Patricia Weiss

Das Lager


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ob Marek wohl immer den Weg aus der Dunkelheit zurückgefunden hatte.

      3

      Marek war zufrieden damit, wie der Termin verlaufen war und dass er den Job bekommen hatte. Erstaunlich, wie wenig Laura Peters von ihm hatte wissen wollen. Er hatte ihr das eine oder andere aus seiner beruflichen Laufbahn erzählt, bei keiner Gelegenheit hatte sie nachgebohrt. Seine Bewerbungsmappe hatte er dagelassen, doch darin waren nur wenige Unterlagen. Immerhin würden sie jeder Überprüfung standhalten.

      Jedenfalls fürs Erste.

      Sofern sie sich überhaupt die Mühe machte, weitere Nachforschungen anzustellen. Er hatte nicht den Eindruck gehabt, dass es sie sonderlich interessierte. Anscheinend hatte sie sich auf ihr Bauchgefühl verlassen, als sie ihm den Job gegeben hatte. Da hatte er Glück gehabt. Die kleine Detektei war perfekt für ihn.

      Komplizierte Fälle würde es nicht geben, dafür genügend Freiraum für eigene Projekte.

      Er lenkte seinen alten Fiesta durch den dichten Feierabendverkehr und wechselte die Spur, um schneller voranzukommen. Die Adresse in Tannenbusch, die Laura ihm genannt hatte, lag in einem der seelenlosen Wohnblocks im Norden von Bonn. Die Hochhäuser waren in den 70er-Jahren gegen den Wohnungsmangel und ohne Rücksicht auf Ästhetik aus dem Boden gestampft worden. Alle Wohnungen sahen von außen identisch aus, selbst die Gardinen hinter den Fenstern waren gleich schmutzig und vergilbt. Marek fuhr um den Block, um die Gegend zu erkunden. Viel zu viele Menschen lebten hier auf viel zu engem Raum, die meisten von ihnen ohne Arbeit und Perspektive. In manchen Ecken waren Schlägereien und Überfälle an der Tagesordnung. Eine Sprachenschule hatte im Internet ihre ausländischen Studenten sogar gewarnt und den Stadtteil als No-go-Area bezeichnet, was bei der Stadtverwaltung natürlich nicht gut angekommen war.

      Marek parkte sein Auto und ging zu dem Hochhaus, in dem Józef Koscewskij wohnte. Während er überlegte, ob er bei einem von Koscewskijs Nachbarn läuten oder mit den Handflächen auf gut Glück alle Klingeln betätigen sollte, öffnete sich die Haustür. Ein Junge im ausgeleierten Bart-Simpson-T-Shirt trat heraus. Marek machte einen großen Schritt an ihm vorbei, um die Tür am Zufallen zu hindern, und betrat das streng nach Urin riechende Treppenhaus.

      Der Junge blieb stehen. „Zu wem wollen Sie?“

      Marek drehte sich um und blickte in ein schmales, sommersprossiges Kindergesicht. „Kennst du nicht, ein Bekannter von mir. Er wohnt noch nicht lange hier.“

      „Der Mann, der vor ein paar Wochen eingezogen ist. Er wohnt direkt neben uns.“ Stolz sah er zu Marek auf.

      „Ach, wirklich? Woher willst du wissen, wen ich meine?“

      „Ganz einfach. Die meisten wohnen hier schon lange. Neue Leute ziehen nur selten her.“

      „Verstehe. Kennst du ihn gut?“

      „Nein. Aber ich habe ihm beim Einzug zugesehen. Warum wollen Sie das überhaupt wissen? Wir reden hier nicht gern mit Fremden. Das sagt mein großer Bruder immer. Wir halten unser Viertel sauber.“ Der Junge sah misstrauisch auf Mareks Schuhe.

      „Da hat dein Bruder recht. Du solltest wirklich nicht mit Fremden reden.“ Marek nahm die nächsten zwei Stufen, da hörte er den Kleinen wieder.

      „Was wollen Sie von dem Koscewskij?“

      Marek zuckte die Schultern.

      „Ich kann ihn in seiner Wohnung hören.“

      Marek setzte seinen Weg fort.

      „Er weint.“

      Die Worte hallten durch das Treppenhaus.

      Marek blieb stehen. „Wann war das?“

      „Letzte Nacht. Er hat lange geweint. Mein Bett steht direkt an der Wand neben seiner Wohnung.“

      „Kommt das öfter vor?“

      Der Junge schüttelte den Kopf. „Nein, nur letzte Nacht. Ansonsten ist er ruhig. Kein Fernsehen. Keine Musik. Vielleicht weint er diese Nacht wieder?“

      Marek gewann den Eindruck, dass dem Kleinen jemand fehlte, der ihm zuhörte und sich für ihn interessierte. Er bettelte geradezu nach Aufmerksamkeit. „Junge, das kann schon mal vorkommen, dass jemand weint. Es ist nichts Besonderes. Mach dir keine Gedanken.“

      „Sie weinen bestimmt nicht. Und mein Bruder weint auch nicht. Selbst wenn er vom Freund meiner Mutter Dresche kriegt. Keinen Mucks tut er.“

      Marek fühlte sich angesichts so viel Offenheit unbehaglich. Er wollte nicht in die häuslichen Probleme des Jungen hineingezogen werden, dazu war jetzt keine Zeit. „Machs gut, Junge, ich habe zu tun.“

      Er stieg endgültig die Stufen hinauf.

      Koscewskijs Wohnung lag im siebten Stock, der Flur war leer. Hinter einigen Türen waren Geräusche zu hören, Geklapper von Geschirr, Fernsehlärm, allerdings keine Stimmen.

       Redeten die Leute nicht miteinander?

      Marek schlich zur Tür von Koscewskijs Wohnung und wollte sein Ohr dagegen pressen, als sich von drinnen schnelle Schritte näherten. Gerade noch konnte er zur Seite springen und sein Gesicht in den Schatten drehen, da wurde die Tür aufgerissen. Ein Mann kam eilig heraus, schloss, ohne ihn weiter zu beachten, hinter sich ab und verschwand in Richtung Treppenhaus. Marek folgte ihm in großem Abstand. Als er aus der Haustür trat, überquerte Koscewskij bereits in einiger Entfernung die Straße. Plötzlich stand der blonde Junge wie aus dem Boden gewachsen da.

      „Verfolgen Sie den Koscewskij?“

      „Geh aus dem Weg.“ Marek wollte sich an ihm vorbeidrängeln, dann sah er den verletzten Ausdruck in den Augen des Jungen. „Du solltest nicht hier draußen herumlungern“, fügte er etwas freundlicher hinzu.

      Dann rannte er los, ohne sich noch einmal umzusehen.

      Die Fahrt ging durch die Bonner Innenstadt, wo dichter Verkehr herrschte, dann bog Koscewskij auf die Südbrücke ab. Marek verringerte den Abstand, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Mittlerweile war es fast dunkel, die Silhouette des Siebengebirges auf der anderen Rheinseite war nur noch zu erahnen. Koscewskij nahm die Schnellstraße nach Königswinter und fuhr einige Minuten später in Bad Honnef ab. Im Vorbeifahren registrierte Marek die hochherrschaftlichen Häuser, imposanten Villen und großen Parks.

      Hier wohnte die reichere Klientel des Städtchens.

      Koscewskij hielt vor einem Grundstück, das von einer hohen Betonmauer umgeben war. Videokameras und Scheinwerfer waren in regelmäßigen Abständen angebracht, das Anwesen strahlte den Charme eines Hochsicherheitstraktes aus. Der Besitzer legte offensichtlich großen Wert auf seine Privatsphäre.

      Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, fuhr Marek mit unveränderter Geschwindigkeit an Koscewskijs parkendem Wagen vorbei. Hinter der nächsten Kurve bog er ab, stellte das Auto an den Straßenrand und lief zurück. Koscewskij hatte sein Fahrzeug verlassen und stand im grellen Lichtkegel zweier Scheinwerfer vor dem Eisentor. Er betätigte immer wieder die Klingel, doch niemand öffnete. Plötzlich geriet er in Rage und schlug die Fäuste mehrmals hart gegen das Portal. Dann taumelte er rückwärts, schaute direkt in die über ihm angebrachte Kamera und schrie:

      „Du Dreckschwein! Mach endlich auf! Ich weiß, dass du da drin bist! Ich kriege dich! Du entkommst mir nicht!“

      4

      Es war dunkel geworden. Laura saß immer noch an ihrem Schreibtisch. Das grelle Licht des Monitors, die einzige Lichtquelle im Raum, schmerzte in ihren Augen. Sie knipste die Leselampe an und stützte den Kopf auf die Hände. Vor ihr stapelte sich ein Berg mit Rechnungen. Notar, Handelsregister, IHK, Kaution, Miete, Strom, Einrichtung, und, und, und.

      Laura atmete tief durch, streckte ihren Rücken und sortierte die bearbeiteten Papiere