkt der verantwortung
rechnet personen und kulturen die atmosphärische wirkungungen
ihres handelns zu;
hebt die klimaproduktion als zivilisatorischen kernprozess hervor
Einleitung Luftbeben
Was hat uns das 20. Jhdt neben seinen inkommensurablen Leistungen in den Künsten eingebracht?
1. Die Praxis des Terrorismus
2. Das Konzept des Produktdesigns
3. Den Umweltgedanken
Durch das erste wurde die Interaktion zwischen Feinden auf postmilitärische Grundlagen gestellt;
durch das zweite gelang dem Funktionalismus der Wiederanschluss an die Wahrnehmungswelt;
durch das dritte wurden Lebens- und Erkenntnisphänomene in einer bisher nicht bekannten Tiefe aneinandergeknüpft.
Alle drei zusammen markieren die Beschleunigung der Explikation – der aufgedeckten Einbeziehung von Latenzen oder Hintergrundgegebenheiten in manifeste Operationen.
1. Der Gaskrieg – oder: Das atmoterroristische Muster
Wann und womit hat es begonnen? Exakt am 22. April 1915 um 18.00 Uhr mit dem ersten Großeinsatz von Chlorgasen als Kampfmittel der deutschen West-Armee gegen französisch-kanadische Infanteriestellungen.
Es wird das Zeitalter dessen entscheidender Gedanke darin bestand, nicht mehr auf den Körper eines Feindes, sondern auf dessen Umwelt zu zielen. Dies ist der Grundgedanke des Terrors im expliziteren und zeitgemäßeren Sinn. Shakespeare lässt Shylock im Kaufmann von Venedig sagen: „Ihr nehmt mir mein Leben wenn ihr mir die Mittel nehmt, wodurch ich lebe.“
Unter den Mitteln sind neben den ökonomischen heute auch die ökologischen und psychosozialen Bedingungen menschlicher Existenz in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit gerückt: von der Umwelt des Feindes her den Entzug seiner Lebensvoraussetzungen zu betreiben. Dieser „neue“, umwelttheoretisch modernisierte Terror unterscheidet sich von allen anderen Varianten (Bomben -anschlägen, Diktatorenterror, Desperardoterror) darin, dass der „neue“ Terrorist seine Opfer besser versteht, als sie sich selber verstehen.
Man liquidiert seinen Gegner, indem man ihn hinreichend lange in ein unlebbares Milieu taucht.
Hieraus entsteht der chemische Krieg, der Gaskrieg als Angriff auf die umwelt-abhängigen Vitalfunktionen des Feindes, namentlich Atmung, zentralnervöse Regulierungen und lebbare Temperatur- und Strahlungsverhältnisse durch Attentate auf die umweltlichen Lebensvoraussetzungen des Feindes. Auch wenn „gestandene“ Soldaten darin eine entwürdigende Degeneration der Kriegsführung sahen. Die konnten nun im klassischen Sinne keine „Treffer“ mehr verbuchen, weil das Ziel die „Atmosphäre“ -hier die Luftumgebung- des Feindes wurde. Es entsteht die „hinreichende Genauigkeit“, d. h. Nahe genug am Feind.
Im Gefolge der ersten Erfahrungen mit dieser Art Kriegsführung schoss eine Militärklimatologie aus dem Boden. Bei den ersten Versuchen verflüchtigte sich z. B. das verwendete tödliche Gemisch zu schnell. Giftwolkenkunde ist die erste Wissenschaft mit der das 20. Jhdt. seine Identitätsurkunde übergibt.
Die blitzartige Entwicklung von Militär-Atemschutzgeräte verriet die Anpassung der Truppen an die Lage. Ebenso liegt hier ein erster Schritt zum Prinzip Klimaanlage.
Darauf hin entwickelten deutsche Chemiker das Gas „Blaukreuz“ das die Masken durchdrang. Gleichzeitig führten deutsche Truppen ein Kampfgas „Gelbkreuz“ ein, das bereits in geringen Mengen und bei Hautkontakt oder Berührungen mit Schleimhäuten und Atemwegen schwere Beschädigungen des Organismus –Erblindungen, katastrophale nervöse Dysfunktionen- hervorrief. Zu den bekannteren Opfern gehörte Adolf Hitler.
Im Gaskrieg werden tiefste Schichten der biologischen Kondition von Menschen in die Attacke auf sie einbezogen: Die unaufhebbare Gewohnheit wird so gegen den Atmenden gekehrt, dass diese zu unfreiwilligen Komplizen ihrer Zerstörung werden. Es löst im Angegriffenen die Verzweiflung aus, durch das Nichtunterlassenkönnen der Atmung zur Mitwirkung bei der Auslöschung des eigenen Lebens gezwungen zu sein.
Mit dem Phänomen Gaskrieg wird eine neue Explikationsebene für klimatische und atmosphärische Prämissen menschlicher Existenz erreicht: Die Immersion der Lebenden in einem atembaren Milieu zur förmlichen Ausarbeitung gebracht. Auch ist das Prinzip Design miteinbezogen, weil der Gaskrieg zu atmotechnischer Innovationen zwingt.
Im Gefolge zog eine schwarze Meteorologie herauf, die sich mit den „Niederschlägen“ ganz besonderer Art befasste.
Entscheidend war, dass die Technik mittels Gasterrorismus in den Horizont eines Designs für das Ungegenständliche durchbrach –wodurch Latenzthemen wie physikalische Luftqualität, künstliche Atmosphärenzustände und sonstige klimabildende Faktoren in menschlichen Aufenthaltsräumen unter Explikationsdruck gerieten.
Durch die progressive Explikation sind Humanismus und Terrorismus aneinander gekettet.
Der Terrorismus hebt die Unterscheidung von Person und Sache auf. Er ist Gewalt gegen jene menschen- umgebenden Sachen, ohne welche die Personen nicht mehr Personen bleiben können.
Der Feind wird als ein Objekt in der Umwelt expliziert, dessen Entfernung einer Überlebensbedingung das System gleichkommt. Die Technik bringt das Wesen der Feindschaft militärisch auf den Punkt: Sie ist nichts anderes als der Wille zur Auslöschung des Gegners.
Terrorist ist, wer sich seinen Explikationsvorsprung hinsichtlich der impliziten Lebensvoraussetzungen des Gegners erarbeitet und für die Tat verwertet.
Das im Ersten Weltkrieg erworbene kampfklimatologische Verfahrenswissen nahm naturgemäß spätestens vom November 1918 an den Umweg über dessen „friedliche“ Nutzung.
Jetzt gerieten die Bettwanzen, die gemeine Singschnake, die Mehlmotte, die Kleiderlaus und die Förderung der Landwirtschaft durch Schädlingsbekämpfungs- mittel und die Reinraumschaffung in Mühlen, Schiffen, Kasernen, Lazaretten, Schulen, Getreide- und Saatgutspeicher ins Visier der Berliner Chemiker.
Die Nichtwahrnehmbarkeit der Gase wurde durch Beimischungen von wahrnehmungs- wirksamen Gasen behoben und unter dem Namen Zyklon A auf den Markt gebracht. Auch dies war insofern ein „Designergas“ weil es zur Wiedereinführung von nicht wahrnehmbaren oder abgeblendeten Produktfunktionen in die Benutzerwahrnehmung.
Philosophisch: Eine Re-phänomalisierung des Nichterscheinenden.
Dem 1924 von einer Hamburger Firma entwickelten und patentierten Zyklon B fehlte dann diese Wahrnehmungs-komponente.
Einer der beiden Firmengründer war von 1915-1920 im Berliner Institut beschäftigt und belegt die Kontinuität der neuen Entwesungspraktiken jenseits von Krieg und Frieden. Nach Kriegsbeginn 1939 hielt die Firma Desinfektionslehrgänge für Wehrmachtsangehörige und Zivilisten ab. Bei diesen spielte auch Gaskammerdemonstrationen eine Rolle.
Der US-amerikanische Staat Nevada nahm am 8. Februar 1924 eine erste „zivile“ Gaskammer zur Durchführung von vorgeblich human-effizienten Hinrichtungen in Betrieb mit Vorbildwirkung auf elf weitere US-Staaten. Die Hersteller konnten auf die Schwankungen der Anwendungsmoral jeweils flexibel reagieren.
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