Eberhard Weidner

DER REGENMANN


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vor dem finsteren Hintergrund der regnerischen Nacht. Außerdem fiel der Regen schräg gegen die Glasscheibe und lief in zahlreichen langen Bahnen daran herunter. Yin konnte also gar nichts erspäht haben, das sich möglicherweise dort draußen befand. Aber vielleicht war es ja auch eher so, dass er mit seinen erheblich ausgeprägteren tierischen Sinnen etwas spürte, das sich im Schutz des Regens im Garten herumtrieb.

      »Was ist denn da draußen?«, fragte Anja die Katze, wohl wissend, dass schon allein die Frage Unsinn war und sie natürlich keine Antwort bekommen würde. Allerdings erwartete sie insgeheim eine andere Reaktion des Tiers.

      Doch Yin bewegte keinen Muskel, er schien nicht einmal zu blinzeln. Unter ihren Fingern, mit denen sie noch immer über sein glänzendes schwarzes Fell strich, konnte sie spüren, wie angespannt das Tier war. Es vibrierte geradezu vor innerer Erregung.

      »Was ist denn los, Yin?«

      Noch immer keine Reaktion.

      Erneut richtete Anja ihren Blick in die Richtung, in die der Kater gebannt starrte. Doch das Ergebnis war dasselbe wie zuvor. Die Scheibe spiegelte lediglich das Innere des Hauses wider und ließ nichts von dem erkennen, was außerhalb dieser vier Wände geschah. Sie überlegte, ob sie die Terrassentür öffnen und nachsehen sollte, ob da draußen etwas war. Vielleicht nur ein anderer Kater, mit dem Yin Revierstreitigkeiten ausfocht, obwohl Anja bezweifelte, dass bei diesem Sauwetter auch nur eine einzige Katze unterwegs war.

      Der heftige Regen überzeugte sie zudem davon, dass es momentan nicht ratsam war, die Tür zu öffnen und auch nur den Kopf nach draußen zu strecken. Ihr kurzes dunkelblondes Haar wäre innerhalb eines einzigen Augenblicks völlig durchnässt, und dann müsste sie mit tropfnassen Haaren durchs Haus laufen.

      Keine gute Idee!

      Sie seufzte und richtete sich auf. Was immer die Aufmerksamkeit der Katze auf sich gezogen hatte, würde vermutlich von allein wieder verschwinden. Falls da draußen überhaupt etwas war. Vielleicht war Yin auch nur wegen des heftigen Regens so angespannt, der verhinderte, dass er raus konnte.

      Anja zuckte mit den Schultern. Obwohl sie sich umdrehen und nach oben gehen wollte, um zu duschen, blieb sie noch einen Moment länger neben ihrem Hausgenossen stehen und richtete ihren Blick erneut auf das gespiegelte Wohnzimmer vor ihr.

      Und plötzlich hatte sie das intensive Gefühl, beobachtet zu werden. Sie erschauderte und legte unwillkürlich die Arme um den Oberkörper, als wäre ein eisiger Luftzug durchs Wohnzimmer geweht, der sie frösteln ließ.

      Das Gefühl währte nur den Bruchteil eines Augenblicks, sodass Anja sich gar nicht sicher war, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Dennoch trat sie automatisch einen Schritt zurück.

      Verärgert über ihre ängstliche Reaktion auf ein derart irrationales Empfinden schüttelte sie den Kopf.

      »Ich muss jetzt duschen«, sagte sie zu Yin, der sie noch immer hartnäckig ignorierte. »Und du kannst von mir aus gerne weiterhin die Terrassentür bewachen und den Garten im Auge behalten, wenn du willst.« Damit wandte sie sich schulterzuckend ab und verließ das Wohnzimmer.

      3

      Der Regenmann beobachtete, wie die Frau aus dem Zimmer ging. Dabei ließ sie das Licht brennen. Entweder ging sie nur in die Küche oder auf die Toilette und kam gleich wieder zurück, sodass es sich nicht lohnte, das Licht auszumachen. Oder aber sie wollte die blöde Katze nicht im Dunkeln sitzen lassen.

      Er hob den Blick und behielt die Fenster im oberen Stockwerk im Auge. Da er das Haus bereits in der vorherigen Nacht für eine Weile beobachtet hatte, wusste er genau, welche Räume hinter den jeweiligen Fenstern lagen. Nun wartete er angespannt und leckte sich dabei immer wieder mit der Zunge nervös über die Lippen, die schon etwas wund waren.

      Hab noch ein klein wenig Geduld!, ermahnte ihn die Regentropfenstimme. Gleich ist es so weit.

      Der Regenmann nickte gehorsam und entspannte sich wieder etwas. Denn wenn der Regen sagte, dass es gleich an der Zeit sei, dann war es auch so. Schließlich wusste sein Mentor alles und hatte immer recht.

      Im nächsten Moment registrierte er mit Erleichterung und Genugtuung, dass hinter einem der Fenster im Obergeschoss ein Licht anging. Der Regenmann wusste, dass es sich dabei um das Badezimmer handelte.

      Endlich war der Moment des Handelns gekommen, und er konnte zuschlagen!

      Jetzt!, gab ihm nun auch der Regen das ersehnte Startsignal.

      Erregung und Vorfreude erfüllten den Regenmann gleichermaßen, als er sein Versteck zwischen den nassen Büschen aufgab und über den Rasen zur Terrasse lief. Erst unmittelbar vor der Terrassentür stoppte er seinen Lauf abrupt.

      Die Katze war bei seinem Auftauchen aufgesprungen. Sie machte mit gesträubtem Fell einen Buckel und fauchte ihn durch die Scheibe, über die der Regen lief, angriffslustig an, während ihr Schwanz hin und her peitschte.

      Der Regenmann verzog missmutig das Gesicht. Er hasste es, wenn diese hinterhältigen Mistviecher so etwas machten. Er erinnerte sich daran, was der Regen ihm gesagt hatte. Erst sollte er die Frau töten und sich dann um die Katze kümmern. Aber wie sollte er das hinkriegen, wenn das Vieh sich ihm in den Weg stellte. Konnte er es wagen, den Anweisungen des Regens zuwiderzuhandeln, indem er die Katze vor der Frau tötete? Er leckte sich unschlüssig über die Lippen.

      Warte noch etwas, bevor du ins Haus gehst, riet ihm der Regen.

      Erleichtert, dass er in diesem Moment keine eigenständige Entscheidung treffen musste, befolgte der Regenmann den Rat und beobachtete argwöhnisch die Katze.

      Das Tier schien irritiert zu sein. Sein aggressives Verhalten hatte den schwarz gekleideten Mann auf der Terrasse nicht vertrieben. Außerdem war er groß und wirkte dadurch bedrohlich, was die Katze allmählich einzuschüchtern schien. Sie stellte ihre Drohgebärden ein und wich langsam zurück. Ihre Ohren lagen dabei flach am Kopf an, und ihr Schwanz war unter den Körper geschlagen. Als der Abstand ihrer Meinung nach groß genug war, sodass sie es gefahrlos wagen konnte, ihm den Rücken zuzuwenden, drehte sie sich um und rannte so schnell aus dem Wohnzimmer, dass der Regenmann ihr kaum mit den Augen folgen konnte.

      Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der Regen musste gewusst oder zumindest vorausgesehen haben, dass die Katze sich mehr vor ihm fürchtete als er vor ihr, und hatte ihm, wie immer, den richtigen Ratschlag erteilt. Was wieder einmal bewies, wie gut es war, den Regen auf seiner Seite zu haben und stets auf ihn zu hören.

      Aus diesem Grund war er auch so froh, dass es regnete, denn ansonsten hätte er auf die Unterstützung des Regens verzichten müssen. Einerseits bot ihm der Vorhang aus Regentropfen Deckung vor neugierigen Blicken. Andererseits gab der Regen ihm in seiner unendlichen Weisheit und Intelligenz die notwendigen Anweisungen und teilte ihm jederzeit hilfreiche Ratschläge und Verhaltensregeln mit. Ohne die Hilfe des Regens hätte der Regenmann ein solches Unterfangen niemals erfolgreich durchführen können. Denn auf sich allein gestellt war er weder mutig noch klug. Erst im Schutz des nächtlichen Regens und mit seiner Unterstützung wuchs er über sich hinaus und konnte Dinge tun, zu denen er ansonsten nie in der Lage gewesen wäre.

      Jetzt ist es an der Zeit, dir Zutritt zum Haus zu verschaffen!

      Ohne den Weckruf des Regens hätte der Regenmann den richtigen Zeitpunkt verpasst, denn er war in Gedanken versunken gewesen. Dabei durfte er sich so etwas hier und jetzt gar nicht erlauben. Er ärgerte sich daher über sich selbst und beschloss, sich ab jetzt noch besser zu konzentrieren. Er durfte seinen Lehrmeister auf keinen Fall enttäuschen, sonst hätte er den Ehrentitel eines Regenmannes nicht verdient.

      Rasch zog er den Reißverschluss des Regenparkas herunter und holte einen großen Schraubenzieher aus der Innentasche. Nachdem die Frau gestern zu Bett gegangen war, hatte er sich auf Anraten des Regens die Fenster und die Terrassentür aus der Nähe angesehen. Er wusste daher, dass es keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen wie zum Beispiel eine Alarmanlage oder spezielle Tür- und Fensterverriegelungen gab. Es war daher auch für ihn, der alles andere als ein professioneller Einbrecher war, ein