Hans Joachim Gorny

Wohlstand macht unbescheiden


Скачать книгу

Kindern das Haus. Alle zu Fuß. Zu Mittag aßen meine Eltern mit Geschäftsleuten in jeweils wechselnden Restaurants, abends wurden noch Überstunden gemacht und Gespräche geführt. Lief die Kanzlei schlecht, blieb der Tagesablauf der gleiche, weil meine Eltern bis spätabends herumtelefonierten, um neue Mandanten zu werben. Mutter Hilde ging meist etwas früher, um uns zu erziehen.

      Zuhause ging es gepflegt zu, die Wohnung war immer aufgeräumt. Die Möbel waren aus Frankreich und eingekauft wurde auch nur auf der anderen Seite des Rheins. Selbst unsere Raumpflegerin kam von drüben und durfte nur französisch sprechen. Sie war es dann auch, die uns Kinder mit warmen Mahlzeiten versorgte. Nachdem sie das Haus Richtung la France verlassen hatte, pflegte meine Mutter ins Haus zu schneien. Zuerst mussten alle drei Kinder antreten und vom Tag berichten. Was ich mit einem Satz erledigte. Dann wurde Schulisches durchgekaut, anschließend die neusten Verhaltensregeln ausgegeben. Nachdem sie ihren Nachwuchs ordentlich aufgemischt hatte, wurde sie gnädiger. Manchmal wurde ein wenig Fernsehzeit erlaubt; eine erfolgreiche Anwaltsfamilie musste damals selbstverständlich einen Fernseher besitzen und eine Garage haben, in der ein Mercedes stand. Die Raumpflegerin indes, unsere geliebte Anike, hatte Erbarmen und ließ uns heimlich fernsehen. Wir wollten ja in der Schule mitreden können, was es so alles gab. Vor jeder Sendung mussten wir drei in ritueller Weise Anike schwören, sie nicht zu verraten. Sonst wäre es aus gewesen mit fernsehen, weil sie entlassen worden wäre. Wenn ich mit ihr allein war, ich hatte ja weniger Unterricht als meine älteren Geschwister, konnte ich den Fernseher anmachen wie ich wollte. Sie achtete darauf, dass er rechtzeitig abgestellt wurde, damit er bis zum Eintreffen meiner Geschwister abkühlen konnte. In unserem Haus gab es nur eine verschworene Gemeinschaft, das waren Anike und ich.

      Meinen Geschwistern Franz und Katharina wurden Ordnung, Disziplin und Ehrgeiz beigebracht. Eine Erziehung, die in der damaligen Zeit selbstverständlich war. Im Hause Ludwig geschah das aber ohne Gewalt; der gewünschte Erfolg wurde durch moralischen Druck und Stubenarrest erreicht. Trotz ihrer häufigen Abwesenheit, widmeten unsere Eltern ihre wenige Freizeit ganz der Formung ihrer Kinder. Womit aber nur Franz und Katharina gemeint waren. Beide nahmen die Sache Abitur bierernst. Beide waren überdurchschnittlich ehrgeizig und auch begabt, wollten aus ihrem Leben etwas machen, zeigen, dass sie etwas Besonderes waren und sich von den Mitmenschen unterschieden. Haben sich vermutlich in Gedanken über andere erhoben.

      Besonders unsere Mutter betrachtete die Erfolge ihrer Kinder als ihre eigenen. Da sie selber keine Lorbeeren eingeheimst hatte, wollte sie wenigstens die errungenen Lorbeeren ihrer Kinder auf sich beziehen. Mutter Hilde sonnte sich in den sehr guten Noten, den Theaterauftritten, sportlichen Erfolgen, künstlerischen Produkten und Einser Abituren ihrer zwei Gymnasiasten. Franz wollte ein erfolgreicher Politiker, Katherina eine berühmte Ärztin werden. Die Eltern unterstützen sie wo sie nur konnten, rieben sich dabei richtiggehend auf. Der Name, den sich die eigenen Kinder machen, wirft auch Licht auf die Eltern.

      Während meine Geschwister zu Höherem gepuscht wurden, wuchs ich Spätling unbeschwert heran. Keinen störte, dass ich in den Kindergarten ging wie es mir gerade passte. Keiner vermisste mich, wenn ich auf dem Nachhauseweg in der Stadt herumstromerte und mein Umfeld genauer unter die Lupe nahm, als meinen Eltern recht sein konnte. Die Raumpflegerin-Köchin-Miterzieherin Anike ließ mich gewähren, weil sie mit den zwei anderen schon überfordert war. Meine Eltern waren unglaublich froh, dass ihr Nachzügler sich alleine beschäftigen konnte. Geschwister und Eltern vergaßen zeitweise, dass es mich gab.

      Als ich in die Schule kam, waren die Eltern voll und ganz in das gymnasiale Leben meiner Geschwister verstrickt und verbrauchten damit ihre Energie. Um den ganzen Aufwand auch noch mit ihrem Jüngsten durchzuziehen, fehlte ihnen danach der Elan. Meine Mutter hatte schlicht und einfach von Erziehung die Nase voll, mein Vater hatte schon einen erfolgreichen Sohn, was ihm genügte. Ich kleiner Phillip wurde mir selbst überlassen.

      Mit Erleichterung registrierten alle Familienmitglieder und Anike, dass ich keine Ansprüche stellte. Für mich galten nicht einmal die allgemeinverbindlichen gemeinsamen Mahlzeiten. Ich bin bei dem und dem, reichte meinen Eltern und Geschwistern als Entschuldigung. Ich behauptete es mit einer angeborenen Selbstverständlichkeit und einem natürlichen Charme, der Gedanken, dass es nicht seine Richtigkeit haben könnte, gar nicht zuließ. Wie ich Erwachsene für mich einnehmen und um den Finger wickeln konnte, hatte ich schon im Kindergarten herausgekriegt. Ich lernte auch früh, mich aus dem Kühlschrank zu versorgen. Ich genoss Freiheiten, von denen meine Geschwister gar nicht wussten, dass es sie gab.

      Als ich in die Schule kam, bekam ich, außer einer übertrieben großen Schultüte und einigen halbherzigen Ratschlägen und Ermahnungen, ein üppiges Taschengeld, damit ich als Sohn einer erfolgreichen Familie angegeben konnte, womit sich meine Eltern halbwegs von ihrem schlechten Gewissen befreiten, das sie mir gegenüber hatten.

      Mit dem Geld hätte ich mich beliebt machen und Freunde kaufen können, so wie es einige andere vormachten. Doch das hatte ich nicht nötig, denn ich bin von speziellem Charakter und bis heute ein Separatist.

      Die Eltern hielten es für gegeben, dass ich in die Fußstapfen meiner Geschwister trat. Mein fröhliches und sorgloses Auftreten ließ sie im Glauben, dass in der Schule alles in Ordnung sei. Für mich war es das auch. Doch in der zweiten Klasse gab es die ersten Noten. Als das Zeugnis zur Unterschrift auf dem Küchentisch lag, hielten meine Eltern es für eine Halluzination. Da standen mehrere Ausreichend drin, d.h. Vieren. Und wenige Gut. Meiner Mutter hatte es die Sprache verschlagen. Auch meinem Vater fehlten zuerst die Worte.

      „Ist das dein Ernst?“, fragte er schließlich. „Bei deinen Geschwistern stand da überall Sehr gut.“

      „Muss ich so unlustig werden wie meine Geschwister?“ fragte ich allen Ernstes mit einem völlig offenen und unschuldigen Gesicht, in dem sich Empörung ankündigte.

      „Ja willst du nicht mal was Großes werden und viel Geld verdienen?“ wagte die Mutter einzuwenden.

      „Ich wüsste nicht für was das gut sein soll“, sagte ich doch glatt als Zweitklässler. „Ich will mal Bauer werden und nicht immer im Büro sitzen so wie ihr.“ Da war ich schon zu sehr von meinem Freund Michael und dessen Familie beeinflusst, die in einer Gasse der Altstadt lebte.

      „Bauer?!“ rief die Mutter empört. „Lokomotivführer und Feuerwehrmann könnte ich noch verstehen. Unsere Kinder machen Abitur und studieren etwas Hochwertiges. Aber ein Bauer mit Stallgeruch kann nicht zu uns gehören.“

      „Wenn ich groß bin, muss ich auch nicht mehr zu euch gehören.“

      Da merkten die Eltern, dass es schwierig werden könnte.

      Lesen konnte ich sehr gut, aber Rechtschreibregeln und Rechnen wollten einfach nicht in meinen Kopf. Die Menge der Leichtsinnsfehler in den Klassenarbeiten und die daraus resultierenden Noten, machten Mama und Papa fassungslos. Mein Zeugnis hatte sich bis zum Ende der dritten Klasse nicht gebessert. Es gab wieder Diskussionen.

      „Aber es hat doch gereicht“, war mein Einwand.

      „Das Zeugnis reicht gerade zum Tagelöhner“, kommentierte der Vater.

      „Das muss bedeutend besser werden“, warnte die Mutter. „Wir wollen dich nach der vierten Klasse auf dem Gymnasium sehen.“

      „Damit ich so komisch werde wie meine Geschwister? Die haben doch für nichts Zeit. Haben die überhaupt schon einmal im Heu gespielt? Oder mit einem Kätzchen? Wisst ihr überhaupt wie kuschelig andere wohnen?“

      Der Vater runzelte seine Stirn. „Bei uns ist es sauber und ordentlich und wir haben viel Platz. So ist das nur bei Leuten die reich sind.“

      Darauf benutzte ich ein verbotenes Wort, was mir erstaunlicher Weise nicht einmal eine Rüge einbrachte. „Reich sein ist Scheiße. Ihr habt jede Menge Zeug, aber keine Zeit.“

      Die Eltern vermuteten, dass den Satz mir jemand vorgesagt haben musste. Aber irgendwie hatte er gepasst.

      Durch meine bevorzugten Freunde hatte ich von unserer Heimatstadt ein gänzlich anderes Bild als meine Eltern. Es macht einen Unterschied ob man in Villen oder in Mietskasernen, Gassen und Bauernhöfen verkehrt. Zugegeben, in meiner Schulklasse gab es auch einige Idioten, die