Irene Dorfner

Leichenschau


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Augen verlieren. Sie musste unweigerlich laut aufstöhnen, es kam eine Menge Arbeit auf sie zu.

      An ihrem Schreibtisch kühlte sie die Stelle an ihrer Nase nochmal mit einem Löffel, was aber nun nicht mehr nötig war, man sah tatsächlich nichts mehr. Mit einer Portion Puder und einer Lage Lippenstift sah sie wieder aus wie neu. Diese Kosmetikerin hatte wahre Wunder bewirkt. Keiner hatte gesehen, dass sie etwas an sich hatte machen lassen, sie sah um Jahre jünger aus. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Tür zum Büro des Chefs geschlossen war und er mit jemandem sprach. Ein Blick aufs Telefon verriet ihr, dass er nicht telefonierte. Mit wem sprach er? Lange überlegte sie, was sie machen sollte, beschloss aber, ihn vorerst in Ruhe zu lassen, denn offenbar musste er momentan sehr viel durchmachen.

      Christine Künstle lenkte ihren grasgrünen Kleinwagen Richtung München. Sie kam flott voran. Wann war sie das letzte Mal in der Pathologie München gewesen? Das war noch keine drei Wochen her. Sie kannte den österreichischen Kollegen Dr. Leichnahm nicht persönlich. Oder doch? Irgendwie hatte sie das Gefühl, den Namen schon einmal gehört zu haben, noch bevor sie Erkundigungen über ihn eingezogen hatte.

      Sie sah auf die Uhr und fluchte leise. Sie hatte mit der Leiche auf ihrem Tisch länger gebraucht, als ursprünglich geplant. Hoffentlich war der Kollege Leichnahm noch nicht fertig mit den Untersuchungen. Sie gab Gas. Wenn sie schon ihren Namen und damit ihren guten Ruf hergab, dann wollte sie auch persönlich anwesend sein, dem Österreicher über die Schulter sehen und, falls erforderlich, eigene Untersuchungen vornehmen.

      Hatte sie Leo richtig verstanden? War die Tote die Nichte von Rudolf Krohmer? Sie kannte und mochte sowohl ihn als auch dessen Frau. Der Tod war für die beiden sicher nicht leicht. Christine war sehr gespannt, was sie erwartete und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Endlich war sie an ihrem Ziel angekommen.

      Entschlossen parkte sie ihren Wagen vor dem pathologischen Institut verbotswidrig in erster Reihe, nahm ihre schwere Tasche aus dem Kofferraum und ging in das Gebäude. Sie fragte sich durch, wobei sie mehrfach ihren Ausweis vorzeigen musste und im Computer überprüft wurde. Das war ja schlimmer als in Fort Knox! Waren die Kontrollen schon immer so streng gewesen oder gab es einen Vorfall, der diese nötig machte? Es war ihr gleichgültig. Sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Schließlich war sie vor dem richtigen Raum angekommen, sah durch die Scheibe einen kleinen, dicken Mann mit Glatze vor einem Seziertisch, ging ins Nebenzimmer und zog ihren Kittel an. Wenige Minuten später stand sie direkt hinter dem Mann, sah lange zu und musste zugeben, dass seine Handgriffe routiniert waren und sie nichts auszusetzen hatte. Allerdings missfiel ihr, dass der Mann Stöpsel in den Ohren hatte und offenbar bei der Arbeit Musik hörte. Ein Umstand, den sie in ihrer Pathologie niemals dulden würde. Sie hatte genug gesehen, war zufrieden und tippte dem Kollegen auf die Schulter. Erschrocken drehte er sich um.

      „Nun mal nicht so schreckhaft, junger Mann. Dr. Künstle mein Name. Unterrichten Sie mich in knappen Worten.“

      „Frau Dr. Künstle, wie schön! Ich habe sehr darauf gehofft, dass ich Sie kennenlernen darf und nun stehen Sie tatsächlich wahrhaft vor mir. Ich habe schon viel von ihnen gehört und gelesen. Ich habe viele Ihrer Vorträge besucht. Man könnte sagen, dass ich ein großer Fan von Ihnen bin.“

      Die Worte taten ihr gut, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie sah sich den Mann genauer an und erinnerte sich an ihn. In ihren Vorträgen saß er meist in der ersten Reihe und stellte auch ab und zu eine durchaus interessante Frage.

      „Ihnen hätte der Fehler in Wien nicht passieren dürfen.“

      „Sie haben sich über mich informiert?“ Dr. Richard Leichnahm wurde aschfahl. „Das war ein Fehler, den ich mir niemals verzeihen werde und der es mir unmöglich gemacht hat, meinen Beruf weiter auszuüben. Deshalb habe ich gekündigt, habe mehrere Fortbildungen gemacht und mich beruflich umorientiert. Mein Name bekam einen großen Makel, womit ich zum Gespött der Kollegen geworden bin.“

      „Seien Sie mal nicht so streng mit sich selbst. Es gibt wahrhaft schlimmere Dinge, die Kollegen passiert sind und die sind immer noch in ihrem Job tätig und leisten gute Arbeit. Ich an Ihrer Stelle hätte dazu öffentlich Stellung genommen und irgendwann hätte niemand mehr darüber gesprochen.“

      Die beiden Ärzte standen sich direkt gegenüber. In Größe und Figur unterschieden sie sich kaum. Beide waren klein und rundlich, die Knöpfe von den Kitteln spannten fast identisch.

      „Ich danke Ihnen für Ihre Worte, werte Frau Kollegin,“ flüsterte Dr. Leichnahm und hatte Tränen in den Augen. Die Arbeit als Notarzt in Altötting war nicht schlecht, auch die Kollegen waren freundlich. Trotzdem vermisste er seinen aufgegebenen Beruf seit der ersten Stunde, auch der Umzug von Wien nach Altötting änderte nichts daran.

      „Schon gut,“ winkte Christine ab, die nur sehr schwer mit Gefühlsduselei umgehen konnte, sie liebte hingegen klare Worte. „Wie weit sind Sie mit der jungen Frau? Vorrangig interessiert mich der DNA-Abgleich mit Rudolf Krohmer.“ Sie nahm das Klemmbrett mit den Unterlagen und warf einen Blick darauf. Dr. Leichnahm war ihr sofort sympathisch. Schon allein diese charmante, sehr höfliche Art, mit der er sprach, war sehr angenehm. Die weiche Stimme und den österreichischen Akzent hörte sie sehr gerne, das war wie Musik in ihren Ohren.

      Dr. Leichnahm hingegen war überrascht darüber, dass Dr. Künstle so gut informiert war.

      „Der DNA-Abgleich war eindeutig. Die Tote und die Daten von Herrn Krohmer, die ich zur Verfügung gestellt bekommen habe, beweisen das Verwandtschaftsverhältnis der beiden.“

      Christine stöhnte auf. Es handelte sich also tatsächlich bei der Toten um die verschollene Nichte Krohmers. Sie hatte sich fast gewünscht, dass es sich um eine Fremde handelte, was auch nicht ganz fair war. Denn auch diese hätte wiederum Verwandte und Menschen, die um sie trauern.

      „Was haben Sie noch?“

      „Die Frau ist ca. 30-35 Jahre alt, 1,76 m groß, das ursprünglich dunkelbraune Haar war blond gefärbt, blaue Augen. Hier am Knie ist eine 12 cm lange Narbe. Wenn Sie so freundlich wären und einen Blick auf die Lunge und Leber werfen wollen, Frau Kollegin?“

      Christine sah sofort, worauf Dr. Leichnahm hinauswollte.

      „Wie sehen Speiseröhre und Darm aus?“

      „Rot und gereizt.“

      „Magen? Haben Sie Tests durchgeführt?“

      „Ganz so weit bin ich noch nicht. Ich sehe, dass Sie meine Vermutung teilen. Wenn Sie möchten, können wir die weitere Arbeit gemeinsam durchführen? Ich würde mich sehr freuen.“

      Christine nickte, aber Sie ahnte nichts Gutes. Früher, ganz zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn, hatte sie einmal mit einem ähnlichen Fall zu tun gehabt. Wenn die Tests des Mageninhalts positiv ausfallen, dann war klar, woran die junge Frau starb.

      „Als Besonderheit möchte ich anmerken, dass unsere Patientin sehr stark geschminkt aufgefunden wurde, was ihr Äußeres sehr beeinflusst hat. Sehen Sie sich die Fotos an.“

      Christine, die über diesen Umstand von Leo nicht informiert worden war, war überrascht. Sie ging mit Dr. Leichnahm zu dessen Laptop und sie sahen sich ein Foto nach dem anderen an.

      „Um Gottes Willen! So etwas habe ich ja noch nie gesehen! Sie wurde so geschminkt, dass die Totenflecken nicht zu sehen waren. Sie sah sehr lebendig aus. Das war sicher sehr viel Arbeit, die Leiche so herzurichten. Merkwürdig, wer macht sich denn solche Mühe?“, murmelte Christine, die auch heute noch an Travestiekünstlern deren Fähigkeit des Schminkens sehr bewunderte. Aber das hier war doch noch eine andere Hausnummer. Das war eine künstlerische Arbeit.

      Christine und Dr. Leichnahm machten sich an die Arbeit. Endlich hatten sie den Beweis: Die junge Frau war an einer Vergiftung durch Paraquat verstorben, wie Christine bereits vermutet hatte.

      „Wird dieses Pflanzengift überhaupt noch ohne deutliche Färbung, Beifügung von Brechmitteln und mit einem üblen Geruch hergestellt? Das war lange vor Ihrer Zeit, als man dieses Gift überall in Deutschland fast an jeder Ecke kaufen konnte. Gab es das Mittel in Österreich überhaupt?“

      „Das