Matthias von Hellfeld

Das lange 19. Jahrhundert


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zur Verteidigung der Revolution rekrutiert wurden. Diese Bürgersoldaten kämpften für ihre eigene Sache und verteidigten verbissen ihr Vaterland. Angeführt von waghalsigen, meist jungen Generälen fielen französische Truppen im Westen Deutschlands ein, besetzten und annektieren das Rheinland, die Niederlande, Savoyen und Belgien. Die alte Idee von der durch den Lauf des Rheins „natürlich“ vorgegebenen Ostgrenze Frankreichs lebte wieder auf. Der preußische König Friedrich Wilhelm II. führte zwar das große Wort von der „gottlosen“ Revolution in Frankreich im Mund, trat aber den französischen Soldaten in den preußischen Gebieten an den Ufern des Rheins nicht entgegen.

      Von den lautstarken Äußerungen des preußischen Königs ließ sich der inzwischen zum General aufgestiegene Napoleon nicht beeindrucken. Seine nächste Aufgabe war die Beendigung des Krieges gegen Österreich, wobei er eine Kostprobe nicht nur seines militärischen, sondern auch seines diplomatischen Geschicks ablieferte. Denn am 17. Oktober 1797 schloss er den Frieden von Campo Formio, ohne das in Paris wartende Direktorium zu unterrichten. Österreich musste neben der Lombardei auch die Niederlande abtreten und auf seine linksrheinischen Besitzungen verzichten. Damit war der Rhein von den Niederlanden bis zur Schweiz zur französischen Ostgrenze geworden. Alsdann gründete Napoleon mit der Ligurischen Republik um Genua und der Cisalpinischen Republik um Mailand die ersten beiden französischen Satellitenstaaten und unterwarf den Kirchenstaat. Papst Pius VI. leistete noch eine Zeit lang Widerstand, musste nach einer militärischen Besetzung des Kirchenstaats aber schließlich doch aufgeben. Der bereits schwer kranke Papst wurde über Siena und Florenz nach Frankreich verschleppt, wo er starb.

      Napoleon war nach diesem Coup in aller Munde. Er war der jugendliche Draufgänger, den Frankreich brauchte, um gegen die Übermacht der Feinde zu bestehen. Aber der junge Korse war auch innenpolitisch zur wichtigsten Figur der französischen Politik aufgestiegen. Nach seiner Rückkehr aus Italien sollte es gegen den letzten ernstzunehmenden Gegner in Europa, gegen England, gehen. Im Oktober 1797 stellt er eine Armee zur Überquerung des Ärmelkanals zusammen, das Unternehmen musste aber wegen der Übermacht der britischen Flotte wieder eingestellt werden. Am 19. Mai 1798 startete Napoleon eine Expedition nach Ägypten mit dem Ziel, den britischen Zugang nach Indien zu blockieren. Eine Niederlage gegen die britische Flotte unter Admiral Nelson machte die Aussichtslosigkeit des Unterfangens schnell klar, dennoch zog der Korse weiter und eroberte Gaza und Jaffa. Aber anders als in Italien wurde er im Nahen Osten nicht als Befreier, sondern als Ungläubiger und Eindringling gesehen. Das Ziel der Expedition – die Unterwerfung von Teilen Ägyptens, um England den Weg nach Indien zu versperren – erreichte er nicht. Während Napoleon im Nahen Osten kämpfte, eroberten die alliierten Gegner im Zweiten Koalitionskrieg die beiden französischen Satellitenstaaten in Oberitalien zurück und stellten dort die alte Ordnung wieder her. Allein die Tatsache, dass die Koalitionäre untereinander zerstritten waren und die Koalition sich 1799 wieder auflöste, verhinderte weitere militärische Attacken gegen Frankreich.

      Putsch in Frankreich

      Nachdem Napoleon die Aussichtslosigkeit seiner ägyptischen Mission erkannt hatte, verließ er seine Truppen und segelte unter dramatischen Umständen nach Frankreich zurück. Dort war die innenpolitische Situation nach wirtschaftlichen Schwierigkeiten und einer bei den Wahlen im Frühjahr 1799 gestärkten radikal-demokratischen Opposition aus den Fugen geraten. Es schien für einige Wochen, als könnte es zu einer erneuten jakobinischen Herrschaft kommen. In der Nacht des 9. November 1799 schlug Napoleon sich auf die Seite jener, die diesen Umschwung verhindern wollten. In einem Handstreich besetzte er die französische Hauptstadt und zwang die Angehörigen der gesetzgebenden Organe, die geltende Verfassung abzuschaffen und ihn als „Ersten Konsul“ eines Dreierkollegiums einzusetzen. Einen Monat später veröffentlichte er eine republikanische Verfassung, die ihm zunächst für zehn Jahre, später auf Lebenszeit diktatorische Vollmachten übertrug. Am 15. Dezember 1799 proklamierte Napoleon das Ende der Revolution:

      „Die Verfassung ist auf den wahren Grundsätzen der repräsentativen Regierung, auf den heiligen Rechten des Eigentums, der Gleichheit und der Freiheit gegründet. Die Gewalten, die sie errichtet, werden stark und fest sein, so wie sie es sein müssen, um die Rechte der Bürger und die Interessen des Staates zu garantieren. Bürger, die Revolution hält an den Grundsätzen fest, die an ihrem Anfang standen. Sie ist beendet.“

      Napoleon Bonaparte war auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner Macht. Zwar war er einerseits der Totengräber der Revolution, solange er aber andererseits ihre Ziele und Errungenschaften nicht antastete, konnte er sich der Unterstützung der Franzosen sicher sein. Zu seinen ersten Amtshandlungen gehörten Steuersenkungen und die Modernisierung der Verwaltung. Mit dem „Code Napoleon“ - oder auch Code Civil - hatte er das erste Bürgerliche Gesetzbuch verfassen lassen, das bald darauf zum Vorbild für andere europäische Rechtssyste-me wurde. Zudem gelang es dem gerade mal 30Jährigen in den kommenden Monaten sowohl Frieden mit der katholischen Kirche zu schließen, als auch die Streitigkeiten mit Österreich beizulegen. Anarchie und Chaos verschwanden aus dem öffentlichen Leben ebenso wie Guillotine, Willkürherrschaft und Rechtsunsicherheit. Noch nie in seiner Geschichte war Frankreich so mächtig wie zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Napoleon herrschte über das größte Reich, das seit Karl dem Großen zwischen Rhein und Atlantik, zwischen der Nordsee und Italien existiert hat. Ruhm und Wohlstand, den er den Franzosen bescherte, sein offensichtlich unbezwingbares militärisches Genie und sein politisches Geschick im Umgang mit den europäischen Gegnern ließen Vergleiche aufkommen. War nicht Napoleon der wahre Nachfolger Karls des Großen, der vor tausend Jahren das römisch-deutsche Kaiserreich als europäische Supermacht etabliert hatte? Folgte Napoleon nicht in direkter Linie den großen Cäsaren des Imperium Romanum? Nicht die deutschen Kaiser, die sich seit Jahrhunderten bemüht hatten in die Fußstapfen des großen Franken zu treten, waren die legitimen Erben, sondern er - der „Erste Konsul“ des revolutionären Frankreichs. Napoleon umgab sich als Imperator und „Erster Konsul“ mit Senatoren und Präfekten und erweckte tatsächlich so den Eindruck, Frankreich sei das dritte römische Reich. Vom Beginn seiner Regentschaft war der Hang zu Selbstherrlichkeit und Arroganz zu sehen. Beides sollte Napoleon erst in ungeahnte Höhen des Ruhms und der Anerkennung führen, um ihn dann in ebensolche Tiefen stürzen zu lassen.

      Kaiserreich

      Der nächste Akt fand am 2. Dezember 1804 statt. Mit einer pompösen Feier in der Kathedrale von Notre Dame krönte er sich selbst zum französischen Kaiser und begründete das erbliche Kaisertum der Familie Bonaparte. Papst Pius VII. durfte bei der Inszenierung der kaiserlichen Macht Napoleons nur zuschauen. Waren es früher die Päpste gewesen, die die weltlichen Herrscher gekrönt und damit der gottgewollten Ordnung den geistlichen Segen gegeben hatten, waren sie nun allenfalls noch Zaungäste. Napoleon signalisierte damit die neuen Vorzeichen: Das Sagen in einem säkularisierten Europa hat fortan der französische Kaiser, der Rest musste sich unterordnen. Der Pomp der Selbstinszenierung verfehlte die beabsichtigte Wirkung nicht, denn sie vermittelte den Anschein, als folge den absolutistischen Monarchen des Ancien Régime ein republikanischer Führer, der Frankreich in eine glorreiche Zukunft führen könne. Mit der Kaiserkrone auf dem Kopf und dem Elan einer erfolgreichen Revolution im Rücken machte sich Napoleon nun daran, die bestehende Ordnung zwischen den europäischen Völkern aufzubrechen. Viele Bürger in Europa unterstützten die Ideale der Französischen Revolution. Viele Untertanen der „alten“ Völker Europas erlagen der Magie des Rufes nach „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, den sich die Französische Revolution auf die Fahnen geschrieben und auch tatsächlich durchgesetzt hatte. Der französische Kaiser nutzte das aus und ließ sich überall dort als Überbringer der neuen Ordnung huldigen, wo die absolutistischen Monarchien Reformen verschlafen hatten. Das Ziel seiner Politik, die zwischen 1804 und 1814 Europa in Atem halten sollte, war eine europäische Einheit unter französischem Protektorat. Kurz vor seinem Tod, verbannt auf der Insel St. Helena im Südatlantik, offenbarte er die europäischen Ambitionen seiner Politik. Er habe, diktierte er, „alle Völker, die geographisch zu einer Nation gehörten“, wieder zusammenführen wollen. Auch wenn dieser Aspekt nicht die wichtigste Erklärung seiner Politik war, dürfte die europäische Idee vermutlich ein Teil seiner politischen Überzeugungen gewesen sein.

      Das