Dagmar Isabell Schmidbauer

Der Tote vom Oberhaus


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von Menschen herum. Es war Mitte Juni, und um diese Jahreszeit war die Stadt voller Touristen. Die meisten Besucher, die auf die Burg kamen und in die Welt der Fürstbischöfe eintauchten, wollten in die Vergangenheit reisen, dem Mythos Mittelalter und allem, was davor und danach kam, begegnen. Natürlich gab es auch einige, die einfach nur einen besonders schönen Blick auf die Stadt werfen wollten. Doch die meisten, ob bewusst oder unbewusst, wollten von den Vorfahren lernen, um es in der Gegenwart vielleicht ein bisschen besser zu machen.

      Auch Xaver Mautzenbacher suchte nach der Vergangenheit, oder besser gesagt: Sie suchte ihn.

      Typisch für ihn war allerdings, dass er nichts davon ahnte. Vielleicht wollte er aber auch gar nicht begreifen, was er falsch gemacht hatte und warum er dafür leiden würde.

      Es war früher Montagnachmittag. Mautzenbacher hatte eine Verabredung. Es ging um eine Angelegenheit, für die ihm dieser Ort hoch über der Stadt Passau zwar geeignet, aber höchst ungewöhnlich schien. In der Regel lag es an ihm, den richtigen Treffpunkt auszuwählen, aber in diesem Fall hatte er nicht kleinlich sein wollen.

      Es stand zu viel auf dem Spiel.

      Während er über den mit Kies bedeckten Hof schritt, warf er einen raschen Blick auf seine Uhr. Es war erst kurz vor zwei. Bis zu seiner Verabredung um drei hatte er noch viel Zeit. Er würde sich in aller Ruhe umsehen können.

      Doch als er die Tür zum Empfang öffnete, sah er im Spiegel des Glases ein bekanntes Gesicht und wusste endlich, warum er das Gefühl, verfolgt zu werden, die ganze Zeit über nicht hatte abschütteln können.

      Er löste sein Eintrittsticket, erkundigte sich nach dem Weg zum Rittersaal und stieg dann die Treppe hinauf. Mautzenbacher hatte nicht vor, sich die ganze Ausstellung anzusehen, es genügte, wenn er in der Mitte begann. Im ersten Stock angekommen wandte er sich nach links und blieb vor einer Installation stehen, die wiedergab, wie Passau und sein regierender Fürstbischof infolge der Napoleonischen Kriege ihre Selbstständigkeit verloren hatten und fortan zu Bayern gehörten. Im Grunde interessierte ihn das alles nicht. Er war ein Mann, dem es auf andere Sachen ankam. Wissen bedeutete für ihn nicht, die geschichtlichen Zahlen einer Stadt zu kennen. Er wollte nur sicher sein, dass ihn sein Verfolger nicht aus den Augen verlor.

      Nichts liebte Mautzenbacher so sehr wie das Spiel, welches er in diesem Moment zu spielen begann. Es begeisterte ihn, dass ihn jemand beschattete – nein: Es erregte ihn. Er genoss, dass er sowohl den Weg als auch das Ziel selbst bestimmte. Er war Herr der Lage, der Gejagte, der zum Jäger wurde. Er fühlte sich nie besser als in diesen Situationen. Und er freute sich schon jetzt auf den Augenblick, in dem sein Verfolger bemerkte, dass er zum Opfer geworden war. So betrachtet waren die Ausstellungsräume also Nebensache. Für Mautzenbacher ging es ausschließlich darum, seinen Verfolger, ohne dass dieser es merkte, hinter sich herzulocken und den geeignetsten Ort für sein Vorhaben zu finden.

      Er schlenderte durch den Arkadengang hinein in den Raum mit dem Wohnturm und den Werkzeugen vergangener Zeiten, durch die Kältekammer, die für seine Zwecke leider nicht infrage kam, und durch alle möglichen bunten Aufbauten. Schließlich erreichte er schon den Burghof und hatte noch immer nicht gefunden, was er suchte. Doch dann, er sah das Gesicht

      seines Verfolgers schon erhitzt um die Ecke schauen, entdeckte er die Glastür, die ihn in den Fürstenkeller führte.

      Dort, wo niemand die Schreie hören würde.

      Durch die vergitterten Fenster wurde der Raum nur spärlich ausgeleuchtet, und seine Augen mussten sich erst an das Zwielicht gewöhnen. Doch rasch erkannte er, welch gute Wahler getroffen hatte. Mit zwei schnellen Schritten verschwand er hinter der Tür, in voller Spannung auf den nächsten Moment. Nicht einmal sein Atem hatte sich beschleunigt. Er war ein Mann, der Überraschungen liebte. Natürlich nur, wenn er sie selbst bestimmte, wenn seinem Gegenüber der Schock in die Glieder fuhr.

      Schreckensschreie liebte er über alles.

      Zögernd, wie nur ängstliche Menschen gehen, wenn sie nicht wissen, was auf sie zukommt, kamen die Schritte näher und tasteten sich schließlich in den Raum hinein. Xaver Mautzenbacher erwartete jeden Moment ein schüchternes „Hallo? Ist da jemand?“.

      Als sein Verfolger den Raumbetreten hatte, schloss Mautzenbacher leise die Tür und baute sich in voller Körpergröße vor dem einzigen Fluchtweg auf. Dann begrüßte er seinen Gast, und als er den unterdrückten Schrei vernahm, begann sein ganzer Körper vor Erregung zu kribbeln.

      Er musste lächeln. Ach, war das schön, wenn man sich auf etwas freuen konnte!

      Zufrieden beobachtete er das Zurückweichen seines Verfolgers, und mit Genugtuung setzte er sich Schritt für Schritt in Bewegung, vorwärts, direkt auf seinen verängstigen Gast zu. Jetzt. Jetzt war es gleich so weit.

      Andächtig beugte sich Samantha Halmgaard über ihre fast fertige Skizze und erschrak, als die alte Uhr, die neben dem Fenster hing, zur vollen Stunde schlug. Sie hatte sich von ihren Ideen in andere Welten tragen lassen und dabei vollkommen die Zeit vergessen. Hastig schob sie die Papiere zusammen und legte sie in eine Arbeitsmappe. Dann streckte sie sich, schob den schweren Stuhl zurück und stand auf. Dabei fiel ihr Blick erneut auf die Mappe, und ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es war der Entwurf für eine Installation zur Kaiserhochzeit von Leopold I. und Eleonore von Pfalz-Neuburg. Nachdem das Museum dieses Jahr an den großen Stadtbrand von 1662 erinnert hatte, wollte Samantha als Nächstes das zweite große Ereignis, das Passau berühmt gemacht hatte, in den Mittelpunkt der Dauerausstellung rücken.

      Neues zu ersinnen und Visionen in die Tat umzusetzen, das war es, was ihren Beruf als Direktorin des Oberhausmuseums für sie so einzigartig machte. In ihrer Fantasie war alles möglich. Sie konnte Pläne schmieden, ohne zu fragen, ob sie sich später wirklich realisieren ließen. Damit musste sie sich erst herumschlagen, wenn es ums leidige Geld ging.

      Wenn sie mitten in den Planungen steckte, war ihr alles andere lästig. Jeder Anruf, jede Störung. Und so war sie durchaus froh darüber, dass ein überraschender Besucher, der sich für die Mittagszeit angekündigt hatte, nicht gekommen war.

      Natürlich sprach sie wie alle Künstler gern über ihre Arbeit, und im Grunde liebte sie Abwechslung und kleine Überraschungen. Aber sie hatte gelernt, Privatangelegenheiten außerhalb des Museums zu lassen. Da war sie sehr streng mit sich, und letztlich hatte sich das ausgezahlt.

      Mit einem wohligen Stöhnen dehnte sie ihre verspannten Muskeln und gähnte herzhaft. Seit drei Jahren war sie hier die Museumsdirektorin, und seither hatte sie nicht nur ihren Kleidungsstil verändert. Als sie ihren Kopf in den Nacken legte, wanderte ihr Blick über die hohe Decke und an den Wänden ihres großzügigen Büros entlang. Es war ein wunderschöner Raum, alt und geschichtsträchtig, untergebracht im ehemaligen Gästehaus – was von Unkundigen oft mit einem Lächeln quittiert wurde. Von einem der Fenster aus konnte man über ganz Passau blicken. Genau so wie einst die regierenden Fürstbischöfe.

      Die zierliche Frau fuhr zusammen. Sie sah zur alten Biedermeieruhr, und erkannte erschrocken, dass es bereits kurz vor halb fünf war. In Kürze schloss das Museum, und sie wollte unbedingt noch eine Runde durch die Ausstellungsräume drehen und sich bei dieser Gelegenheit den ausgeräumten Raum im Fürstenkeller ansehen. Sie hatte es versprochen und es dann beinahe vergessen, vor lauter Kaiser Leopold I. und seiner jungen Frau, Eleonore Magdalena Theresia.

      Samantha Halmgaard lächelte. Sie hatte viel vor mit den beiden. Kaiserglanz stand hoch im Kurs bei den Besuchern, und wenn Passau schon etwas so Einzigartiges zu bieten hatte, was ja letztlich auch nur dem besonderen Vertrauensverhältnis zu Fürstbischof Sebastian von Pötting geschuldet war, dann durfte sie diesem Umstand ruhig in einer Ausstellung huldigen.

      Nur unwillig löste sie sich von ihren Plänen, holte den Schlüssel aus der Schublade ihres Schreibtisches und verließ das Büro. Sie schenkte sich den ganzen Rundgang durch die Ausstellung und überquerte den Hof, um in den gegenüberliegenden Keller hinunterzusteigen. Im Vorbeigehen grüßte sie wie immer die Bruderschaft der Salzhändler, zog den Kopf ein, als sie die fünf Stufen hinunterging,