»Ja, definitiv.«
»Also kein Indien.«
Jule schüttelte den Kopf. »Kein Indien. Aber das war noch nicht alles.« Sie hob wieder ihre Hand und zum Daumen gesellte sich der Zeigefinger. »Unter Mamas Bett lag ein dickes Buch.«
»Ui, jetzt wird es spannend. Denk an Nicolas Cage und dieses geheime Buch aus diesem Film, den wir neulich bei uns geguckt haben.« Wieder beugte Paula sich vor.
»Nein, nicht so ein Buch. Ein Tapetenbuch. Auf jeder Seite gab es eine andere Tapete, in allen Farben und Mustern und Strukturen.«
»Tapeten? Bist du sicher?«
»So sicher, wie man sein kann, wenn vorne drauf Tapetenmuster steht.«
»Ui, das ist jetzt aber …« Paula schwieg und kratzte sich am Kopf.
»Und drittens«, wieder die Hand, der Mittelfinger folgte dem Zeigefinger, »lag in Papas Arbeitszimmer das gleiche Buch nur mit Teppichen.«
»Ich weiß nicht, denkst du, es besteht die Möglichkeit, dass ihr in einem Baumarkt Urlaub macht? Nicht, oder?« In Paulas Blick lagen gleichermaßen Hoffnung wie Unglaube. Und Mitleid.
Jule seufzte und schüttelte den Kopf. »Also entweder machen meine Eltern es mir dieses Jahr besonders schwer – oder wir fahren nirgendwohin.«
»Außer in den Baumarkt …«, sagte Paula leise und seufzte ebenfalls.
***
Als die Kirchenglocken die Mittagszeit einläuteten, trennten sich die Freundinnen. Normalerweise konnte Paula jederzeit bei den Beeks mitessen, doch wegen ihrer Kleckerei bestand Frau Degenhardt darauf, dass sie daheim aß. So konnte sie ohne weiteres ein bereits bekleckertes Shirt tragen, sodass die Urlaubsgarderobe keinesfalls leiden musste.
Familie Beek wohnte im Erdgeschoss eines grünen Mehrfamilienhauses. Jede der sechs Wohnungen hatte einen Balkon, der zum Garten hinaus lag, die Balkons im Erdgeschoss hatten darüber hinaus noch ein Tor, hinter dem ein paar Stufen hinunterführten, so dass man nicht jedes Mal vorn herum gehen musste, um wieder in die Wohnung zu gelangen.
Auch Jule nahm heute diesen Weg und betrat durch die offen stehende Balkontür das Wohnzimmer. Herr und Frau Beek befanden sich in der Küche, vermutlich weil das Essen bereits fertig war. Da Jule barfuß war, lief sie lautlos über die dicken Teppiche und schaffte es so, einen Satz der Unterhaltung ihrer Eltern aufzuschnappen, der so ganz sicher nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen war.
»Ich mach’ mir schon Sorgen um Papa«, sagte Frau Beek, die am Herd stand, gerade und Jule lief es kalt den Rücken hinunter. »Er ist ja nicht mehr der Jüngste. Und dann noch sein Rauchen …«
»Was ist mit Opa?«, rief Jule und platzte in die Küche. »Ist er krank?«
»Herrje!« Frau Beek legte eine Hand auf die Brust. »Musst du mich so erschrecken, Jule?«
»Tut mir leid, Mama.« Jule lief zu ihr und umarmte sie. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Was ist mit Opa?«, fragte sie noch einmal und sah ihre Mutter bang an.
Über Jule hinweg sah Frau Beek ihren Mann an. Als dieser nickte, legte sie einen Arm um ihre Tochter. »Dann wird es jetzt wohl Zeit, dir alles zu erzählen.« Gemeinsam setzten sie sich zu Herrn Beek an den Tisch und Jules angstvoller Blick wanderte zwischen ihren Eltern hin und her.
»Also«, begann Frau Beek, hielt inne, räusperte sich kurz und fuhr dann fort, »Opa bekommt Mittwoch eine neue Hüfte und muss fünf bis zehn Tage im Krankenhaus bleiben.«
»Neue Hüfte? Wie ein Ersatzteil beim Auto?«, fragte Jule und sah zu ihrem Vater, der nickte.
»Genau, Jule. Die alte Hüfte ist alt und kaputt und wird gegen eine neue aus Metall und Kunststoff ausgetauscht.«
»Anschließend fährt Opa dann zur Reha und trainiert mit der neuen Hüfte«, fuhr nun wieder ihre Mutter fort. »Das dauert auch noch mal drei Wochen.«
»Und danach kann Opa für den Marathon trainieren.« Jule kicherte und war froh, dass alles doch nicht so schlimm war. Ein Auto bekam viel öfter ein neues Teil eingebaut, da sollte es bei Opa doch wohl auch klappen. Und über das Rauchen war ihre Mutter ständig besorgt. Opa sagte dazu immer nur: »Ach was, Räucherfleisch hält länger.« Rauchen war zwar doof und ungesund, aber Jule liebte ihren Opa auch mit seiner Pfeife und wollte gern glauben, dass er recht behielt.
»Da ist aber noch was, was wir dir sagen müssen«, ließ sich nun wieder Herr Beek vernehmen.
»Was denn?« Jetzt! Jetzt würde er verraten, wohin es dieses Jahr ging.
»Wir werden dieses Jahr nicht in den Urlaub fahren.«
»Äh, wie jetzt?«, fragte Jule und zupfte an ihrem Ohrläppchen.
»Nun, eigentlich wollten wir dich zu Oma und Opa schicken, was jetzt aber nicht geht. Oma fährt nämlich mit zur Reha irgendwo nach Süddeutschland, damit sie Opa auch da täglich sehen kann.« Frau Beek zuckte die Schultern. »Tut mir leid.«
»Dann sind wir eben hier«, auch Jule zuckte die Schultern, »da werd’ ich mich schon nicht langweilen.«
»Vielleicht doch, weil …«
Nanu, seit wann druckste ihre Mutter so rum, wenn sie etwas zu sagen hatte?
»Wir werden keinen Urlaub haben und du kannst schlecht allein hierbleiben, weil hier renoviert wird«, sprang schließlich Herr Beek in die Bresche. »Das Haus wird kernsaniert, das heißt, alle Leitungen werden ersetzt, Türen und Fenster werden ebenfalls erneuert und das Bad – nun, das Bad wird für ein paar Tage nicht mehr als Bad erkennbar sein.«
Jule biss sich auf die Lippen. Ferien im Baumarkt klang deutlich besser als das. »Und wo soll ich dann hin?«, fragte sie. »Paula ist die nächsten Wochen nicht da. Und wenn du sagst, dass das ganze Haus renoviert wird, kann ich auch nicht zu Frau Quabeck.«
Ihre Eltern schüttelten die Köpfe.
»Wir hätten da noch ein Eisen im Feuer, aber bislang haben wir noch keine Rückmeldung erhalten, ob es klappt, deshalb …« Ihr Vater hob die Arme. »Wir wollten es dir erst morgen erzählen, wenn alles in trockenen Tüchern ist, aber du schleichst dich ja an wie ein Indianer.« Er lachte.
»Und alles, was ich bei meinem Rumgestöber gefunden habe, ist für die Renovierung. Da hätte ich aber auch wirklich draufkommen können. Ist naheliegender als Indien oder der Baumarkt.«
»Indien?«, fragte Frau Beek.
»Baumarkt?«, fragte Herr Beek.
Doch Jule winkte ab. »Lange Geschichte, erzähl ich euch …«
Wann sie es eigentlich erzählen wollte, sollten die Beeks nie erfahren, denn in diesem Moment läutete das Telefon im Wohnzimmer.
»Ich geh schon!« Jule sprang auf und flitzte hinüber. »Jule Beek, wer ist da?«
»Da hab’ ich ja gleich die Richtige in der Leitung«, kam es vom anderen Ende der Leitung.
»Tante Leo!«, jauchzte Jule. »Von dir hab ich aber lange nichts gehört. Du meldest dich immer nur zu meinem Geburtstag und an Weihnachten, und zwischendurch ist Pustekuchen.«
»Zu tun, zu tun und nie Zeit. Aber …«
»Moment!«, unterbrach Jule sie. »Bist du etwa das Eisen im Feuer, von dem Papa gesprochen hatte?« Das Mädchen hielt den Atem an, kreuzte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand und murmelte »Bitte. Bitte. Bitte!«, was ihre Tante soeben noch hören konnte.
»Danke und ja«, erwiderte Tante Leo und lachte glucksend. »Für meine Lieblingsnichte habe ich mit meinem Chef einen schweren Kampf ausgefochten und habe ihm sechs Wochen Urlaub abgerungen.«
»Wieso Chef? Du bist doch selbständig.« Jule zog die Nase kraus.
»Genau. Und damit