Katharina Maier

Frevlersbrut


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Blutsbande zu ihrer Familie natürlich nicht gelöst werden, und sie knüpft auch keine zu ihrer neuen Familie, mit Ausnahme ihrer eigenen Kinder. Die Loyalitätsbande zu ihrer Ursprungsfamilie jedoch lösen sich völlig und bestehen nur noch zu der neuen.«

      Seine Miene klärt sich ein wenig, aber nicht sonderlich viel. »Blutsbande sind also biologisch und Loyalitätsbande rechtlich?«

      »Nein, nicht ganz. Mein Vater und der alte Neoly schworen zum Beispiel den Blutsschwur, als sie Vairrynn in die Familie aufnahmen. Sie hätten auch nur den Loyalitätsschwur leisten können, aber das haben sie nicht getan. Und als der alte Neoly meinem Onkel Quescnarm mit dem Familienausschluss drohte – du erinnerst dich? – sprach er nur von der Lösung der Loyalitätsbande; Blutsbande lassen sich heutzutage nur mit DNA-Test lösen, das heißt, wenn auch wirklich nachweislich keine Blutsverwandtschaft besteht. Und Blutsschwüre …« Sie zuckt mit den Schultern.

      Richard Shelton schüttelt konsterniert den Kopf. »Singisen und ihre Familienbande! … Gilt das strenge Inzestverbot dann nur für die Blutsgebundenen?«

      »Nein. Das gilt für alle. Man kann ja keine Frevelei riskieren!«

      Trotz allem muss Richard Shelton lachen. Das lernt er von ihr: zu lachen, wo andere es absurd finden würden. Eine Weile liegen die beiden schweigend nebeneinander und blicken in das Blätterdach, das nicht mehr grün ist, sondern ein Baldachin bewegter Schatten.

      »Es ist seltsam«, sagt Myn schließlich. »Das Leben fand einfach einen neuen Rhythmus. Einen anderen, wahrscheinlich keinen besseren, aber einen Rhythmus, der sehr schnell Gewohnheit wurde. Es ging einfach weiter.«

      »Das hast du schon gesagt«, entgegnet er, und er glaubt ihr dieses zweite Mal nicht mehr als das erste, »dass die Welt nach dem Tod deiner Mutter nicht stehenblieb.«

      »Das meine ich nicht. Ich meine das Andere: Das Leben im Reich verlief einfach mehr oder weniger in seinen gewohnten Bahnen – selbst nachdem Ktorram Asnuor zwei Nysdau nach der Verbrennung der Baummörderin zum Vorsteher des Reiches gewählt wurde. Er verstärkte die militärische Präsenz an der Grenze zu den U. P., führte durch, was er eine ›Reform der Verteidigungskräfte‹ nannte, und ließ eine neu eingerichtete Gruppe, die sogenannten ›Streiter des Wy‹, nach weiteren Mitgliedern der Organisation fahnden. Doch die Töchter der Lchnadra hatten sich nach Mutters Tod zurückgezogen, und die Streiter fanden nichts. Freundinnen meiner Mutter standen eine Zeitlang unter Beobachtung, aber wie gesagt: Sie verhielten sich still. Und das war’s – zumindest sah es so aus.«

      Darauf weiß Richard Shelton einen Moment lang nichts zu sagen. Natürlich kennt er das Datum, an dem Ktorram Asnuor zum Vorsteher des Singisischen Reiches wurde. Auf einmal hielt dieser fanatische Priester, den bis zu diesem Zeitpunkt keiner als Politiker ernstgenommen hatte, den höchsten Regierungsposten im Memnáh inne – ein Mann, der Tage zuvor erst eine Frau verbrannt hatte. Eine regelrechte Paranoia hatte die Vereinten Planeten ergriffen; die Mehrheit schien jeden Moment mit einem Angriff der Singisen auf das Territorium der U. P. zu rechnen. Umso größer war die Überraschung, als sich der Fanatiker als kluger, wenn auch harter Verhandlungspartner erwies, mit dem man, wenn alle ehrlich waren, vernünftiger reden konnte als mit dem jovialen, aber inkonsequenten Nessran Nygfén.

      »Du glaubst, Asnuor hatte alles geplant«, sagt er.

      »Nein. Ich glaube es nicht, ich weiß es.«

      Darauf bleibt ihm nichts zu entgegnen. Was auch? Nygfén mochte damals bei der Wahl zum Reichsvorsteher eine Chance gehabt haben gegen den Obersten Priester des Wy – aber nicht gegen den Mann, der die Baummörderin aus der Welt gebrannt hatte. Das ist ihm klar. Plötzlich fühlt Richard Shelton die Kühle und die Dunkelheit.

      »Lass uns aufbrechen«, meint er. »Der Park wird ohnehin bald schließen.«

      Myn bezeigt ihre Zustimmung, indem sie aufspringt und versucht, Richard von der Picknickdecke zu schütteln. Hastig steht er auf und nimmt ihr die Decke aus den Händen. Gefaltet legt er sie im Picknickkorb neben die fest verschraubte Thermoskanne, in der nur noch ein winziger Schluck Kaffee zu finden wäre, würde einer der beiden nachsehen.

      »Es ist sehr schön hier«, kommentiert Myn ihren Nachmittag und den Ort, an dem sie ihn verbracht haben. »Ein wirklich guter Platz, um sich zu verstecken.«

      Es dauert einen langen, langen Moment, bis er begreift, wovon sie redet. Sein Lachen perlt frei in den Abend, und sie wünscht sich, sie könnte es mit nach Hause nehmen.

      »Nein, Myn, der Name des Parks hat nichts mit sich verstecken zu tun. Außerdem sind wir technisch gesehen schon wieder in einem anderen Garten.«

      Sie schüttelt den Kopf über das Übermaß an Parks, die diese Stadt durchziehen, aber es gefällt ihr. Stumm will sie ihm den Korb aus der Hand nehmen, aber er weigert sich, ihn herzugeben. Sie streiten ein wenig darüber, bis sie übereinkommen, dass ihre Beweggründe auf gleichermaßen unvertretbaren kulturellen Voreingenommenheiten basieren. Myn schnappt sich den Picknickkorb, als Richard gerade nicht hinsieht, und er wirft die Hände gen Himmel. Ich folge ihnen noch eine Zeitlang, dann aber gehe ich mich im Park und im Abend verstecken. Es wartet Arbeit auf mich.

      Mudmal Neoly saß am Pier des Alten Hafens von Naharmbra und ließ die Beine über die Mauer baumeln. Es war Ebbe, und die Wellen schlugen träge an die Mole. Mudmal betrachtete das frühe Blütezeitlicht, wie es leichtherzige Spiele auf der glatten Meeresoberfläche trieb, und dachte an gar nichts, während er an seiner fettigen Nammsa kaute. Er hatte sie sich in einem der schäbigen, aber vielbesuchten Läden gekauft, welche den Alten Hafen säumten. Sie war billig gewesen, und so schmeckte sie auch; wahrscheinlich hätte das Gebäck dem Großteil seiner Familie den Magen verdorben. Doch angesichts der Tatsache, dass er sich ganz eindeutig auf der falschen Seite der Stadt befand, war Mudmal die fehlende Angemessenheit seines Nachmittagssnacks mehr als egal, und im Moment hätte er sich nichts Besseres vorstellen können als die fetttriefende, heiße Nammsa, die ihm den Mund zusammenklebte. Er musste unbedingt daran denken, seinen Freunden später eine Runde Gebäck auszugeben – es war nicht so, dass sich Mudmal ihre Gesellschaft erkaufen musste, aber es bereitete ihm eine diebische Freude, Neoly’sche Wertsteine für einen Haufen Tunichtgute auszugeben, die seine Vettern und Onkel auf der Straße nicht einmal wahrgenommen hätten.

      Der hochfahrende Standesdünkel der Neolys, den Mudmal mehr hasste als irgendetwas sonst an seiner Familie, hatte sich nur noch verstärkt, seit Lys Pánn Neoly den Tod auf dem Scheiterhaufen gefunden hatte. Niemand muss ehrbarer sein als der Bastard eines ehrbaren Mannes, hatte Mudmal irgendwo einmal gelesen, und anscheinend traf dasselbe auf die Große Familie einer Nembdr und Baummörderin zu. Er bezweifelte, dass es momentan eine Adelsfamilie im Reich gab, die sich strenger an den ungeschriebenen Benimmcode der Großen Alten hielt als die seine. Diese verbissene Konformität erfüllte ihn mit einem vagen Gefühl der Verachtung, mit mehr aber auch nicht. Es verstörte ihn manchmal ein wenig, dass er es nicht fertigbrachte, das gleiche Ausmaß an Ingrimm den Neolys gegenüber zu empfinden wie seine Geschwister; ab und zu kam ihm das sogar wie Verrat vor. Ja, zu Anfang war Mudmal genauso entsetzt und wütend gewesen über die kollektive Weigerung der Neolys, seiner Mutter den Gnadentod zu geben, wie Vairrynn und Myn; in einem Anfall klassischen Neoly’schen Jähzorns hatte er eine Handvoll seiner Vettern zur Rede gestellt und die verschämte Antwort erhalten, sie hätten angenommen, dass die Oberhäupter der Familie diese Verantwortung schultern würden. Mit verächtlich gekräuselten Lippen hatte er verkündet, dass ihnen allesamt die grundlegende Anständigkeit fehlte, jenen, die der Verurteilten am nächsten standen, diese Bürde zu ersparen. Doch damit war es getan. Begraben und, wenn schon nicht vergessen, so doch erledigt. Mudmal war nicht gut darin, jemandem über lange Zeit zu grollen – eine Eigenschaft, die ihn offenbar von allen anderen Bewohnern des Küstenhauses unterschied. Dazu kam, dass er die positive Kehrseite des dynastischen Neoly-Stolzes am eigenen Leib erfahren hatte.

      Es waren kaum zwei Nysdau nach dem Tod seiner Mutter vergangen – zwei Nysdau, in denen er sich fühlte wie ein kleines Beutetier unter einem Rudel jagender Frnai – als der alte Neoly seine beiden Enkel aus der Schule am nördlichen Stadtrand nahm, die Vairrynn