Katharina Maier

Frevlersbrut


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schüttelt den Kopf. »Erst am nächsten Tag, als ich wieder einen klaren Kopf hatte, begriff ich wirklich, was passiert war, und zog mich voll und ganz in mich zurück – bis mir Vairrynn Mi schenkte eben. Deswegen kann ich dir nicht sagen, wie Vairrynn mit dem Tod unserer Mutter umging – und mit der Tatsache, dass er sie um ein Haar selbst getötet hätte. Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass Ftonim ihm dabei half.«

      Ihre Worte überraschen ihn nicht. Er fragt sich, ob es damals begann, dieses bedingungslose Einanderzugewandtsein der beiden, das ihm einst das Blut kochen machte vor lauter Neid, aber er spricht es nicht aus.

      »Weißt du, was seltsam ist?«, redet Myn weiter, die immer noch den Blättern des Baumes beim Rascheln zusieht. »Das Leben ging weiter. Einfach so. Man glaubt immer, wenn etwas so Furchtbares passiert, dass das Leben unmöglich weiter seinen Gang gehen kann. Aber das tut es. Natürlich war nichts mehr so wie vorher, aber als ich meine Mutter sterben sah, hatte ich geglaubt, das Ende der Welt sei gekommen. Und das war nicht der Fall. Nicht einmal für mich.« Myn zieht wieder ihre Unterlippe durch die Zähne. »Ich meine, ich vermisste sie wie … wie ein fehlendes Glied vielleicht, und an manchen Tagen glaubte ich, vor Schmerz umzukommen, aber ich lebte weiter.«

      Richard Shelton, der die Flammen des Scheiterhaufens in ihren Augen sehen kann, glaubt ihr kein Wort. Er legt sich zurück auf den Rücken und folgt ihrem Blick in den Baum hinauf. Das ist besser.

      »Es half wahrscheinlich, Synnda Pánn da zu haben. Sie und Vairrynn kümmerten sich um Mudmal und mich, und das machte es … ich weiß nicht, einfacher ist wahrscheinlich nicht das richtige Wort, aber … erträglicher. Es ist schwer, Synnda Pánn zu beschreiben. Sie ist wie … wie Erde: stark und weich zugleich. Und sie strahlt eine ungeheure Ruhe aus. Ich weiß nicht, was wir ohne sie getan hätten; Vairrynn wäre ganz auf sich gestellt gewesen.«

      »Was war mit deinem Vater?«

      Myn stößt einen tiefen Seufzer aus, der sein Herz vor Mitleid flattern lässt.

      »Wy, mein Vater … Wie ich schon sagte, wir sahen nicht wirklich viel von ihm in dieser Zeit, und wenn wir ihn sahen …« Sie schüttelt den Kopf. »Er war blass und abgemagert, und das Flackern, das ich von seinen Wutanfällen kannte, war jetzt immer in seinen Augen. Nur war er jetzt nicht mehr wütend, sondern … ich weiß auch nicht. Er zerfiel vor unseren Augen.« Sie schluckt. »Und es war uns egal. Mir zumindest. Ich war froh, wenn ich ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekam, denn immer, wenn ich ihn sah, musste ich an diesen Schritt denken, den er vor dem Obersten Priester zurückgetan hatte. Und wenn Vairrynn und mein Vater aufeinandertrafen … Vater sah Vairrynn immer mit einem Ausdruck an, als hätte mein Bruder Mutter eigenhändig getötet, und damit meine ich nicht, ihr den Kschurr durch die Kehle gezogen, sondern sie höchstpersönlich auf den Scheiterhaufen geworfen. Und Vairrynn sah Vater ganz genauso an. In jenen Tagen dankte ich der Göttin dafür, dass unser Haus so irrwitzig groß war; es konnten Tage vergehen, ehe wir Vater begegneten.« Wieder schüttelt sie den Kopf. »Er muss so einsam gewesen sein. Meine Brüder und ich, wir suchten die Gegenwart der jeweils anderen, als würden wir sonst auseinanderfallen, und Synnda Pánn kümmerte sich um uns drei, ob wir wollten oder nicht. Aber mein Vater hatte so gut wie niemanden. Zernteyb kam sehr oft in unser Haus, und er war der Einzige, der sich noch ins Atelier wagte. Aber sonst war da nur noch Juffgam.«

      »Ah …«, macht Richard Shelton und nichts weiter. Myn lächelt bitter, aber er sieht es nicht.

      »Juffgam Nuggr war ein alter Freund meines Vaters. Seltsam wirklich, dass die beiden überhaupt Freundschaft geschlossen hatten, und dann auch noch eine so enge. Mein Vater war der geborene Ästhet, kultiviert bis zur Absurdität, und Juffgam war … von einfachem Gemüt. Was nicht unbedingt etwas Schlechtes ist, und vielleicht war es genau das, was mein Vater als so … angenehm empfand: Juffgams Unkompliziertheit. Er erregte sich über einfache Dinge und freute sich an einfachen Dingen: Wein, Weiber und Gesang, wenn du so willst. Und auch seine freundschaftliche Treue war unkompliziert. Er war einer der wenigen, die meinen Vater und seine Familie nach Mutters Tod nicht schnitten; im Gegenteil, er war mehr als je zuvor für meinen Vater da – und für seine Kinder auch, auf seine gutmütige, unbeholfene, onkelhafte Art und Weise. Er hatte Jahre zuvor seine Frau verloren, die am Biss eine Kachta gestorben war, und war allein mit seinem kleinen Sohn; vielleicht konnte er deshalb unseren Verlust so gut nachempfinden. Und dieses Mitleid war stärker als die Furcht vor Nembdr-Kontamination. Aber wahrscheinlich war es mehr als das. Juffgam war ein gutherziger Kerl. Dass er auch kleingeistig war, war vermutlich nicht einmal seine Schuld.«

      »Das klingt für mich so, als wärt ihr alle isoliert gewesen, nicht nur dein Vater.«

      Myn nickt ihre Zustimmung. »Meine kleine Familie hatte zum Ärger meines Großvaters nie wirklich intensiv am gesellschaftlichen Leben auf Singis teilgenommen – mit Ausnahme des Wahlkampfs natürlich –, aber das war eine bewusste Entscheidung gewesen. Die gesellschaftliche Isolierung nach dem Tod meiner Mutter, das war Zwang – und sie war umfassend. Große Einheit, das erste Jahr über wurden wir behandelt wie Aussätzige. Ich weiß nicht genau, wie es den Jungs in der Schule ging; wir redeten nie wirklich darüber. Ich für meinen Teil beschloss nach drei Lchnattau, überhaupt nicht mehr in die Mädchenschule zu gehen. Es könnte sein, dass es das erste Mal war, dass ich meinen Vater nach Mutters Tod direkt ansprach, als ich ihn um die Erlaubnis bat, die Schule zu verlassen, und er gab sie, ohne eine Miene zu verziehen. Dieses ›Bildungsinstitut‹ war ohnehin nichts anderes als eine Anstalt, um perfekte, kleine Ehefrauen heranzuziehen, und die drei Tage die Nysda, die ich dort war, konnte ich getrost mein Gehirn auf Standby schalten. Und nach dem Tod meiner Mutter …« Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Nein, darüber will ich nicht reden. Du hast wahrscheinlich keine Vorstellung davon, zu welchem Grad an Boshaftigkeit heranwachsende Große Damen fähig sind, und die Lehrer dort beobachteten mich wie jagende Frnai, als erwarteten sie, ich könnte jeden Moment etwas ›Widernatürliches‹ tun. Was wussten die schon! Ich hatte schon vor Jahren gelernt, in der Mädchenschule meinen Mund zu halten, um nicht aus Versehen das Wissen erahnen zu lassen, das Vairrynn mir vermittelt hatte.«

      »Unterrichtete er dich auch zu dieser Zeit noch?«

      »Aber natürlich. Ich glaube, manchmal hielt uns nur dieses gemeinsame Lernen bei Verstand. Inzwischen taten wir es sogar ganz offen zu Hause; vermutlich war Vairrynn zu diesem Zeitpunkt ganz egal, was Vater sagen würde – oder er wollte ihn sogar provozieren. Trotzdem ritten wir noch oft zusammen zum Gonn-Memnáh; das versteckte Tal war der Ort, der allein uns gehörte, und ich war so süchtig danach wie eh und je. Die Mnegau dort wurden dann umso wertvoller, als Synnda Pánn nach einem halben Jahr nach Yallchá zurückkehrte. Von da an waren wir allein. Vairrynn und ich taten unser Bestes, uns um Mud zu kümmern. Es mag ein wenig absurd klingen, da ich nur ein Jahr älter bin als mein kleiner Bruder. Aber Mud war damals noch ein Kind. Und ich war das nicht.«

      »Du warst dreizehn«, sagt Richard Shelton leise. »Natürlich warst du noch ein Kind.«

      Sie wendet ihm den Kopf zu. »Du weißt genau, dass Singis-Jahre länger sind als terranische. Nach eurer Zeit war ich damals siebzehn.«

      Auch er dreht sich ihr zu und erwidert ihren Blick. »Und du weißt genau, dass die Umrechnung nicht eins-zu-eins funktioniert, wenn es um Lebensalter geht. Du warst noch ein Kind.«

      Sie blinzelt ihn an und protestiert nicht. Er blinzelt zurück und spürt ihren Widerspruch so deutlich, als hätte sie ihn ausgesprochen.

      »Hätte Synnda Pánn nicht noch länger bleiben können?«, fragt er, vielleicht deswegen oder auch nicht. Er empfindet fast irrationalen Ärger auf diese Fremde, der Myn nicht verborgen bleibt.

      »Sie war ohnehin länger geblieben, als sie willkommen war«, meint sie sanft. »Die Neolys mögen es nicht, wenn sich jemand, der nicht zur Familie gehört, in ihre Angelegenheiten mischt.«

      Er runzelt die Stirn. »Aber Synnda Pánn ist doch deine Großmutter.«

      Myn seufzt. »Das verbindet sie mit mir, mit den Kindern ihrer Tochter. Aber nicht mit den Neolys.« Seine Stirn glättet sich nicht, und sie lächelt ein wenig, weil sie ihm Dinge erklären muss, die für sie selbstverständlich sind. »Singisische Familienbeziehungen sind sehr kompliziert. Sie bestehen