Rikki Marx

Schlüsselzauber


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      Schlüsselzauber

      Tür ins Dunkel

      Rikki Marx

      Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.

      Albert Einstein

Ein Bild, das Nachthimmel enthält. Automatisch generierte Beschreibung

      Indien oder Baumarkt?

      E

      s war noch früh an diesem letzten Samstag vor den Zeugnissen, doch der Morgen versprach bereits einen warmen Sommertag. Der Himmel war tiefblau, nur hie und da waren federweiße Wölkchen an das Firmament getupft und der Wind wehte lau von Süden.

      Die zehnjährige Jule Beek schaukelte im heimischen Garten in stiller Konzentration. Lang ausgestreckt vor, tief gebeugt zurück. Vor, zurück, vor, zurück. Immer, wenn sie nach vorne schwang, streckte sie die bloßen Füße hoch empor und versuchte, mit den Zehen den unteren Rand einer Wolke zu erreichen, gleichsam, als wollte sie diese fortschubsen, damit der Himmel wolkenfrei würde, doch die Wolke blieb außerhalb ihrer Reichweite, egal, wie sehr Jule sich anstrengte. Also gab sie ihr Unterfangen auf, schaukelte lang ausgestreckt aus und ließ den Kopf nach unten hängen, so dass die Welt Kopf stand. Ihr langes blondes Haar strich sanft über das Gras, sie schloss die Augen, lauschte dem leisen Quietschen der Schaukelkette und wartete.

      Endlich verkündete das ungleich lautere Quietschen des Gartentors die erwartete Ankunft. Jule richtete sich auf, sprang von der Schaukel und ließ sich bäuchlings ins Gras fallen.

      »WD 40«, rief die ebenfalls zehnjährige Paula Degenhardt, Jules beste Freundin, noch vom Tor aus.

      »XV 13«, rief Jule zurück.

      »Hä?« Paula blieb stehen und blinzelte.

      »Vielleicht auch ZQ 87, ich bin mir nicht sicher, ist aber genauso unverständlich wie deins.«

      »Ach so.« Paula lachte, schloss das quietschende Tor und schlurfte näher. »WD 40 ist so’n Öl in ’ner Spraydose. Ich schwör’, meine Mutter schwört darauf. Wenn irgendeine Tür bei uns auch nur das kleinste bisschen quietscht, schnappt sich meine Mutter das Zeug, rennt damit durchs ganze Haus und besprüht jede, aber wirklich jede Türangel, selbst wenn sie noch gar nicht quietscht. Manchmal denke ich, dass sie sogar heimlich unsere Katze damit behandelt hat.«

      »Sag bloß, Minou quietscht nicht mehr.«

      »Japp. Sie hat sogar letztens ein stattliches Miau zustande gebracht.« Paula ließ sich neben Jule ins Gras nieder, lehnte sich zurück und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen. »Was für ein Tag.«

      Jule stützte die Ellbogen auf die Erde, musterte die Freundin und legte den Kopf in die Hände. »Okay, wenn ich mir dein Outfit so betrachte, ist bei euch definitiv Urlaub angesagt.«

      Grinsend setzte Paula sich aufrecht, zupfte an ihrem ausgeleierten T-Shirt herum, das ehedem von kräftigem Türkis gewesen und mittlerweile nur noch blassblau war. Ihre schwarze Shorts dagegen saß sehr eng.

      »Ich weiß gar nicht, was du hast«, sagte sie, während sie am Bund ihrer Hose nestelte, bis sie sowohl Knopf als auch Reißverschluss aufbekommen hatte. »Das ist mega-in diesen Sommer.« Sie atmete tief durch. »Besser. Viel besser.«

      »Ich hoffe, du musst dieses Ding«, Jule deutete mit ihrem Kinn auf Paulas Shorts, »nicht auch noch in der Schule tragen. Könnte übel werden.«

      »Bestimmt nicht schlimmer als diese Korsetts früher. Die Fräulein sind doch auch reihenweise in Ohnmacht gefallen, weil sie nicht richtig atmen konnten.«

      Jule veränderte ihre Stellung und saß schließlich im Schneidersitz neben ihrer Freundin.

      »Das meine ich gar nicht. Man sieht deine Unterhose.«

      »Uuuuh, Unterhosenalarm.« Paula zupfte am Bund ihres Slips und zog ihn noch höher.

      »Mir macht es nichts aus, ich hab das schließlich schon öfter gesehen, aber die Jungs …« Jule zuckte die Achseln und grinste breit.

      »Nee, lass mal gut sein!«, rief Paula lachend. »Zum Glück hat Mama noch zwei gute Hosen draußen gelassen – eine knielange und eine Jeans. Ich darf sie halt nur nicht schmutzig machen. Deshalb heute das hier.« Paula deute grinsend sowohl aufs Shirt als auch auf die Shorts.

      Jedes Jahr packte Frau Degenhardt die Koffer bereits am Wochenende vor den Zeugnissen und ließ Paula entweder in alten oder sonst wie nicht urlaubstauglichen Klamotten rumrennen. Doch Paula war die Königin des Kleckerns und brachte ihre Mutter jedes Mal auf die Palme, wenn die letzte Hose Kakao- oder das letzte Shirt Tomatensaucenflecken bekam, so dass Paulas Koffer wieder geöffnet und die Urlaubsgarderobe um mindestens ein Outfit reduziert werden musste. Dabei wusch Frau Degenhardt in den drei Wochen Urlaub sowieso mindestens einmal Wäsche. Doch in dem Punkt war sie unerbittlich, was Paula die skurrilsten Outfits für die letzten Tage bescherte.

      »Na, wenigstens fahrt ihr in den Urlaub.« Jule streckte ein Bein aus und rupfte mit den Zehen ein paar Grashalme aus.

      »Hast du echt noch nichts herausgefunden?« Paula beugte sich vor. »Hast du denn wirklich überall nachgeschaut?«

      »Dein Ernst?« Jule verdrehte die Augen. »Seit Wochen mach ich nichts anderes als überall nachzuschauen.«

      »Aber es kann doch nicht sein, dass du nichts gefunden hast. Du findest doch sonst immer was.« Paula sah hinüber zum Haus. »Ihr könnt doch nicht nicht fahren.«

      »Gefunden hab’ ich ja was, aber …« Jule zuckte die Schultern. »Nichts deutet auf Urlaub hin.«

      »Ach iwo, das muss nur richtig interpretiert werden. Zusammen kriegen wir das hin.« Paula setzte sich aufrecht hin, rutschte ein paar Mal mit ihrem Po hin und her, bis sie bequem saß, und sah Jule aufmerksam an. »Schieß los, was hast du gefunden.«

      »Also gut.« Auch Jule setzte sich aufrecht hin und hob den Daumen. »Erstens: In Mamas Nähtruhe hab ich letztes Jahr einen Reiseführer über Ostfriesische Inseln gefunden. Da waren wir dann drei Wochen auf Juist. Und Ostern lag dort ein Karton mit Bildern und Briefen von meiner Oma aus Stuttgart. Da waren wir …«

      »… eine Woche zu Besuch, ich erinnere mich. Und was war diesmal in der Truhe?« Paula zupfte einen dicken Grashalm aus und drehte ihn in den Fingern hin und her.

      »Stoff. Unmengen an Stoff. Also viel, viel mehr als sonst, die Truhe war fast voll.«

      »Was für Stoff?«

      »So durchsichtiger, teilweise mit Mustern oder Bordüren. Aber auch dickerer, bunt. Ich …«

      »Saris!«, rief Paula und sprang auf. »Ich wette, ihr fahrt nach Indien und der Stoff in der Truhe ist für Saris. Kein Wunder, braucht ihr da keine normalen Sachen.« Sie wippte mit den Füßen auf und ab. »Und du sagst, du hast nix gefunden.«

      »… denke, es sind Gardinen und Stoffe für Vorhänge«, beendete Jule ungeachtet Paulas Ausbruchs ihren Satz. »Was sind denn bitte Saris?«, fragte sie dann und runzelte die Stirn.

      »Das tragen die Frauen in Indien. Das sind so ganz lange Stoffbahnen, mehrere Meter, und die wickeln die als langen Rock und das Ende tragen sie so über der Schulter.« Paula begleitete ihre Beschreibung mit entsprechenden Gesten und drehte sich um sich selbst. »Das sieht voll schön aus. Besser als dieses olle Kleid, das du da anhast.«

      Jule sah an sich herunter. Ihr kurzes Sommerkleid mit den Spaghettiträgern war mittlerweile nur noch verwaschen grau, hatte aber dennoch den Vorteil, dass Jule sich damit auf dem Rasen wälzen konnte, ohne dass die alten und neuerworbenen Grasflecken sofort ins Auge sprangen. »Ich weiß gar nicht, was du hast. In so ’nem Sari kann man garantiert nicht so rumrennen und schaukeln und auf Bäume klettern wie mit meinem Kleid.«

      »Das mag natürlich sein«, gab Paula achselzuckend zurück. »Aber zurück zu deinem Fund. Denkst du denn, es könnten Saris sein? Die sind oft total bunt und mit Stickereien verziert und voll schön.«

      Jule