Katharina Maier

Frevlersbrut


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in Gynls Stimme hören und erstarrte mitten in der Bewegung.

      »Ich hab sie neulich erst zusammen mit diesem Frachtschiff Rymmdla Byndall im Hakk-Park gesehen. Also, ich muss schon sagen, da würde mir die Auswahl nicht schwerfallen! Wer hätte gedacht, dass sich dieses knochige, kleine Ding so auswachsen würde. Und du weißt, was sie über Nembdr-Töchter sagen, nicht wahr, Neoly? Ich hätte sicher nichts dagegen, die Unersättlichkeit deiner Schwester auf die Probe zu stellen!«

      Gynl hatte die Lektionen, die er als Schulhoftyrann gelernt hatte, nicht vergessen, und wusste genau, welche Knöpfchen er bei anderen drücken musste, um sie die Beherrschung verlieren zu lassen. Aber er hatte nicht bedacht, dass sich Leute ändern. Mudmal Neoly war nicht länger der schmächtige kleine Junge, dessen Wagemut größer war als seine Beherrschung und als seine Körperkraft, und Gynl hatte den Fehler gemacht, ihn in seinem eigenen Revier zu stellen, wo er Neo war, der sich von nichts und niemandem etwas vormachen ließ. Das letzte Wort hatte Gynls Mund noch nicht verlassen, da fuhr Mudmal herum, das blitzende Messer in der Hand, das er in seinem Gürtel verborgen trug und das einen Lidschlag später zwischen Gynls Beinen im Holz des Denkmalbootes steckte. Einen Moment lang starrte Gynl verdattert zwischen dem ungehörigen Wurfgeschoss, das sich gefährlich nahe an essenziellen Teilen seiner Anatomie befand, und Mudmal, der schon sein zweites Messer gezogen hatte, hin und her, als würde sich sein Hirn weigern, die Verbindung zwischen beidem zu ziehen. Dann sog er mit einem erstickenden Geräusch die Luft ein.

      »Ngdra, hast du sie noch alle, Neoly?!«

      Mudmal antwortete nicht, ging nur in eine bessere Kampfstellung, für den Fall, dass Gynl auf die Idee kommen sollte, das Messer aus dem Boot oder den Kschurr aus dem Gürtel zu ziehen.

      »Hey, Neo, macht dir der Kerl Schwierigkeiten?«, fragte da eine Stimme hinter Mudmal, und der junge Neoly konnte ein Grinsen nicht verkneifen, als sich Nott und zwei weitere Gestalten demonstrativ neben ihm aufbauten. Gynl ließ seinen Blick von einem zum anderen schweifen und sah entschieden käsig aus. Mudmals Grinsen verbreitete sich, und er machte einen Schritt auf Gynl zu, dann noch einen. Sein Kindheitspeiniger presste sich an die hölzerne Bootswand, und Mudmal konnte seinen Kehlkopf hüpfen sehen. Einen Augenblick ließ er Gynl noch schmoren – und im Moment konnte er sich an nichts erinnern, das süßer gewesen wäre – dann griff er nach unten und zog sein Messer aus dem Holz.

      »Aber nein, Jungs, hier gibt es nichts, was unserer Aufmerksamkeit wert wäre.«

      Mit einem letzten Grinsen in Gynls Gesicht wandte er sich ab, und das zusammengewürfelte Häufchen seiner Freunde folgte ihm wie ein Mann. Sie waren einige Schritt weit gekommen, als Gynl seine Stimme wiederfand: »Du bist ein Schandfleck für die Großen Alten und für das wahre Singisentum, Neoly! Deine ganze Familie ist ein Schandfleck!«

      »Fick dich selbst, Gynl«, sagte Mudmal ungerührt und ohne sich umzudrehen. »Es wird sonst niemand tun.«

      Das Gelächter seiner Freunde umgab ihn, als sie zu viert hinüber zur Bäckerei stromerten, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Mudmal hätte gern geglaubt, dass er die Konfrontation auf diese Weise beendet hatte, weil er nicht wollte, dass Nott und die anderen dafür in Schwierigkeiten gerieten. Die Wahrheit jedoch war, dass er aus den Augenwinkeln die Gruppe von Wystreitern gesehen hatte, die irgendwann während seiner Auseinandersetzung mit Gynl auf dem Pier aufgetaucht war, und Mudmal konnte sich nichts Dümmeres vorstellen, als mit diesen Wchlachai Asnuors zusammenzugeraten, wenn man den Namen Neoly trug.

      Sie hatten einen weiten Bogen um die Wystreiter gemacht, als sie die Bäckerei wieder verließen, und schafften es so, jeder Art von Ärger aus dem Weg zu gehen. Bei den Streitern des Wy konnte man nie so genau wissen, welche Agenda sie gerade hatten, und einen Trupp zu vermeiden, hieß, auf Nummer sicher zu gehen.

      Ursprünglich war die Gruppe vom neuen Vorsteher des Reiches eingesetzt worden, um weitere Nembdrai aufzuspüren – Töchter der Lchnadra, aber auch andere widernatürliche Frauen. Sie hatten jedoch so gut wie keine Erfolge aufzuweisen. Die Verbrennung Lys Neolys hatte der Organisation offenbar den Todesstoß versetzt, und die Töchter der Lchnadra schienen sich einfach in Luft aufgelöst zu haben. Überall im Reich wurden verdächtige Frauen befragt, aber keiner konnte Widernatürlichkeit in einem Ausmaß nachgewiesen werden, das einen weiteren Scheiterhaufen gerechtfertigt hätte. Stattdessen wurden eine Reihe der Verdächtigen in Erziehungsanstalten des Wyordens geschickt – eine Maßnahme, die die Öffentlichkeit deutlich begrüßte. Doch die Streiter des Wy mit all ihrem Nembdrai-Eifer wurden schnell zu lächerlichen Figuren. Die Singisen wollten glauben, dass der Frevel des Baummordes ein Einzelfall gewesen war und Lys Neoly eine abscheuliche Abnormität. Sie wollten nicht glauben, dass ihre eigenen Frauen und Töchter Ausgeburten des Bösen waren, die die Vernichtung verdienten.

      Asnuor schien diese Haltung seines Volkes sehr schnell zu erspüren und stellte die großflächige, systematische Nembdrai-Fahndung ein. Das hinderte überzeugte Monowyisten und andere Übereifrige zwar nicht daran, jede Frau in ihrer Umgebung mit Frn-Augen zu beobachten und zweifelhaftes Verhalten zur Anzeige zu bringen; doch zum Großteil blieb es ruhig, und die Singisen waren zufrieden. Asnuor warnte seine Nchrynnai davor, die Augen vor dem Bösen zu verschließen, das in ihrer Mitte brütete, denn diese Haltung habe auch zu dem furchtbaren Baummord geführt, und kommandierte die Streiter des Wy dazu ab, die Sicherheitskräfte zu unterstützen und die Einhaltung der neuen, strengeren Bestimmungen zu überwachen, die die Vorsteherschaft des Obersten Priesters mit sich gebracht hatte. Der Alltag kehrte in das Memnáh zurück, und kaum jemanden außer den unvermeidlichen liberalen Unruhegeistern schien es zu stören, dass es ein Alltag mit härteren Sicherheitsverordnungen und erhöhter Polizeipräsenz war und dass Frauen fast keinen eigenständigen Schritt mehr tun konnten, ohne sich verdächtig zu machen. Es waren eben böse Zeiten, und böse Zeiten verlangten Opfer und Wachsamkeit.

      Wenn Mudmal angenommen hatte, unter den Bewohnern des Naharmbraner Hafenviertels eine andere Haltung vorzufinden, sah er sich enttäuscht. Die Erwartungen, was eine Frau zu tun und zu lassen hatte, mochten sich von denen unterscheiden, die ihm vertraut waren, aber auf ihre Weise waren sie nicht weniger streng – strenger sogar, wie er manchmal den Eindruck hatte. Gedankenverloren spielte er mit den beiden Armbändern aus Tigeraugen in seiner Brusttasche, die Notts Schwester angefertigt hatte, und fand es immer noch lächerlich, dass er sie nicht selber hatte aufsuchen dürfen, um das Schmuckstück abzuholen und ihr seine Anerkennung für ihre vortreffliche Arbeit auszusprechen. Er hatte gelernt, dass die kleinen Leute, wenn sie ehrbar waren, scharfäugiger über ihre Töchter wachten, als es den Großen Alten jemals in den Sinn kommen würde – und das mochte etwas heißen.

      Dennoch war es nicht die Ehre von Notts Schwester, über die Mudmal nachdachte, während er vom Alten Hafen nach Hause trabte, sondern die seiner eigenen. Was Gynl gesagt hatte, nagte an ihm mit unerfreulicher Hartnäckigkeit, und er wunderte sich über den Zufall, dass er ausgerechnet am heutigen Tag das erste Mal jemanden so über seine Schwester sprechen hörte. Sie war seine Schwester, um der Einheit Willen! Natürlich begutachtete man die Mädchen und kommentierte ihre Attribute, wenn auch nicht mit der gleichen boshaften Absicht wie Gynl, aber wie konnte irgendjemand Myn so ansehen, die seine Schwester war und schon immer ein kleines Mädchen gewesen war … Aber das war es eben, nicht wahr? Mudmals Hand krampfte sich um die Tigeraugenarmbänder, und einen Moment lang überkam ihn der irrationale Impuls, die Dinger aus seiner Brusttasche zu reißen und in den Rinnstein zu werfen. Myn war kein kleines Mädchen mehr, und er selbst war wahrscheinlich der Letzte, der es gemerkt hatte.

      Als hätten Gynls Bemerkungen eine Art Achten Sinn für Brüder aktiviert, musste Mudmal plötzlich an Ftonims letzten Besuch im Hause Eftnek Neolys denken. Er hatte Vairrynn, Myn und vermutlich auch Mudmal Auf Wiedersehen sagen wollen, bevor er zu einem seiner Trips in die Vereinten Planeten aufgebrochen war; Myn hatte Ftonim umarmt, um ihm eine gute Reise zu wünschen, und Ftonim hatte sie einen Moment zu lange festgehalten und sie dann von Kopf bis Fuß angesehen mit einem Glitzern in den Augen, für das Mudmal ihn jetzt im Nachhinein gerne geschlagen hätte.

      Keuchend blieb der junge Neoly stehen und versuchte, die Hände auf die Knie gestützt, den ererbten Jähzorn wieder in die Kiste in seinem Innern zurückzustopfen, in die er gehörte. Er mochte Ftom, ganz ehrlich, aber er wollte nicht, dass jemand wie er seine Schwester so