Hans Joachim Gorny

Wohlstand macht unbescheiden


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die lästigen Viecher aufgestöbert und wenn wir es tatsächlich einmal geschafft hatten, eine Ratte zu töten, standen wir angeekelt davor und wussten nicht wohin mit dem Kadaver, weil keiner ihn anfassen wollte. Er blieb dann einfach liegen, Verwerter gab es ja einige.

      Meine Familie hatte mit meinem Umgang ein Problem, vor allem ein geruchliches. Als ich das erste Mal von Michael zurückkam, lag etwas Unbekanntes in der Luft. Weder meine Eltern noch meine Geschwister konnten es stofflich einordnen. Anike, die Putz-Fee, verließ zufällig gerade verspätet das Haus. „Sag mal Phillip, warst du in einem Ziegenstall?“, fragte sie auf Französisch. Chevre hatte ich verstanden.

      Erst da erzählte ich Erstklässler, der sonst nie viel erzählte, mit flammenden und begeisterten Worten, dass ich Gizzi gestreichelt und Hühner in den Stall getrieben hätte. Es sprudelte nur so aus mir heraus. Die Familie war baff, so kannte sie mich nicht. Irgendwann war auch geklärt was Gizzi waren. Die Eltern hatten sich danach nicht getraut mir die Besuche zu verbieten, befürchteten wohl, dass ich nicht gehorchen würde und sich ernsthafte Konflikte anbahnen könnten. Sie hielten es für eine vorrübergehende Schwärmerei. Aber Anike erhielt die Order, falls ich mal wieder aus dem Ziegenstall nach Hause kommen sollte, mich gleich zu waschen und frisch einzukleiden.

      Es wurde normal, dass ich unbemerkt das Haus verließ, unbemerkt zurückkam und mit entwaffnendem Lächeln immer so tat, als wäre alles in bester Ordnung. Außer dass Hosen und Schuhe schmutzig wurden, ist auch nie etwas passiert. Nur blieben die Noten schlecht.

      Aber die meiste Freizeit während meiner Schulzeit verbrachte ich außerhalb der Stadt, auf dem Bauernhof von Alex‘ Familie.

      Natur

      Solange sich Menschheit und Wohlstand vermehren, werden Naturräume weniger. Davon bin ich überzeugt. Der sich ständig vermehrende Verbrauch muss ja irgendwo hergeholt werden. Und primär wird die Menschheit auch weiterhin den billigeren Weg bevorzugen. Denn: Weshalb werden Luft und Wasser verschmutzt und neue Flächen verbraucht? Weil es billiger ist. Die Reste der Urwälder wird man umzäunen und mit Waffengewalt verteidigen müssen. Ebenso die Nationalparks, von denen viele nur so lange bestehen bleiben werden, wie sich der Tourismus lohnt. So lange genug Touristen nach Afrika fliegen, die Elefanten, Nashörner, Löwen und Gorillas in freier Wildbahn erleben wollen, wird es diese Tiere auch geben. Wenn nicht, wird alles was Geld bringt gewildert und die Nationalparks werden als Weideland für Rinder genutzt. Bei vielen Stämmen ist es Brauch, möglichst viele Rinder zu besitzen, ohne auf den wirtschaftlichen Nutzen zu achten.

      In meinem Leben habe ich einige Male mein Hobby gewechselt. Als Schüler war ich im Leichtathletikverein, mit achtzehn entdeckte ich das Motorradfahren, danach wurde ich ein bekannter Freizeitsportler. Als Mensch der sich immer zu beschäftigen weiß, fand ich irgendwann wieder ein neues Steckenpferd. In einer Altstadtgasse kaufte ich ein leerstehendes Tagelöhner-Haus. Das Haus mit kleinem Stall und Schopf hatte nur noch Grundstückswert, ich bezahlte gerade mal vierzehntausend D-Mark. Und ich freute mich diebisch, weil die Stadt nicht zum Zuge gekommen war. Denn die Stadt lässt alte Häuser, Ställe und Scheunen, die nicht unter Denkmalschutz stehen, abreißen und macht aus den Grundstücken Parkplätze.

      Inzwischen gibt es in der ganzen Altstadt, auch im Brunnental, nicht einmal mehr das Relikt eines Misthaufens. Kein einziges abseits stehendes Aborthäuschen ist mehr zu finden. Einzig ein alter Schweinestall, der steht unter Denkmalschutz. Aber sonst ist die Vorstadt Brunnental aller Zeugen der ehemaligen kleinbäuerlichen Kultur beraubt. Aus den Ställen und Scheunen wurde Wohnraum; wo früher Maissilos, Hasenställe, Holzlager und Karren standen, parken nun die Autos der Bewohner; wo damals eifrig die Hühner pickten, sitzt jetzt Betonpflaster oder liegt Asphalt. Dem Stadtteil wurde sein ursprünglicher Charakter, den er einige Hundert Jahre lang hatte, gründlich genommen. Zwar stehen die meisten alten Häuser noch, aber alle sind schön gestrichen und sehen aus wie eine Filmkulisse. In meiner Kindheit konnten sich die Altstadtbewohner keine Farbe leisten, an vielen Gebäuden bröckelte der Putz, in der Regel wurde nur provisorisch geflickt. Es war das organische Gegenteil zu meinem sterilen perfekten Elternhaus.

      Wenn man gemein wäre könnte man behaupten: Der Wohlstand löst in der Bebauung wie auch in den Hirnen die Bescheidenheit auf. Wer es entspannter sieht sagt sich: Leben ist Veränderung, nicht einmal ein Berg bleibt wie er war.

      Nachdem meine langjährige Beziehung mit Elfi wackelte, bin ich dem Naturschutzbund beigetreten, eben um etwas für die Natur zu tun. Zumindest mal vor unseren Stadttoren. Denn so, wie am Amazonas, im Kongo und auf Borneo Naturräume zerstört werden, werden sie auch in Deutschland vernichtet. Und in Deutschland ist alles viel kleinstrukturierter. Jede Fläche die verloren geht, ist ein Trittstein weniger, den einheimische Tiere und Pflanzen nutzen können, um ihre Art zu erhalten. Gerade die Rheinebene würden die Bürgermeister gerne zu einem Industriegebiet machen. Kaum eine Feuchtwiese ist noch erhalten, jedes Bächlein ist kanalisiert, alte Gewässer sind am verlanden, wertvoller Baumbestand ist bedroht.

      Zum Naturschutz kam ich über meinen Freund Alex, dessen Vater Landwirt war. Damals. Keines der fünf Kinder wollte den Hof übernehmen. Als Alex und ich achtzehn wurden, war das einstmals profitable und stolze landwirtschaftliche Anwesen, das problemlos eine Familie ernährt hatte, unmodern und unrentabel. Alex‘ Vater legte den Hof still und ging in Rente. Sein Nachfolger hätte am Hungertuch genagt.

      Am Ende des vierten Schuljahres waren meine Noten immer noch nicht besser, eine Empfehlung fürs Gymnasium in weiter Ferne. Meine Schwester Katharina kam in die Zehnte, mein Bruder Franz in die heiße Phase, die mit einem möglichst ruhmreichen Abitur beendet werden sollte. Das Problem Phillip wurde nur kurz aber intensiv behandelt. Während der Vorhaltungen und Predigten meiner Eltern zog ich meinen Kopf ein, zeigte meine antrainierte schuldbewusste Miene und ließ den wortreichen Schauer über mich ergehen, ohne mich groß zu äußern.

      Für ein Abitur war ich einfach nicht zu begeistern. Mir leuchtete die Notwendigkeit nicht ein, mich wie meine Geschwister abzumühen, um etwas zu erreichen, was sowieso schon viele anstrebten. Dazu musste man auch geboren sein. Für ein Streberleben fehlte mir der Sinn und ich sah die Gefahr, so zu werden wie meine Eltern. Deren Dasein war für mich nicht nachahmenswert. Nur für den Beruf zu leben, war das Letzte was ich als Zehnjähriger wollte. Meine Art, alles mit Abstand zu betrachten und locker zu bleiben, passte sowieso nicht zu einer gymnasialen Karriere. Gefühlt waren meine Prioritäten höherwertig als die Prioritäten meiner Familie. Ich spürte deutlich, dass ich nicht so war wie die meisten und ich wollte auch nicht so sein wie die meisten. Was ich wollte, wusste ich damals noch nicht. Das Einzige was ich wusste war: Ich wollte nicht dem Geld hinterherrennen und ich wollte keine Karriere machen. Beides hätte ich als zu gewöhnlich empfunden. Und ich war grundsätzlich immer auf der Seite der Schwächeren. Das war der Einfluss der Karl May Bücher. Schon als Kind war ich ein Einzelgänger, den das Tun der Mehrheit befremdet. In mir steckte die Natur eines Nischenbewohners, der unbeachtete Lebensräume zu nutzen weiß.

      Nachdem mein Vater seine Vorhaltungen beendet hatte, meinte er gönnerhaft: „Phillip, dann machen wir das so: Du gehst vorerst auf die Realschule und holst dein Abitur später nach.“ Ich nickte eifrig und war damit entlassen. Im Rechtschreiben aber war ich so schlecht, dass ich eine Aufnahmeprüfung machen musste, die ich nicht bestand. Diese Niederlage hätte ich mir gerne erspart, wollte aber guten Willen zeigen. Meine Eltern schüttelten nur ratlos ihre Köpfe und machten sich zum Vorwurf, dass sie mich nicht zum Nachhilfeunterricht gezwungen hatten. Meiner Kariere als Hauptschüler stand nichts mehr im Wege.

      In der fünften Klasse bekam ich neue Mitschüler und der Sportunterricht eine andere Qualität, mein Klasse musste nun um den ganzen Sportplatz rennen. Der Junge, der das am besten konnte, hieß Alex. Ich fragte ihn neidisch, weshalb er so schnell war. Er sei im Leichtathletikverein, sagte Alex stolz und musste erst einmal erklären was das war. Es imponierte mir, in einem Sportverein zu sein und schnell rennen zu können. Ich ging mit Alex ins Schülertraining und fand Gefallen daran, mir die Lunge aus dem Leib zu rennen. Hinterher war ich angenehm schlapp. Nach einigen Probe-Trainingseinheiten legte ich meinen Eltern eine Beitrittserklärung zur Unterschrift vor. Kurz wurde diskutiert, ob ich nicht lieber ein Instrument lernen wolle. „Ich will mich bewegen, was ich beim