Liv-Malin Winter

Pechschwarzer Sand


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Strähnen durchzogen.

      »Ja«, antwortete Rena. Sie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. »Wir wollen so schnell wie möglich aus Fort Chipewyan weg.«

      »Das Problem ist, dass wir unter Polizeibeobachtung stehen. Wir wissen nicht, wie wir den Ort unbemerkt verlassen können«, ergänzte Chris.

      »Ihr müsst weiter abwarten. Irgendwann werden sie es leid sein, eine bettlägerige Frau zu observieren. Wisst ihr, wo ihr untertauchen könnt?«, fragte Ivy.

      »Vielleicht bei Tyrell«, überlegte Rena.

      »Bei deinem Cousin?«, fragte Chris ungläubig.

      »Tyrell ist als Unruhestifter bekannt. Ich glaube nicht, dass ihr bei ihm sicher seid«, gab Ivy zu bedenken.

      »Aber möglicherweise kennt er jemanden, bei dem wir für eine Weile bleiben können«, warf Rena ein. »Außerdem könnte er uns ein Boot besorgen. Ich werde ihn anrufen.«

      »Nein, lass mich das machen«, schaltete sich Ivy ein. »Du stehst unter Beobachtung und mit Sicherheit werden auch deine Telefongespräche überwacht.«

      »Ich denke, inzwischen trauen sie dir auch nicht mehr über den Weg. Sie wissen nicht, ob du in Bezug auf Rena die Wahrheit sagst oder sie nur decken willst«, bemerkte Chris.

      »Das ist richtig, aber ich habe meine eigenen Wege, um mit Leuten wie Tyrell Kontakt aufzunehmen, ohne dass ENTAL davon Wind bekommt. Tyrell hat regelmäßig Kontakt mit einem meiner Neffen. Wenn ich dem eine Nachricht hinterlasse, wird Tyrell mich auf dem Handy meines Neffen zurückrufen. Dann klingt das Ganze nach einem Telefongespräch, in dem eine Tante ihren Neffen fragt, wann er sie mal wieder besuchen kommt.«

      »Also gut«, willigte Chris ein. Die Anspannung war ihm deutlich anzumerken. »Ich muss zur Arbeit. Ich bin schon ziemlich spät dran.« Er gab Rena einen Kuss, verabschiedete sich von Ivy und verließ das Haus.

      »Nun wollen wir mal sehen, wie es dem Baby geht«, sagte Ivy an Rena gewandt.

      Chris öffnete die Haustür und spähte in die Dunkelheit. Der große Wanderrucksack auf seinem Rücken versperrte Rena die Sicht nach draußen. Er gab ihr ein Zeichen und sie verließen lautlos ihr Haus. Die beiden eilten durch den Ort und verbargen sich in den Schatten der Häuser. Obwohl es mitten in der Nacht war, war es um diese Jahreszeit nicht so dunkel, wie sie es sich gewünscht hätten. Einen ungünstigeren Zeitpunkt für eine Flucht hätte man nicht wählen können. Doch Chris und Rena blieb keine Wahl. Sie hofften, dass die Leute im Ort jetzt tief und fest schliefen. Die Aufmerksamkeit der Polizei hatte in der letzten Woche endlich nachgelassen. In diesem Punkt hatte Ivy Recht behalten. Vor drei Tagen hatte Rena sich von ihrem Vater verabschiedet. Es ging ihm immer schlechter und er hatte nicht mehr die Kraft, sie jeden Tag zu besuchen. Chris hatte vermutet, dass sie nach einem Treffen mit Renas Vater wieder genauer beobachtet werden würden. Aus diesem Grund hatten sie ein paar Tage verstreichen lassen, bevor sie die Flucht wagten. Rena war es unglaublich schwer gefallen weiterhin Schwangerschaftsprobleme vorzutäuschen. Ihr Vater benötigte ihre Hilfe, doch sie war zur Passivität verdammt. Dieser Abschied lastete sehr schwer auf ihr, denn sie wusste, dass es ein Abschied für immer war.

      Sie kamen am Friedhof vorbei und Rena blieb stehen.

      »Was ist?«, wisperte Chris.

      »Ich brauche einen Moment«, flüsterte Rena und betrat den Friedhof.

      Die Morgendämmerung kam unaufhaltsam näher und sie war in der Lage die Grabinschriften zu lesen. Sie ging zum Grab ihrer Mutter und berührte mit der Hand den kleinen weißen Zaun, der das Grab umgab. In einem stummen Zwiegespräch verabschiedete sie sich ein letztes Mal. Sie ließ ihren Blick über die anderen Gräber schweifen. Viele der Menschen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten, hatte Rena gekannt. Mit einigen war sie befreundet gewesen.

      »Wir müssen weiter. Es ist schon fast hell«, erinnerte Chris seine Frau und nahm ihre Hand.

      Rena wandte dem Friedhof den Rücken zu und sie eilten weiter. Nachdem sie das letzte Haus passiert hatten, sahen sie eine Gestalt in den dunklen Schatten der Bäume. Rena hielt unwillkürlich den Atem an. Chris trat beschützend vor sie. Vorsichtig näherten sie sich. Dann erkannten sie Tyrell. Sie begrüßten den jungen Mann und folgten ihm.

      »Ich habe das Boot am Ufer versteckt. Wir müssen eine halbe Stunde laufen. Näher wollte ich nicht an den Ort heranfahren. Sonst hätte der Motor uns verraten «, sagte Tyrell.

      Sie fuhren in dieser Nacht nur ein Stück des Weges und versteckten sich am Tag im Wald. In der nächsten Nacht würden sie auf dem Athabasca River das Firmengelände von ENTAL passieren.

      Isabella schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie brauchte einen Moment, um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Dann hörte sie das Geräusch wieder. Jemand hämmerte an die Tür. Sie spürte eine Bewegung neben sich im Bett.

      »Zieh dich an«, wisperte sie dem Mädchen zu, das neben ihr geschlafen hatte.

      Lautlos glitt Isabella aus dem Bett und schlüpfte in ihre Sachen. Sie öffnete die Tür des Schlafzimmers und sah auf dem Flur Tom, ihren Mitbewohner.

      »Erwartest du jemanden?«, erkundigte sie sich flüsternd.

      »Nein«, antwortete Tom ebenso leise.

      Isabella schlich ins Büro und überprüfte an ihrem Computer die Bilder, die die Überwachungskamera an der Tür ihr lieferten. Sie sah drei Personen. Zwei davon hatte sie noch nie gesehen. Denjenigen, der an die Tür hämmerte, kannte sie.

      »Du kannst aufmachen, es ist Tyrell«, rief sie Tom zu. Sie überprüfte die Bilder der Infrarotkameras, die sie im Wald verteilt hatte. Niemand schien die drei zu verfolgen. Isabella ging in den Flur, um ihre nächtlichen Besucher näher in Augenschein zu nehmen.

      Eine hochschwangere Frau und ein Mann mit rotblonden Haaren hatten die Hütte betreten. Tyrell folgte ihnen und stellte die Besucher als Chris und Rena vor.

      Rena schwankte vor Erschöpfung und Isabella beeilte sich, sie in das winzige Gästezimmer zu bringen. Sie zog ihr die Schuhe aus. Rena ließ sich ansonsten voll bekleidet auf das Bett sinken.

      »Danke«, murmelte Rena und versuchte ihre Augen aufzuhalten, um die blonde Frau näher in Augenschein zu nehmen.

      »Schlaf erst einmal. Alles andere hat bis morgen Zeit«, sagte Isabella und deckte Rena zu.

      »Wie heißt du?«

      »Mein Name ist Amy«, antwortete Isabella und nannte den Namen, den sie sich an dem Tag zugelegt hatte, als sie kanadischen Boden betreten hatte.

      Rena schloss erschöpft ihre Augen und war fast im selben Moment eingeschlafen.

      Nachdem Rena sich ausgeschlafen hatte, versorgte Isabella sie mit Essen.

      Fragend sah Rena sich um. Isabella verstand ihren Blick richtig. »Tom und Chris sind nach Fort McMurray gefahren. Chris wollte Kontakt mit einem Freund aufnehmen und wir hielten es für sicherer, wenn er es an einem belebten Ort tut, an dem viele Leute das Internet nutzen.«

      »Und wo ist Tyrell?« Rena nippte an ihrem Tee und aß den Haferbrei, den Isabella für sie gemacht hatte.

      »Er bringt das Boot zurück.«

      Rena nahm ihr Gegenüber genauer in Augenschein. Die Frau hatte grüne Augen und musste um die 30 Jahre alt sein.

      »Kommst du aus Deutschland?«, fragte Rena unvermittelt und griff nach dem Apfel, der vor ihr auf dem Tisch lag.

      »Wie kommst du darauf?«

      Rena glaubte einen Anflug von Besorgnis aus ihrer Stimme herauszuhören.

      »Dein Akzent erinnert mich an den meines Mannes. Er ist vor einigen Jahren aus Deutschland nach Kanada gekommen.«

      »Meine Eltern sind aus Schweden eingewandert, als ich noch ein Kind war. Ich bin meinen Akzent nie richtig losgeworden«, erklärte Isabella beiläufig.

      Rena wusste nicht, wie Schwedisch klang. Doch sie würde Chris fragen, ob