Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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die sie nun schon eine Weile vor sich hergeschoben hatte, die aber endlich gemacht werden mussten. Die Gartenarbeit hatte sie zudem davor bewahrt, über ihre Arbeit nachzugrübeln. Denn auch wenn sie momentan Urlaub hatte, konnte sie nicht einfach von heute auf morgen abschalten.

      Anja war Kriminalhauptkommissarin bei der Kripo München und arbeitete im Kommissariat 14, der sogenannten Vermisstenstelle, die für unbekannte Tote und Vermisste zuständig war. Anjas Aufgabenbereich beschränkte sich allerdings auf vermisste Personen. Darüber war sie froh, denn sie hegte eine heftige Aversion gegen Leichen, die schon beinahe das Ausmaß einer Nekrophobie besaß, einer krankhaft übersteigerten Angst vor Toten und toten Dingen.

      Sie liebte ihren Beruf, der ihr manchmal extrem viel abverlangte – vor allem, wenn es wieder einmal darum ging, eine unbekannte Leiche als einen ihrer Vermissten zu identifizieren. Er verschaffte ihr aber auch immer wieder eine enorme Befriedigung, wenn es ihr beispielsweise gelang, eine abgängige Person wiederzufinden und wohlbehalten zu ihrer Familie zurückzubringen. Nach Dienstschluss und in ihrer Freizeit gelang es ihr allerdings selten, einfach den Schalter umzulegen und jeden Gedanken an die vermissten Personen, deren Akten momentan auf ihrem Schreibtisch in der Dienststelle lagen, komplett zu unterdrücken. Dafür ging ihr das Schicksal der Personen, die verschwunden waren, oftmals ohne einen einzigen Hinweis auf ihr Schicksal zu hinterlassen, einfach zu nahe. Und deshalb war jedes Bemühen, ihre Arbeit und die vermissten Personen, für die sie die Verantwortung trug, aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, von vornherein komplett zum Scheitern verurteilt.

      Außerdem gab es noch zahlreiche andere Dinge, die ihr ständig ungewollt in den Sinn kamen.

      Die Aufklärung des als Suizid getarnten Mordes an ihrem Vater vor fünfundzwanzig Jahren zum Beispiel, bei der sie noch keinen einzigen Schritt vorangekommen war, obwohl sie mit dessen Bruder Christian einen erstklassigen Verdächtigen hatte. Doch trotz der mehrmonatigen stundenweisen Beobachtung durch einen ehemaligen Kollegen ihres Vaters konnten sie ihrem Onkel bislang nicht das Geringste nachweisen. Ja, sie konnte noch nicht einmal mit Fug und Recht behaupten, dass er der mehrfache Mörder war, für den sie ihn insgeheim hielt. Da sich die Überwachung letztendlich als kompletter Fehlschlag und Zeitverschwendung erwiesen hatte, hatten sie vor ein paar Wochen beschlossen, sie einzustellen.

      Eine weitere Sache, die sie seit ein paar Monaten immer wieder gedanklich beschäftigte, war die ebenfalls erfolglose Fahndung nach einem Mann, der sich Martin Keller genannt hatte, dessen richtigen Namen sie jedoch nicht kannte. Er war Geschäftsführer einer obskuren Organisation namens Hades, die für ihre reichen Mitglieder Menschenjagden und Organspenden organisiert hatte. Auch Anja wurde, als sie ein paar verdächtige Vermisstenfälle untersuchte und dabei dem Treiben von Hades auf die Spur kam, von drei Jägern durch den Wald gejagt, um wie ein Wildtier erlegt zu werden. Allerdings gelang es ihr, den Spieß umzudrehen. Leider konnten die Jäger unerkannt entkommen. Und auch Keller und seine Handlanger verschwanden, bevor Anjas Kollegen zur Stelle waren, um sie für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Zweifellos setzte Keller seine Arbeit inzwischen unter anderem Namen an einem anderen Ort fort und verschwendete vermutlich keinen einzigen Gedanken an Anja. Dennoch musste sie immer wieder an ihn denken. Und das nicht nur, weil sie ihn anfangs für ausgesprochen sympathisch gehalten und sogar gern gehabt hatte. Trotz seiner telefonischen Zusicherung, dass er nicht vorhabe, sie aufzusuchen, kribbelte es bei dem Gedanken an ihn jedes Mal zwischen ihren Schulterblättern, und sie warf zur Sicherheit einen Blick über die Schulter, ob er nicht plötzlich hinter ihr stand.

      Doch über diese Dinge wollte Anja nicht ausgerechnet jetzt nachdenken. Denn erstens hatte sie das schon so oft getan, dass sich ihre Gedanken mittlerweile nur noch im Kreis drehten und ohnehin nichts Neues ergaben. Und zweitens hatte sie nun einmal Urlaub. Und den wollte sie nach Möglichkeit genießen, ohne ständig an durchgeknallte Psychopathen, skrupellose Verbrecher oder gemeingefährliche Serienkiller zu denken. Davon hatte sie in den letzten zwei Jahren mehr als genug gehabt. Und darauf könnte sie, wenn es nach ihr ginge, in Zukunft gut und gerne verzichten. Deshalb verfolgte sie diese Gedanken nicht weiter, sobald sie ihr ungewollt in den Sinn kamen, auch wenn es ihr schwerfiel.

      Sie seufzte und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Kater, der wieder einmal so tat, als wäre er eine Katzenstatue. Ein deutliches Zeichen, dass er momentan mordsmäßig sauer war. Vermutlich gab er ihr die Schuld an dem miserablen Wetter, das ihn daran hinderte, durch die Umgebung zu streifen, was er mit Vorliebe tat, seit sie vor annähernd vier Monaten hier eingezogen waren. Als wäre sie in der Lage, das Wetter zu beeinflussen.

      Yin hatte früher auf einem Bauernhof gelebt und dort vermutlich viel Zeit mit der Jagd auf Mäuse, Vögel und anderen Kleintiere verbracht, was für eine Katze nur artgerecht war und seinen jetzigen Drang ins Freie erklärte. Allerdings hatte er sich dort auch ständig vor den brutalen Übergriffen des Sohnes der verwitweten Bäuerin in Acht nehmen müssen, der bereits Yins Gefährtin Yang getötet hatte. Auf der Suche nach einer verschwundenen Studentin war Anja in die Gewalt der Bäuerin und ihres Sohnes geraten. Sie konnte sich allerdings befreien und ihre Peiniger mit viel Glück und Yins Unterstützung töten. Anschließend adoptierte sie den herrenlosen Kater gewissermaßen und nahm ihn mit in ihre damalige Wohnung in der Nähe des Westparks. Doch dort hatte das Tier keine Gelegenheit, nach draußen zu kommen, und musste die ganze Zeit in der Wohnung verbringen, davon mehrere Stunden pro Tag allein, während Anja in ihrer Dienststelle war und ihren Job erledigte.

      Damit der Kater endlich wieder seinen notwendigen Auslauf bekam, hatte Anja sich schließlich schweren Herzen dazu entschlossen, in das Haus zu ziehen, das ihr verstorbener Ehemann Fabian von seinen Großeltern geerbt hatte. Es lag in unmittelbarer Nachbarschaft des Waldfriedhofs, wo sowohl ihr Vater als auch ihr Mann begraben lagen. Nach seinem Tod war es eine Weile leer gestanden, weil Anja es nicht über sich bringen konnte, hier einzuziehen. Das Haus war mit Erinnerungen an Fabian erfüllt – schöne und weniger schöne –, und seit sie wieder hier wohnte, musste sie noch öfter als früher an ihn denken. Außerdem war ihre alte Wohnung näher an ihrer Dienststelle gelegen, sodass sie das Auto oft in der Tiefgarage hatte stehen lassen und zu Fuß in die Arbeit gehen können. Und der Westpark, in dem sie am liebsten ihre Laufrunden drehte, war praktisch nur einen Steinwurf entfernt gewesen.

      Doch letzten Endes war der Ortswechsel für alle besser, und sie hatte es bislang auch nicht bereut, dass sie die Wohnung aufgegeben hatte und in das leerstehende Haus gezogen war. Für Yin war ein Haus mit Garten auf jeden Fall die bessere Wahl. Und auch sie hatte sich hier rascher wieder eingewöhnt, als sie zunächst angenommen hatte. Außerdem konnte sie auch weiterhin wie gewohnt im Westpark ihre Runden drehen. Er lag zwar nicht mehr unmittelbar vor der Haustür, war aber lediglich anderthalb Kilometer entfernt, sodass sie in wenigen Minuten dort sein konnte.

      Ausschlaggebend für den Tapetenwechsel war allerdings nicht Yins Bedürfnis nach Freigang gewesen, sondern der Umstand, dass Anja im Zuge ihrer Ermittlungen, die sie auf die Spur von Martin Keller und der Organisation Hades gebracht hatten, gezwungen gewesen war, in ihren eigenen vier Wänden in Notwehr einen gesuchten Mörder zu töten. Nach diesem Vorfall war es ihr entschieden leichter gefallen, die Wohnung trotz ihrer unbestreitbaren Vorteile aufzugeben. Im Übrigen sparte sie sich seitdem die Miete.

      Allerdings war sie nunmehr auch gezwungen, Gartenarbeit zu verrichten, eine Tätigkeit, die sie insgeheim verabscheute. Eine Weile hatte sie es zwar noch vor sich herschieben können, doch mittlerweile war es überfällig gewesen, sonst hätten sich vermutlich demnächst die Nachbarn über den verwahrlosten Garten beschwert, allen voran die neugierige Frau Stanglmayer von nebenan. Aus diesem Grund hatte sie auch gleich den ersten Tag ihres Urlaubs dazu genutzt, denn wenn sie sich heute nicht dazu aufgerafft hätte, wäre es bestimmt bis zum Ende ihrer freien Tage liegen geblieben. Und wer weiß, wann sie dann wieder Zeit dafür oder Lust darauf gehabt hätte. Während der ungewohnten gärtnerischen Arbeit an der frischen Luft war sie gehörig ins Schwitzen gekommen, auch deshalb benötigte sie jetzt dringend eine Dusche.

      Doch vorher wollte sie noch versuchen, Yin etwas zu trösten. Deshalb ging sie zu ihm und neben ihm in die Hocke, damit sie ihn streicheln konnte. Doch der Kater reagierte weder auf ihre Nähe noch auf die Berührung. Er starrte weiterhin nach draußen, als hätte er dort etwas Hochinteressantes erspäht, das er auf keinen Fall aus den Augen lassen wollte. Anja richtete ihren Blick ebenfalls nach draußen,