Patricia Weiss

Das Lager


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in das Tal vor. Schon bald würde eine unerträgliche Hitze herrschen.

      An die fünfzig Männer arbeiteten im Steinbruch. Sie standen in langen Schlangen und reichten die freigesprengten Steine von Hand zu Hand. Die Arbeit war hart und gefährlich, Entbehrungen, Strapazen und Unfälle forderten ihren Tribut. Keiner der Arbeiter sprach ein Wort, niemand sah hoch, aber alle waren wachsam. Am Waldrand saßen die Wärter rauchend im Schatten und ließen einen Flachmann kreisen. Ihr Gelächter hallte laut durch die Schlucht, die Gewehre lagen achtlos neben ihnen im Gras. Sie wirkten entspannt, geradezu harmlos.

      Doch das täuschte.

      In vorderster Reihe arbeitete ein sehr junger Mann, fast noch ein Junge. Mit kraftvollen Bewegungen belud er die Förderwagen, die die schwere Fracht aus dem Tal bis zur Verladestation der Steinfabrik transportierten. Seine Miene war konzentriert, undurchdringlich, doch hinter der schützenden Fassade ließ er seine Gedanken wandern, die einzige Möglichkeit, dem täglichen Grauen zu entfliehen. Früher hatte er sich oft ein Wiedersehen mit seiner Familie ausgemalt. Nächtelang hatte er gebetet, dass seine Mutter kommen und ihn befreien würde. Eine naive Vorstellung, wie er jetzt wusste. Wahrscheinlich hatte sie nie erfahren, was ihm zugestoßen war. Es hatte lange gedauert, bis er verstanden hatte, dass er auf sich allein gestellt war und sich anpassen musste, wenn er überleben wollte. Damals hatte er den Wunsch nach Rettung tief in seinem Inneren begraben. So tief, dass er ihn fast nicht mehr spürte. Angst, Demütigung und Hoffnungslosigkeit waren zu seinem Alltag und Monate zu Jahren geworden.

      Doch plötzlich war ein Wunder geschehen.

      Während er Felsbrocken auf die Kipploren wuchtete, dachte er an den gestrigen Abend. Es war nicht leicht gewesen, sich unbemerkt aus dem Lager zu stehlen. Und viel zu riskant. Sie setzten dabei ihr Leben aufs Spiel. Überall gab es Spitzel, die für eine Extraration Essen oder ein paar Zigaretten jeden verrieten. Würde man sie zusammen erwischen, gäbe es keine Gnade. Man würde kurzen Prozess mit ihnen machen. Auch mit ihr. Trotzdem ging sie das Risiko ein. Es rührte ihn, wie fest sie daran glaubte, dass die Liebe alle Hindernisse überwinden konnte. Ihm fehlte diese Zuversicht.

      Gestern Abend wäre es beinahe schiefgegangen. Sie hatten sich im Wald getroffen, auf einem umgestürzten Baumstamm gesessen und geredet. Er hatte sich nicht sattsehen können an ihr, ihrem Gesicht, ihren Händen. Sie hatte gelacht und sich beschwert, dass er ihr nicht zuhören würde. Aber das stimmte nicht. Jedes Wort, jede Silbe hatte er sich gemerkt. Sie hatte Pläne für die Flucht geschmiedet, den Beginn ihres gemeinsamen, freien Lebens, aber er glaubte nicht, dass es klappen konnte. Sie würden es nicht einmal bis zum Bahnhof schaffen, bevor man sie erwischte. Und wenn doch, wohin sollten sie fliehen? In seine Heimat? Dort saßen die Deutschen. Sie würden ihn gleich wieder aufgreifen und deportieren. Nach England? Dort gehörte sie zu den Feinden. Nach Frankreich? Schweden? Italien? Jedes Land, das ihm einfiel, war entweder von den Deutschen besetzt oder führte gegen sie Krieg. Es schien auf der Welt keinen Ort zu geben, an dem sie beide willkommen waren. Sie konnten nirgendwohin. Alles, was ihnen blieb, war das Hier und Jetzt. Eine gemeinsame Zukunft gab es nicht, aber er hatte es nicht übers Herz gebracht, ihr das zu sagen.

      Plötzlich hatten sie das Geräusch gehört. Es war ein knackender Ast gewesen. In ihren Ohren so laut wie ein Peitschenknall. Dann absolute Stille. Als lauerte jemand in der Nähe. Sie hatten bewegungslos verharrt und den Atem angehalten. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er sich aus seiner Erstarrung lösen können und ihr bedeutet, sofort zu verschwinden. Nachdem der Wald sie verschluckt hatte, hatte er sicherheitshalber noch eine Weile gewartet, versteckt hinter einem Busch, und angestrengt in den Wald gelauscht. In einiger Entfernung hatten Blätter geraschelt, ansonsten war es ruhig gewesen. Langsam war die Anspannung von ihm abgefallen und grenzenloser Erleichterung gewichen. Sie hatten noch einmal Glück gehabt. Doch ein solches Risiko durften sie nicht noch einmal eingehen.

      Ein Ellenbogen stieß ihm unsanft in die Rippen und riss ihn jäh aus seinen Gedanken.

      „Trinkpause.“

      Erschöpft fuhr er sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn und streckte vorsichtig die verspannten Muskeln. Die Sonne stand im Zenit, sie hatten den ersten Teil des Tagespensums geschafft. Er trottete hinter den anderen her, an den Wärtern vorbei zum Bach am Waldrand. An einer schattigen Stelle schöpfte er Wasser mit den hohlen Händen und erfrischte sich. Nachdem er seinen Durst gelöscht hatte, lehnte er sich an einen Baumstamm und zog ein Stück hartes Brot aus der Hosentasche. Kauend ließ er seinen Blick über die Männer wandern, die in der Nähe lagerten und sich leise unterhielten oder müde vor sich hin brüteten. Er hütete sich, sich zu ihnen zu gesellen und mit ihnen zu reden. Die Gefahr war zu groß, dass er sich verriet und sein Geheimnis offenbarte.

       In einiger Entfernung bemerkte er einen Fliegenschwarm. Das Summen der lästigen Insekten schien von Sekunde zu Sekunde aufdringlicher zu werden. In der Luft lag der süßlich metallische Geruch von Blut. Ein leises Unbehagen erfasste ihn, als wollte sich eine böse Vorahnung den Weg in sein Bewusstsein bahnen. Zögernd erhob er sich, um nachzusehen.

      Schon von Weitem sah er ein unförmiges Bündel auf dem Boden liegen. Unbewusst beschleunigte er seine Schritte. Er registrierte verklebtes, langes Haar, ein bläulich aufgedunsenes Gesicht, blicklose Augen. Ein Mensch. Grotesk verdreht, mit gebrochenen Armen und Beinen, inmitten von Felsbrocken, Erde, Dreck. Ein Festmahl für die Aasfresser, die unbarmherzig ihr pietätloses Werk verrichteten.

      Tiefe Spuren der Verwüstung hatte der Tod auf dem Körper hinterlassen, doch trotzdem war es ihm nicht gelungen, die Schönheit ganz zu tilgen. Einzelne blonde Strähnen glänzten in der Sonne, sanfte Gesichtszüge waren unter den Prellungen zu erahnen, die zerbrochenen Gliedmaßen strahlten Zartheit und Anmut aus.

      Wie von selbst entstand ein Schrei in seinem Inneren. Er gewann an Volumen, wurde mächtiger, schallte hinauf in den Himmel und wurde von den Felswänden vielfach zurückgeworfen.

      

      

      

      

      II. Siebengebirge, Sonntag, 3. August 2014

      Für Henriette Erlenbach war das Siebengebirge ein magischer Ort, der perfekte Schauplatz für Mythen und Legenden. Wenn sie die Wälder durchstreifte, suchte sie nach der Stelle, wo Siegfried den Lindwurm getötet und in seinem Blut gebadet haben könnte, und in den mittelalterlichen Ruinen stellte sie sich die Burgfrauen vor, die in zugigen Kemenaten sehnsüchtig auf die Rückkehr der Ritter gewartet hatten. Das Gedicht von Lord Byron über den Drachenfels gefiel ihr zwar nicht besonders gut, aber es hatte im neunzehnten Jahrhundert die ersten Touristen angelockt: Reiche und vornehme Leute, elegant gekleidet, die noch die wilde Romantik des Siebengebirges zu schätzen gewusst hatten. Heutzutage heizten nur noch rücksichtslose Mountainbiker in aufreizend engen Trikot-Hosen über die Waldwege und Heerscharen von Tagesausflüglern verstreuten überall ihren Müll und belagerten die idyllischen Lokale.

      Henriette Erlenbach verabscheute diese Banausen und startete ihre Touren immer so früh wie möglich, um dem Ansturm zuvorzukommen.

      Es war ein strahlender Morgen, die Vögel zwitscherten und ihre Hündin Leica sprang glücklich um sie herum. Ein leichter Kopfschmerz machte sich bemerkbar, tief atmete sie die frische Luft ein, um ihn zu lindern. Am Abend vorher war es spät geworden. Sie hatte sich mit ihren drei Freundinnen getroffen, Wein getrunken und herumgeplänkelt. Zurückgeblieben war ein schales Gefühl. Warum hatten ihre Freundinnen so viel Glück im Leben und sie nicht? Sie hätte auch gerne eine Familie, aber sie hatte nie den Richtigen kennengelernt. Und jetzt, mit Anfang fünfzig, war es zu spät dafür. Frustriert trat sie einen Tannenzapfen ins Gebüsch. Leica sprang begeistert hinterher und legte ihn ihr vor die Füße. Henriette tätschelte sie abwesend und wanderte zügig weiter.

       War sie zu anspruchsvoll?

      Die Männer ihrer Freundinnen hätte sie jedenfalls nicht geschenkt haben wollen. Aber wenn sie ehrlich war, hatte es auch seit vielen Jahren keinen