Eltern zu sprechen, da diese mit allen Mitteln versuchten, ihre Kinder zu schützen. Alle sprachen und riefen wild durcheinander und erschwerten dadurch die Arbeit der Polizei erheblich. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren die Befragungen endlich beendet. Die Kriminalbeamten fuhren genervt ins Präsidium Mühldorf am Inn, der Feierabend war gestrichen. Natürlich war keiner begeistert davon. Es war nach einundzwanzig Uhr und jeder einzelne von ihnen hatte sich den Abend anders vorgestellt. Werner Grössert wurde während des Abendessens mit seiner Frau gerufen. Hans Hiebler hatte sich fertiggemacht, um auszugehen, warum er auch einen betörenden Herrenduft hinter sich herzog und dazu auch noch blendend aussah. Werner trug zur Überraschung aller nicht einen seiner teuren Anzüge, sondern nur Jeans und T-Shirt. Trotzdem sah er auch mit der Freizeitkleidung sehr aufgeräumt aus.
„Werner, du machst die Busfahrer ausfindig. Irgendjemand muss doch diese Frau bemerkt haben. Ich kann und will mir einfach nicht vorstellen, dass die Tote völlig unbemerkt über einen längeren Zeitraum dort auf der Bank gesessen hat.“
Der 38-jährige, 1,75 m große Werner nickte und machte sich umgehend an die Arbeit. Werner war direkt in Mühldorf geboren und aufgewachsen und stammte aus einer angesehenen Anwaltsfamilie, die über den Werdegang ihres Sprösslings bei der Polizei nicht begeistert war. Er hätte eigentlich als einziger Sohn später einmal die Anwaltskanzlei übernehmen sollen, so zumindest war die Planung. Stattdessen hatte er gegen ihren Willen die Ausbildung bei der Polizei begonnen und ließ sich trotz vieler Diskussionen, Drohungen und auch verlockende Angebote nicht davon abbringen. Während der wenigen Familientreffen wurde vermieden, über Werners Beruf zu sprechen. Trotzdem ließen die Eltern keine Gelegenheit aus, ihren Unmut mit kleinen, spitzen Bemerkungen darüber Ausdruck zu verleihen. Als wäre das nicht genug, waren sie mit der Wahl der Schwiegertochter ebenfalls nicht einverstanden. Werners Frau stammt nicht nur aus sehr einfachen Verhältnissen, sondern war mit einer Hautkrankheit geplagt, die sie immer wieder zu längeren Krankenhaus- und Kuraufenthalten zwang.
„Hans, du suchst die Vermisstenmeldungen durch.“
Hans Hiebler war mit seinen 53 Jahren der Älteste, hatte aber keine Ambitionen, großartig Karriere zu machen. Er war ein sehr guter Polizist, stammte gebürtig von einem Bauernhof vor den Toren Mühldorfs, war 1,80 m groß, sportlich und war das, was man einen Frauenhelden nannte. Er war nie verheiratet, konnte nicht allein sein und liebte alle Frauen, wobei er keinen besonderen Typ bevorzugte. Er konnte nur die zickigen, falschen und verlogenen Frauen nicht leiden.
„Hast du die Pizza schon besorgt?“, flüsterte Leo Viktoria zu, als sie an der Kaffeemaschine standen. Leo war 49 Jahre alt. In wenigen Wochen hatte er seinen 50. Geburtstag, vor dem er etwas Bammel hatte. Für ihn waren Menschen über 50 immer alt gewesen und dazu würde er nun auch bald gehören. Mit seiner Körpergröße von 1,90 Meter und der schlanken Figur fiel er schon auf, aber noch auffallender war sein Kleidungsstil, über den sich schon viele amüsiert hatten. Er trug immer Jeans, eine alte Lederjacke, Cowboystiefel und entweder ein einfarbiges Hemd oder ein T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband, die außer ihm niemand zu kennen schien. Leo fand sich selbst absolut hip und chic. Nicht nur wegen seines Äußeren, sondern vor allem wegen seines schwäbischen Dialekts war er hier in Oberbayern ein Exot. Er hatte sich in Mühldorf gut eingelebt, inzwischen gehörte er dazu.
„Natürlich habe ich die Pizza besorgt, sie liegt im Auto und gammelt vor sich hin. Ich habe mich so sehr auf einen schönen Abend gefreut.“
Leo lächelte nur, strich ihr kaum merklich über den Arm und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er ging die Aussagen der Kinder und deren Eltern durch, die fast alle wertlos waren. Danach machte er sich an die Aussagen der Passanten, von denen einige sehr interessant waren.
„Hört mal her,“ rief Leo in den Raum, „ich habe hier drei Aussagen vorliegen. Demnach müsste die Tote mindestens seit dem Vormittag dort gesessen haben. Könnt ihr euch das vorstellen?“
„Kaum zu glauben,“ sagte Viktoria und schüttelte den Kopf. „Ist unsere Gesellschaft schon so sehr abgestumpft, dass man sich nicht mehr füreinander interessiert? Man kann an einem stark frequentierten Ort eine Leiche setzen und keinen schert das?“
„Jetzt seid mal nicht so ungerecht,“ mischte sich Werner entgegen seiner sonstigen Art in die inzwischen eingetretene heftige Diskussion ein. „Wir haben alle die Leiche gesehen, sie wirkte absolut lebendig. Warum um alles in der Welt sollte ich eine Frau ansprechen, die an der Bushaltestelle sitzt, während ich auf den Bus warte?“
„Was ist mit den Busfahrern und den Anwohnern? Möchtest du die etwa auch in Schutz nehmen?“ Viktoria war sehr aufgebracht.
„Ich möchte niemand in Schutz nehmen. Natürlich hätten die Busfahrer genauer nachsehen können, genauso wie die Anwohner. Aber wie gesagt: Die Tote sah absolut lebendig aus und saß am Bussteig. Warum sollte sie dort nicht sitzen?“
Viktoria, Leo und Hans diskutierten mit Werner. Sie waren sich darüber einig, dass sie anders gehandelt hätten, und waren von den Passanten, Busfahrern und Anwohnern enttäuscht. Werner ließ sich nicht beirren. Er hatte Verständnis und sagte nichts mehr dazu. Er hatte seine Meinung deutlich gemacht und machte sich wieder an die Arbeit. Trotz großer Bemühungen seinerseits konnte er keinen zuständigen Sachbearbeiter bezüglich der Busfahrer ermitteln, es war einfach schon zu spät. Busse fuhren schon seit Stunden nicht mehr, nachts überhaupt nicht.
Hans Hiebler hingegen konnte drei vermisste Frauen ausfindig machen, die der Toten sehr ähnlich sahen. Aber ohne den ausführlichen Bericht der Pathologie München konnten sie sich nicht sicher sein, sie mussten bis morgen warten.
Es war mittlerweile fast elf Uhr und Viktoria entschied, dass es für heute genug war.
„Machen wir Schluss für heute. Morgen früh um 8.00 Uhr treffen wir uns in alter Frische im Besprechungszimmer. Der Chef hat von dem neuen Fall gehört. Er ist äußerst gespannt darauf, was wir zu berichten haben.“
Dass Rudolf Krohmer, der Leiter der Polizei Mühldorf, stärker in den Fall involviert sein würde, konnte bis dato noch niemand ahnen.
3.
Rudolf Krohmer saß bereits ungeduldig im Besprechungszimmer und wartete auf seine Kriminalbeamten. Der 52-Jährige liebte seine Arbeit, war korrekt und sehr warmherzig. Er hatte für alle immer ein offenes Ohr und wusste stets Rat, weshalb ihn die Kollegen besonders mochten. Er drückte gerne das eine oder andere Auge zu, was nicht immer bei allen gut ankam. Krohmer machte das nur, wenn es vertretbar war, denn dadurch waren ihm Personen Gefallen schuldig, die er zur gegebenen Zeit auch einforderte. Vor allem durch den Fall Mollenkopf, bei dem auch einige angesehene Personen aus der Mühldorfer Gesellschaft nicht sehr gut aussahen, ließ er einiges auf bayrische Art unter den Tisch fallen und hatte einige Pluspunkte gesammelt.
„Käffchen?“, säuselte ihn seine Sekretärin Hilde Gutbrod an. Beim Anblick der 60-jährigen, sehr schlanken und sehr geschwätzigen und neugierigen Frau brannten Krohmers Augen. Sie trug heute ein neongelbes, viel zu kurzes Kleid und schwarze, hochhackige Stiefel aus schwarzem Lackleder. Frau Gutbrod verleugnete ihr Alter und kleidete sich wie ein Teenager. Auch die Frisur war alles andere als altersgerecht: schwarz gefärbt, hochtoupiert und seit zwei Tagen mit pinkfarbenen Strähnen durchzogen.
„Ja bitte,“ antwortete Krohmer knapp und bemerkte dabei die bunten, langen Fingernägel, die Frau Gutbrod demonstrativ zur Schau stellte. Als Frau Gutbrod einschenkte, sah er sie genauer an. Was hatte sie mit ihrem Gesicht gemacht? Vollkommen glattgebügelt und kaum eine Mimik, dazu waren die Lippen überdimensional angeschwollen, als hätten sie mehrere Bienen gleichzeitig gestochen. Krohmer konnte den Blick nicht von ihr abwenden, was seine Sekretärin erfreut zur Kenntnis nahm und als Kompliment auffasste. Er hatte es also bemerkt, dass sie sich kosmetisch hatte behandeln lassen.
Zum Glück kamen Viktoria Untermaier, Leo Schwartz, Hans Hiebler und Werner Grössert nun nacheinander in das Besprechungszimmer, wodurch Krohmer endlich den Blick von seiner Sekretärin abwenden konnte. Er hatte bei ihrem Anblick tatsächlich eine Gänsehaut bekommen.
„Käffchen?“, rief Frau Gutbrod laut durch den Raum.