Hans Joachim Gorny

Wohlstand macht unbescheiden


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ständig auf Achse war. Einer der gerne unterwegs ist, so ihre Überlegung, ist in einem Leichtathletikverein gut aufgehoben.

      Alex und ich wurden dicke Freunde. Er wohnte auf einem Bauernhof, der etwa einen Kilometer vor der Stadt lag. Es war ein alter und ehrwürdiger Hof, mit vielen Nebengebäuden. Das wichtigste Gebäude war einmal die Mühle gewesen. An der Mühle floss ein schmaler Kanal vorbei, über dem ein riesiges Mühlrad hing. Im Gebäude hingen hölzerne Zahnräder und lederne Antriebsriemen, es sah aus wie bei Max und Moritz. Die Mühle aus dem neunzehnten Jahrhundert war noch betriebstauglich, aber leider zu langsam. Sie brachte ihrem Besitzer kein Geld mehr ein. Auf jeden Fall war sie ein herrlicher Spielplatz.

      Um eine Freifläche herum standen mehrere Gebäude. Neben der Mühle befand sich die Tordurchfahrt, in der in grauer Vorzeit die Knechte und im Krieg die Zwangsarbeiter geschlafen hatten. Daneben eine Überdachung für die Wagen und Gerätschaften, der Schweinestall und der Misthaufen. Gegenüber der Mühle standen das großzügige Wohnhaus, ein Stall mit zwölf Milchkühen und eine riesige Scheune. Im Hof waren zwei Wachhunde angekettet, die ihre Aufgabe sehr ernst nahmen und jeden Fremden laut und Zähne fletschend empfingen. Wenn man sie von der Kette ließ, waren sie plötzlich friedlich wie Lämmer und schnüffelten nur noch herum. Dann war ihre Dienstzeit beendet. Da ich schon die Hunde aus Brunnentals Gassen kannte, wusste ich die Hofhunde zu nehmen, die mich durch Alex‘ Vermittlung auch schnell akzeptierten.

      Wegen der Hunde mussten Besucher und Briefträger außenherum durch den großen Gemüsegarten zur Küchentür. Dort befand sich auch das Maschendraht-Gehege der Hühner, die alles aufpickten was hineingeworfen wurde. Für die Nacht wurden sie von den Kindern in ein gemauertes Häuschen gescheucht. Wo Hühner gehalten wurden, lebte garantiert mindestens ein Fuchs in der Nähe. Bei großem Hunger gruben sich Füchse sogar tagsüber unter dem Zaun hindurch.

      Manchmal radelte ich nach der Schule, ohne Anike Bescheid zu sagen, mit Alex zu dessen Hof. Angeblich um Hausaufgaben zu machen. Dort erwartete mich ein deftiges Mittagessen und saß ich mit Alex‘ vier Geschwistern, den Eltern und einer Oma am Tisch. Danach wurde gespielt oder die Gegend unsicher gemacht. Alex war der Zweitjüngste und hatte noch wenig Pflichten. Gespielt wurde meistens mit seiner siebenjährigen Schwester Konstanze, auf die er aufpassen musste. Spielten wir am oder im Kanal, gab es oft nasse und dreckige Schuhe und Hosen. Spielten wir in der Scheune, waren die Klamotten bis in die Unterhosen voll Heu. Wenn wir in den Ställen gespielt hatten, ging ich zuhause sofort freiwillig unter die Dusche.

      Das bäuerliche Mittagessen war oft gewöhnungsbedürftig, es gab solche Sachen wie Kohlrouladen, Rinderzungen, Kutteln und Ochsenmaulsalat. Nachdem einmal Rindfleisch mit Meerrettich auf dem Tisch stand, verzichtete ich aufs Mittagessen, aß zuhause und ging lieber später auf den Hof. Dann aber blieb ich bis zum Abendessen, weil es Holzofenbrot, geräucherte Würste, Speckeier und frischen Käse gab. Abends erreichte ich das elterliche Heim immer knapp vor dem Eintreffen meiner Mutter. Meine Hausaufgaben zu kontrollieren, wurde in der Regel vergessen, der schulische Werdegang meiner älteren Geschwister war den Eltern viel wichtiger. Meine Familie hatte einen Tunnelblick der an mir vorbei ging, an dessen Ausgang leuchtete das Wort Abitur. Noch hohler wurde es bei uns zuhause, als Franz einen Studienplatz suchte. Da war jedes gemeinsame Essen eine Qual, es redeten nur noch unser Vater und sein Ältester in masochistischer Weise über das immer gleiche Thema.

      Zwei Jahre später begann Alex‘ ältester Bruder eine Lehre als Koch und verließ Hof und Stadt. Alex musste nun öfter auf den Feldern und im Stall helfen und ich half mit. Lernte Rüben aufladen, Heu schwaden sowie Kühe und Schweine füttern. Ein weiteres Jahr später verließ der nächste Bruder den Hof und machte eine Lehre bei der Deutschen Bahn. Alex´ Vater zwang keinen, Bauer zu werden. Vermutlich ahnte er schon damals, dass ein Zehn-Hektar-Hof nicht mehr lange überlebensfähig sein würde. Die Kinder bekamen von den Sorgen nichts mit, weil weder die Mutter noch der Vater viel redeten und die Oma sowieso keinen Durchblick mehr hatte. Jeder der vom Hof ging war eine Entlastung und die Kinder merkten es nicht, weil sie ihre Eltern für tolerant hielten.

      Als auch die ältere Schwester in die Fremde ging, erreichten Alex und ich den nächsten bäuerlichen Level, denn wir lernten Traktor fahren. Auf den Höfen war es selbstverständlich, dass die Buben mit zwölf oder dreizehn Jahren Traktor fahren konnten. Alex‘ Vater kaufte einen Heuschwader und einen Ladewagen. Das Heu wurde nun maschinell zu Reihen geschoben, was uns Jungs grandiosen Spaß machte. Dann rasten wir zum Hof zurück und hängten den Ladewagen an. Es war eine Freude, wie einfach das Heu, ohne Handarbeit, von den Zacken aufgenommen wurde und im Wagen verschwand. In der Scheune wurde es maschinell auf den Heustock geblasen.

      Beim Pflügen und Sähen war mehr Genauigkeit erforderlich, das ließ sich der Vater nicht nehmen. Es war auch die Zeit, in der der Maisanbau aufkam. Die Rheinebene war das Maisanbaugebiet schlechthin und ist es heute noch. Vielen Einheimischen ist das ein Dorn im Auge, den Naturschützern sowieso. Wegen Arten-Armut. Aber keinem Bauern kann man einen Vorwurf machen, dass er mit Mais das meiste Geld verdient. Allerdings benötigen die Bauernhöfe heute, um überleben zu können, fünfzig bis hundert Hektar Fläche.

      Es gab für uns Jungs auch mal nichts zu tun. Dann waren wir auf der Pirsch, suchten seltene Pflanzen und versuchten Tiere aufzustöbern. Alex kannte ein paar Orchideen und tat ganz wichtig. Die seien selten und deshalb wertvoll. Einen Graureiher dagegen hielten wir für einen Kranich. Störche gab es noch, sie waren beim Heuen ständige Begleiter. Einige Jahre später waren sie genauso aus der Landschaft verschwunden wie viele Greifvögel. Da steckte das krebserregende Insektizid DDT dahinter, das sich in der Natur angereichert hatte.

      Wenn wir in ein Feldgehölz stiegen, konnten wir sicher sein, dort auf Rehe zu stoßen. Eine Sensation war es, wenn wir im Mai junge Füchse beim Spielen beobachten konnten. Und eine Mutprobe war es, obwohl sie nicht beißen, eine Ringelnatter zu fangen. Denn wenn man eine Ringelnatter in die Hände nimmt, entleerte sie sich sofort. Und das stinkt penetrant. Wer Pech hatte, bekam den weißlichen Dünnpfiff nicht nur auf die Hände, sondern auch auf die Klamotten. Die Schlangenkacke stank so sehr, dass nur noch ausziehen half. Die Hände musste man, um den Geruch restlos loszuwerden, dreimal waschen.

      Alex‘ Vater hätte gerne einen eigenen Weinberg gehabt, um abends ein Viertele schlotzen zu können, wie er meinte. Sein Wunsch erfüllte sich nicht. So blieb es beim selbstgebrannten Schnaps nach dem Essen. Entlang der Feldwege standen diverse Obstbäume als Bienenweide, um Schatten zu spenden und um Früchte zu produzieren. Äpfel, Birnen, Kirschen, Zwetschgen, Mirabellen und sogar die zuckersüßen Renekloden wurden weniger gegessen oder eingemacht, als zu Schnaps gebrannt. Bäume schütteln und Obst auflesen war im Herbst die große familiäre Gemeinschaftsarbeit. Im Winter wurde dann aus der Maische der Schnaps gebrannt. Dabei machte ich meine erste Bekanntschaft mit Alkohol. Alex´ Vater ließ mich probieren. Sofort wurde mir warm und stieg mir der Schnaps zu Kopf. Beeindruckt von der plötzlichen Wirkung, hätte ich am liebsten einen Zweiten getrunken. Doch der Bauer war nicht dumm. Er konnte schlecht den jüngsten Sohn eines Anwalts betrunken machen und ihn dann auch noch nach Hause radeln lassen. Den Winter nutzte Alex‘ Vater auch zum Körbe flechten, derweil durften wir Buben die Gülle und den Mist auf die Felder fahren. Um Traktor fahren zu können taten wir alles.

      Das einzige Hobby des Vaters war die Bienenzucht. Die Bienenvölker produzierten so viel, dass noch Honig verkauft werden konnte. Ab Hof wurden auch Milch, Butter, Eier und Schnaps verkauft, manchmal auch Wurst und Speck. Schlachttag war Festtag. Was mich immer wieder schockierte war, wenn die schon tote Sau mit brühheißem Wasser übergossen wurde und nochmals zu toben anfing. Das Metzgen kannte ich aber schon aus der Altstadt.

      Auf die Jagd gingen Alex und ich auch. Wir jagten die Bisamratten am Kanal, Wildkaninchen und Feldhasen. Gefangen haben wir nie etwas. Als dann die Myxomatose durchs Land zog, saßen die Wildkaninchen völlig zahm mit zugeschwollenen Augen auf den Feldern und Wegen. Da verging uns die Jagd und wir verlegten uns aufs Schwarzangeln. Mit selbstgebastelten Angelruten, Haken und Netzen belagerten wir den Kanal und den etwas entfernteren Bach. Unser Angelzeug taugte aber nichts. So wie wir mit unendlicher Geduld Frösche und Eidechsen von Hand fingen, lernten wir auch, Fische und Krebse von Hand zu fangen.

      Mehrere Nachmittage in der Woche und in den Ferien sowieso, verbrachte ich auf dem Bauernhof und Konstanze