entscheidenden Komponenten des 19. Jahrhunderts. Die Menschen wurden durch beides zwar einerseits aus ihrer gewohnten Lebensumgebung herausgerissen, erlebten aber andererseits den Aufbruch in die Moderne mit. Ökonomisch betrachtet war England durch die schon weit fortgeschrittene Industrialisierung eine Weltmacht. Frankreich hatte es zwar mit inneren Unruhen zu tun, war aber doch ein weitgehend stabiles Königreich, das sich auf seine weltweiten Kolonien stützen konnte. Deutschland hingegen kämpfte noch mit der Überwindung der Folgen der konfessionellen Spaltung, seiner geopolitischen Zersplitterung und nicht zuletzt mit den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, der im 17. Jahrhundert die geographische Mitte des Kontinents zerstört hatte. Dadurch lag Deutschland ökonomisch deutlich hinter seinen europäischen Nachbarn zurück, auch wenn sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das wirtschaftliche Wachstum und der soziale Wandel rasch beschleunigten.
Mehr als zwei Drittel der deutschen Erwerbsbevölkerung war in der Landwirtschaft beschäftigt. Ihr Leben war eintönig, an die Scholle gebunden und warf für die Bauern nur ein bescheidenes Einkommen ab. Gleichwohl wurde der gesellschaftliche Reichtum im Agrarsektor erwirtschaftet, so dass jeder landwirtschaftlichen Innovation eine entscheidende Bedeutung zukam. Die gesellschaftliche Ordnung des ausgehenden 18. Jahrhunderts war ständisch geprägt. Die gesellschaftliche Trennung zwischen Adel, Klerus und dem aus freien Bauern und Bürgern bestehenden „Dritten Stand“ gab es im wirtschaftlichen ebenso wie im rechtlichen und sozialen Bereich. Dabei standen die Adligen mit den Fürsten und Königen an der Spitze der sozialen Rangordnung, die keinerlei Durchlässigkeit besaß. Mehr noch: Wer in eine soziale Schicht hinein geboren wurde, wurde durch Rechtsvorschriften darin festgehalten. Der Adel, der im 18. Jahrhundert von der Steuerzahlung befreit war, kontrollierte die Nutzung des Bodens und lebte von den Abgaben und Dienstleistungen, die die von ihm abhängigen Bauern zu erbringen hatten. Diese starre und jeder Modernität entgegenstehende soziale Ordnung wurde dadurch vor Veränderungen geschützt, dass den unteren Schichten kaum Wahlmöglichkeiten blieben. Sie konnten weder ihren Wohnort, noch ihre Arbeitsstelle, den Beruf und schon gar nicht ihre Ehepartner frei wählen. Ihr Leben unterlag strengen Regeln, die von ihren Grundherren überwacht wurden. Deshalb war es den meisten Menschen am Beginn des 19. Jahrhunderts nicht möglich, zu reisen, andere Städte oder Länder zu sehen. Und wenn sie ihre Region doch einmal verlassen konnten, dann traten sie eine beschwerliche Reise an, die sie in Pferdewagen über lehmige Wege von einem Ort zum anderen brachte. Den meisten Menschen wird ein derartiges Vergnügen allerdings verwehrt geblieben sein, weil sie weder das Geld noch das Interesse hatten, ihre heimatliche Umgebung zu verlassen. Mobilität bezog sich am Ende des 18. Jahrhunderts auf Händler, die den Kontinent kreuz und quer mit ihren Waren bereisten und auf fromme Pilger, deren Ziel meist der Vatikan in Rom war.
Kontemplatives Reisen und Erkunden passte nicht zur Lebenswirklichkeit der Menschen. Ihr Alltag bestand aus harter Arbeit auf den Feldern, die nicht ihnen gehörten. Die agrarischen Arbeitsweisen waren von Überlieferungen der Vorfahren geprägt, technischen Fortschritt gab es nicht. Das Familienleben war von der beständigen Sorge geprägt, was aus ihren Mitgliedern bei Krankheit oder Tod des Ernährers werden sollte. Die Kinder waren eine Art Zukunftssicherung, sie mussten eines Tages ihre Eltern unterstützen. Das Verhalten wurde bestimmt von ihrer Einstellung zum christlichen Glauben und zur Kirche. Die Bibel und die dazugehörige apostolische Interpretation bot den Menschen eine überirdische Sinnerklärung ihres beschwerlichen Lebens an. Durch die christliche Lehre war das Leben der Menschen stark von der Vorstellung geprägt, schon im Diesseits für das Jenseits zu leben. Im jenseitigen Reich des christlichen Herrn würden sie für ihre irdischen Qualen reichlich entschädigt werden, so die Heilsbeschreibung der katholischen und evangelischen Kirche. Damit ließen sich für die einen alle irdischen Ungerechtigkeiten leichter ertragen und für die anderen besser rechtfertigen. Gleichzeitig trug der christliche Wertekanon aber auch zur Stabilisierung der sozialen Ordnung am Ende des 18. Jahrhunderts bei. Beide christliche Kirchen boten den Menschen Halt in einer als ungerecht empfundenen Welt an. Der Wegfall dieses Halts durch die Säkularisierung der christlichen Welt während der Französische Revolution war Auslöser für Unsicherheitsgefühle und Zukunftsängste bei vielen Menschen am Beginn des 19. Jahrhunderts.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebte der überwiegende Teil der Bevölkerung auf dem Land. Die allermeisten Erwerbstätigen waren in der Landwirtschaft beschäftigt, sie stellten das Rückgrat der agrarischen Gesellschaft. Lediglich zehn Prozent der Menschen hatten sich in Städten oder kleinen Siedlungen niedergelassen. Dort waren sie in den Manufakturen tätig oder übten kaufmännische und militärische Berufe aus. Aber auch in den Städten und Dörfern war das Leben strengen Regeln unterworfen. Zünfte und Gilden organisierten den Berufsalltag und sorgten durch strenge Zugangsregeln dafür, dass politische oder wirtschaftliche Rechte für die Angehörigen der jeweiligen Verbände erhalten blieben. Auch in den Städten kamen die meisten Menschen über ihren unmittelbaren Umkreis nicht hinaus. Reisen aus privaten oder beruflichen Gründen waren höchst selten, Straßen waren weder geteert noch kartographiert. Die Pferdewagen holperten über Kopfsteinpflaster oder lehmige Böden, was das Reisen verlangsamte und zur Strapaze machte.
Wer doch eine Reise antrat und Deutschland durchqueren wollte, musste mehrfach Zölle oder andere Abgaben zahlen, die an den Grenzen der vielen kleinen Territorien erhoben wurden. Hunderte eigenständige Völkerrechtssubjekte hatten sich auf deutschem Boden versammelt und damit zwar einerseits den Grundstein für den Föderalismus der heutigen Bundesrepublik gelegt, andererseits aber auch einen einheitlichen Wirtschaftsraum in der europäischen Mitte verhindert. Die französischen Nachbarn hingegen lebten bereits seit langem in einem einheitlichen, zentralistisch organisierten Staat. Die rückständige Agrarstruktur und die starke Wirkung der fortbestehenden feudalen Strukturen erschwerten in Deutschland sowohl die Lösung der nationalen Frage als auch die Bildung eines einheitlichen Marktes. Die feudalen Produktionsverhältnisse in Deutschland hemmten Produktion und Handel. Es gab keinen einheitlichen Markt und kein beherrschendes Zentrum des Handels. Jedes einzelne Territorium beharrte auf besondere Privilegien und Rechten und forderte lautstark die Beibehaltung besonderer Zölle und Abgaben.
Auf dieser Grundlage starteten die Deutschen in das aufregende 19. Jahrhundert. Wenn man es aus ihrer Sicht betrachtet, dann haben sie innerhalb eines Menschenlebens den Sprung aus einer rückständigen, kaum mobilen und wenig technisierten Agrargesellschaft in einen hochentwickelten, innovativen und stark technisierten Staat geschafft. Wie groß der Abstand zwischen Absprung und Landung war, kann man an technischen und ökonomischen Veränderungen ermessen. Gab es 1800 weder Straßen noch Eisenbahnlinien, schlängelten sich 1880 bereits 34.000 Kilometer Gleise durch das Land. Zur Jahrhundertwende arbeitete in Deutschland noch kein Hochofen, 100 Jahre später hatten sich im Ruhrgebiet ganze Städte um die qualmenden Schlote gebildet. Obwohl die neue Welt kaum noch wieder zu erkennen war und die alten Strukturen pulverisiert waren, mussten sich die Menschen in Deutschland diesem Wandel nicht nur anpassen, sondern ihn auch noch gutheißen. Von diesen Entwicklungen waren alle europäischen Länder betroffen. Aber die Deutschen waren auf Grund ihrer Geschichte und geographischen Lage in der Mitte des europäischen Kontinents besonders von den Umwälzungen betroffen. Deshalb lohnt die Betrachtung des 19. Jahrhunderts aus dem Blickwinkel der Deutschen, die den geostrategisch wichtigsten Teil des europäischen Kontinents bewohnt haben: Die Mitte.
Der Startschuss für die Veränderungen in Europa fiel aber nicht in Deutschland, sondern am 17. Juni 1789 in Paris durch einen Aufschrei der Empörung aus dem Munde eines Abgeordneten der französischen Nationalversammlung:
2 Die Französische Revolution
„Der König befiehlt? Der König hat hier nichts zu befehlen! Wir sind das Volk. Wir werden erst unsere Plätze verlassen, wenn man uns mit Bajonetten dazu zwingt.“ Mit diesen wütend herausgebrüllten Sätzen des eigentlich nicht zum Jähzorn neigenden Grafen Mirabeau begann eine Revolution, die das Gesicht des europäischen Kontinents veränderte wie kein Ereignis vorher.
Was war passiert? Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich der europäische Kontinent als instabil erwiesen. Als Folge des preußisch-österreichischen Konfliktes um den Einfluss im Deutschen Reich, hatte sich Frankreich auf Seiten Österreichs und England auf Seiten Preußens in den