Katharina Maier

Frevlersbrut


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als er ohnehin schon gewesen war, aber er zuckte noch nicht einmal mit der Wimper, während ihn der Blick des Obersten Priesters zu verschlingen schien.

      »Charrann Kenntyrr«, fragte Ktorram Asnuor schließlich, und die Stimme war wie flüssiger Samt. Ich sah, wie die Kiefer meines Bruders sich verkrampften und seine Hand zu seinem Gürtel fuhr, und dann zog er seinen Kschurr, und die Menge seufzte, und der Oberste Priester lächelte, ach, so weich, und das Lächeln legte sich um meine Kehle wie eine Würgeschlinge. Hätte ich es benennen sollen, ich hätte es Stolz genannt.

      »Nein!!«, schrie die Frau auf dem Scheiterhaufen, und Nein!, schrie jede Faser meines Ichs, denn ich wusste, ich würde meinen Bruder verlieren, würde er der Verurteilten den Gnadentod geben. Vairrynn öffnete bereits den Mund, doch da trat mein Großvater vor, den eigenen Kschurr schon gezogen und antwortete an seiner Stelle: »Kenntyrr Charrann.«

      »Der Einheit sei Dank«, seufzte meine Muttersmutter wieder, und ich begann von Neuem zu zittern. Der Schrei wurde wieder ein wenig leiser, klang jetzt eher wie ein Wimmern. Der Oberste Priester sah den alten Neoly einen Moment lang mit hochgezogenen Brauen an, als würde er tatsächlich in Erwägung ziehen, es dem Patriarchen zu verwehren, den Platz seines Enkels einzunehmen. Doch dann nickte er huldvoll. Ich glaube, ich habe ihn nie mehr gehasst als in diesem einen Augenblick.

      Während der alte Neoly zum Scheiterhaufen hinüberschritt, beobachtete ich hämmernden Herzens die regungslose Gestalt meines Bruders. Vairrynn stand da vor der starrenden Menge wie gefroren, den Kschurr noch immer in der Hand und blankes Entsetzen im Gesicht. Plötzlich sackte er regelrecht in sich zusammen. Vater war einen Augenblick später an seiner Seite, um ihn zu stützen. Im ersten Moment sah Vairrynn ihn dankbar an, doch dann verschloss sich seine Miene, als wäre eine Tür in seinem Gesicht zugefallen, und er befreite seinen Arm ruckartig aus dem Griff meines Vaters. Ich konnte den letzten Blick nicht ausmachen, den Vairrynn Vater zuwarf, welcher Ausdruck in den hellen grauen Augen lag, aber ich sah den jähen Zorn im Gesicht meines Vaters und etwas, das an Abscheu grenzte.

      An jedem anderen Ort und zu jeder anderen Zeit hätte mich dieser stumme Austausch zutiefst verstört. Hier und jetzt jedoch hatte ich einfach kein Erschrecken mehr übrig. Denn mein Großvater hatte den Scheiterhaufen erklommen und war vor der Frau im Dechalsgewand zum Stehen gekommen. Stumm sahen sie sich an, der Alte und die Frau, und ich glaubte, sie lächeln zu sehen, was nicht sein konnte. Ein Raunen wie Wind im Gezweig ging durch die Menge, als der Alte das Heft seines Kschurrs an die Stirn drückte und seinen Kopf neigte vor der Frau in einer universellen Geste der Hochachtung. Dann war seine Hand in ihrem Haar und schneller fast, als das Auge folgen konnte, fuhr die glänzende Klinge durch die Kehle der Frau. Ein Strom von Rot ergoss sich über das schwarze Kleid, und wenn ihr Körper noch versuchen wollte, sich ins Leben zu bäumen, so hinderten ihn die Fesseln daran, die ihn an den Schandpfahl banden. Doch erst als der Kopf der Frau schließlich leblos zur Seite fiel, begriff ich, dass die Tote da am Pfahl meine Mutter war.

      »Mama«, wimmerte ich, aber es hörte niemand über dem Getöse der Menge. Unirdisch gellte der Schrei in den Himmel, und auch den hörte niemand. Die Drachenkämpferin war tot, und die Menge jubelte. Und der Drache stand stolz auf seiner Bühne mit ernster Miene, die ein Grinsen verbarg. Aber dann sah ich, wie ihm für einen Moment das Gesicht entglitt, als sich ein rhythmisches Singen durch den Jubel zu schieben begann, ein Singen aus wehmütigen weiblichen Kehlen, ein Lied an die Mutter Lchnaachdra, die ihr Kind heimholt in ihren Schoß. Es war ein Trauerlied, aber es war auch ein Lied über die sanfte Siegerin Tod, und es lag über dem Großen Platz an jenem Tag wie der rote Mantel der Allbezwingerin und schwoll immer mehr an, bis es die Jubelschreie derer zu ersticken drohte, die die Vernichtung der Baummörderin feierten. Ich weiß, ich sang es auch durch meine Tränen, und Vairrynn sang es, mein kleiner Bruder, meine Muttersmutter und die Frauen in der Menge, die geweint hatten, als sie meine Mutter gesehen hatten, und die Männer in der Menge, die jene Frauen in ihre Arme genommen hatten, und vielleicht sangen es ja die Neolys auch. Es brandete gegen die Masse von Nembdr-Hassern und ließ den Drachen auf der Bühne mit den Zähnen knirschen. Mit harscher Geste befahl er die Entzündung des Scheiterhaufens.

      Das Lied gefror in meiner Kehle, als der getrocknete, ölgetränkte Kness aufflammte wie ein Strohfeuer, um zu verschlingen, was von meiner Mutter noch geblieben war, die Arme, die mich so fest gehalten hatten, die ruhigen Hände und die starken Augen, der ungebeugte Rücken und das störrisch liebende Herz. All die Wärme und Kälte, zu der meine Mutter fähig gewesen war, ging vor meinen Augen in Flammen auf, und in diesem Moment zählte es nicht, dass sie das Feuer nicht mehr spürte, denn ich fühlte es in meiner Seele, und es verzehrte mich. Der beißende Rauch des Kness-Feuers waberte über den Platz, vermischt mit verbranntem Fleisch und Haar. Ich würgte, aber es half nichts. Mir war, als würde der Qualm durch Mund und Nase in den tiefsten Kern meines Ichs dringen. Das Geräusch der Menge, ihr Johlen und ihr Singen, war nichts mehr als ein leises Summen, und die Hände meiner Muttersmutter waren Lichtjahre entfernt. Es gab nichts mehr als die lodernden Flammen und den zuckenden Schemen in ihrer Mitte, der sich wand und krümmte, bis aus etwas vage Weiblichem ein riesiges Katzentier geworden war aus Feuer und aus Dunkelheit. Es öffnete sein Maul zu einem herausfordernden Gebrüll, doch heraus kaum nur der Schrei, schrill und grell und nicht von dieser Welt, und dann setzte das flammende Katzentier an zum Todessprung, die langen Glieder gestreckt und die Fänge gebleckt. Mitten hinein flog es in mein kleines, feiges Herz. Und ich brannte.

      Túnn Sar hatte seinem Sohn rundheraus verboten, nach Murraptaam zu gehen.

      »Kein Sohn von mir sollte auch nur in die Nähe einer solchen Abscheulichkeit kommen«, hatte er gesagt.

      »Ich bin der einzige deiner Söhne, von dem ich weiß«, hatte Ftonim geantwortet, mit seinem üblichen Witz, aber ohne sein übliches Funkeln.

      »Umso ernster ist es mir, Liebling«, lautete die Entgegnung. Ftonim hatte noch das halbherzige Argument angebracht, dass viele der weiblichen Bekannten seines Vaters nach Murraptaam gingen, um ein letztes Zeichen des Respekts für Lys Neoly zu setzen (als er im Nachhinein von dem Lied der Sanften Siegerin hörte, das an jenem Tag ergreifend nutzlos in den Straßen der Hauptstadt erklang, erahnte er zum ersten Mal das ganze Ausmaß der hilflosen Tapferkeit der Töchter der Lchnadra). Doch Túnn Sar hatte noch einmal bestimmt mit dem Kopf geschüttelt.

      »Was glaubst du, wie nützlich du deinen Freunden sein kannst, wenn du selbst völlig traumatisiert bist?«, meinte er, und das hatte es entschieden: Ftonim sah Lys Neoly nicht brennen. Zwei Nächte später dankte er im Stillen der Göttlichen Einheit und seinem Vater dafür, als er in Pektays Bett die ganze grauenvolle Angelegenheit aus erster Hand erzählt bekam und vergebens versuchte, die Tränen seiner Augenweide mit Küssen zu trocknen. Doch in jenen Mnegau hasste es der junge Sar, unnütz im Haus seines Vaters herumzusitzen, während er an nichts anderes denken konnte als an Vairrynn und Myn und Lys und Vairrynn.

      Schließlich, nachdem er seine Skenty fast vor Frustration am Stamm seines Unheiligen Baumes zerschmettert hätte, schnappte er sich einen dichtgewebten Umhang und marschierte hinunter an den Strand. Es war erst Anfang der Sturmzeit, doch der Wind fegte schon beißend über das Meer und besprühte ihn mit Gischt. Ftonim empfand die zornige Kälte als belebend und konnte zum ersten Mal an diesem Tag frei durchatmen. Die Kargheit von weißem Sand, schwarzem Stein und grauem Meer-Himmel beruhigte seine Sinne, und eine willkommene Leere breitete sich in seinem Geist aus. Angesichts des Knirschens des Sandes unter seinen Stiefeln und des Dröhnens der Brandung in seinen Ohren erschien das, was gerade in Murraptaam passieren musste, ganz und gar unwirklich und der Flug der Seevögel über dem Wasser als das Wichtigste auf der Welt.

      Ftonim sang leise vor sich hin, während er über den Sand stapfte, leichtherzig-schwermütigen Unsinn ohne Zweck und Ziel. Er machte sich nie die Mühe, die Lieder niederzuschreiben, die zu solchen Stunden aus seiner Seele tropften. Sie waren wie der Wind und die Wellen: ewig und augenblickshaft zugleich. Außerdem war er nicht verblendet genug, um zu glauben, dass sie irgendetwas wert seien.

      Wie von selbst lenkten ihn seine Schritte zum Küstenhaus Eftnek Neolys. Fest in seinen Umhang gewickelt, stand Ftonim am Fuße der schwarzen Klippe und starrte hinauf zu der beigefarbenen Villa,